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30


Ein klebrig-grauer Morgen schien unter dem Rollo hervor. Irgendwo im Hinterhof kläffte ein Hund. Von der Straße war Kinderlärm zu hören. Völlig gerädert stieg Röhler aus dem Bett. Die ganze Nacht hatte er wegen Konrads Geschnarche, das unaufhörlich aus dem Wohnzimmer dröhnte, nicht schlafen können.

Er blickte in den Badezimmerspiegel. Von seiner Bräune war so gut wie nichts mehr zu sehen. Dunkle Ringe zogen sich durchs kalkweiße Gesicht. Die Woche musste er dringend nochmal ins Solarium. Er klappte den Klodeckel hoch und zog sich die Shorts runter. Kaum hatte er auf der Brille Platz genommen, da hörte er die Titelmelodie von Magnum aus seinem Schlafzimmer. Röhler verdrehte die Augen. Genervt zog er sich die Shorts wieder hoch, lief aus dem Badezimmer und rüber zu seinem Handy. Wie er auf dem Display sehen konnte, war es das Präsidium. Röhler nahm das Gespräch entgegen.

„Role, endlich.‟ Nadelbaum stöhnte. „Norbert hier. Hatte schon versucht, Konny zu erreichen. War ständig nur die Mailbox dran.‟

Röhler sah durch die offene Tür rüber ins Wohn­zimmer. Norde lag mit weit geöffnetem Mund auf dem Sofa und grunzte wie ein Seehund. „Wo brennt’s denn?‟

„Sagt dir der Name Hermine Büchler etwas?‟

„Hermine Büchler?‟, überlegte Röhler laut. „Ist das nicht die Schlagertante?‟

„Richtig. Volltreffer‟, gratulierte Nadelbaum. „Sie wurde vor etwa einer Stunde von ihrem Dienstmädchen tot in ihrer Villa am Reichsbachufer aufgefunden.‟

„Mach’ keinen Ärger.‟

„Doch, ohne Flachs, Zerlin Lion ist tot. Die komplette Mannschaft ist schon vor Ort‟, berichtete Nadelbaum. „Wie Hauke mir gerade über Funk mitgeteilt hat, lag sie leicht bekleidet in ihrer Badewanne. Auf dem Nachtschrank im Schlafzimmer fanden sich Spuren von Kokain sowie Reste von Heroin.‟

„Eine Überdosis?‟, fragte Röhler.

„Sieht verdammt danach aus‟, sagte Nadelbaum.

„Und wieso rufst du uns dann an?‟

„Die Büchler hat sich den Schuss anscheinend nicht selbst gesetzt und freiwillig baden gegangen ist sie nach Haukes Eindruck auch nicht.‟

„Aha.‟ Röhler horchte auf.

„Die Spritze steckte noch etwas verbogen in ihrem Rücken, als man sie aus der Wanne hob‟, erklärte Nadelbaum. „So wie es aussieht, wurde ihr die tödliche Dosis direkt ins Mark injiziert. Hauke geht davon aus, dass man sie erst nachträglich in die Wanne gelegt und ertränkt hat. Da wollte wohl jemand auf Nummer sicher gehen.‟

„Verstehe‟, sagte Röhler. „Wir kommen sofort.‟

„Na dann, Vollgas, Jungs!‟

Das Gespräch beinahe beendet, fiel Röhler ein, dass sie gar nicht mobil waren. Konrads Wagen stand noch irgendwo zwischen Weserstraße und Kutterwall und wartete darauf, abgeschleppt zu werden. „Ach, Norbert‟, stoppte er seinen Kollegen aus der Zentrale.

„Ja?‟

„Ist der Großmut schon unterwegs?‟

„Großmut?‟

„Na, der Kleine, der gerade von der Polizeischule zu uns gekommen ist. Der Neue, halt.‟

„Ach der, ja, der ist vorhin gerade rein, hab ihn schon gesehen.‟

„Schick’ ihn vorbei. Er soll uns einfach dort abholen, wo sie uns gestern Nacht abgesetzt haben. Er weiß dann schon Bescheid. Verstanden?‟

„Verstanden, geht klar, Role.‟

Röhler legte auf und schlug die Alarmglocken. „Konny, Aufstehen!‟, rief er ins Wohnzimmer.

„Was, was?‟ Der Kommissar richtete sich ruckartig auf.

„Sie haben die Lieblingssängerin deiner Frau tot aufgefunden!‟


*


„Gunda.‟ Norde seufzte trübsinnig und rieb sich die Augen. Seine Tränensäcke hingen ihm bis zu den Mundwinkeln. Völlig zerknautscht richtete er sich auf. Aus der Küche konnte er Klimpergeräusche vernehmen und das Röcheln des Wasserkochers. Sein Gehirn fing an die gerade eingegangene Information zu verarbeiten. „Sag’ mal, hab’ ich mich da gerade verhört?‟ Norde sah Röhler ungläubig an, der gerade aus der Küche gekommen war und nun mit zwei dampfenden Bechern vor ihm stand.

„Nein, hast du nicht‟, entgegnete Röhler und reichte Norde einen Becher Kaffee. „Zerlin Lion ist tot. Sie wurde in ihrer Villa aufgefunden. Die Jungs sind schon vor Ort und der kleine Großmut unterwegs, um uns abzuholen.„

Norde stand vom Sofa auf und stellte den Becher vor sich auf dem Blumenregal ab. Neben dem Regal, auf der Lehne des Sessels, fand er seine Klamotten. Er zog sich sein Hemd über und fing an, es zuzuknöpfen. Dabei blickte er raus aus dem Fenster. Von hier oben aus dem sechsten Stock konnte er bis zum Hafen sehen und den Dampf eines gerade abfahrenden Schiffes erkennen. Unwillkürlich musste er an seine Frau denken. Er vermisste Gunda jetzt schon und hoffte, dass ihre Trennung nur vorübergehend sein würde. Doch sein Gefühl sagte ihm etwas anderes. Ihm wurde bewusst, dass sie sich weit voneinander entfernt hatten. Es ging nicht einfach nur darum, Gunda mehr Aufmerksamkeit zu schenken, wenn er mal zuhause war. Sein Beruf nahm ihn einfach zu sehr ein. Wenn er einem Verbrecher auf den Fersen war, kannte er nichts anderes als seinen Fall. Bis zu seiner Pension in ein paar Jahren würde sich das voraussichtlich auch nicht mehr ändern.

„Und, was sagst du dazu? Verrückt, was?‟

Norde, mit den Gedanken noch bei seiner Frau, wusste nicht so recht, was Röhler von ihm wollte. „Was meinst du?‟

„Na, was wohl‟, sagte Röhler erwartungsvoll.

Beim letzten Knopf angelangt, nahm Norde den Kaffeebecher vom Regal und trank einen Schluck. Jetzt wurde es dem Kommissar klar. „Schluss mit Amore.‟



Nils Noir
DEAD DOLLS


In dieser Reihe bisher erschienen

7001 Stefan Melneczuk Marterpfahl

7002 Frank W. Haubold Die Kinder der Schattenstadt

7003 Jens Lossau Dunkle Nordsee

7004 Alfred Wallon Endstation
7005 Angelika Schröder Böses Karma

7006 Guido Billig Der Plan Gottes
7007 Olaf Kemmler Die Stimme einer Toten

7008 Martin Barkawitz Kehrwieder
7009 Stefan Melneczuk Rabenstadt

7010 Wayne Allen Sallee Der Erlöser von Chicago

7011 Uwe Schwartzer Das Konzept
7012 Stefan Melneczuk Wallenstein

7013 Alex Mann Sicilia Nuova

7014 Julia A. Jorges Glutsommer

7015 Nils Noir Dead Dolls





Als Taschenbuch gehört dieser Roman zu unseren exklusiven Sammler-Editionen 
und ist nur unter www.BLITZ-Verlag.de versandkostenfrei erhältlich.
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Alle E-Books und Hörbücher sind zudem über alle bekannten Portale zu beziehen.

© 2022 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Titelbild: Printpop Prenzlberg
Umschlaggestaltung: Printpop Prenzlberg
Satz: Harald Gehlen
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-95719-299-8



1


Kurz nachdem die Melodie verstummt war, brach die Hölle los. Dunkle Gestalten mit gefletschten Zähnen zuckten im Rhythmus ihrer Maschinenpistolen. Kugeln zischten durch die Luft. In einem Bruchteil von Sekunden verwandelte sich die eben noch so schöne Idylle des Pariser Vororts in ein qualmendes Inferno. In dem Moment, als Charles de Gaulle mit seiner Staatskolonne vor der einzigen Kreuzung im Ort zum Stehen kam, passierte es. Der Drehorgelspieler an der Ampel beendete sein Spiel, und gab somit das Zeichen für ein Dutzend bewaffneter Männer, die schlagartig aus einem an der Ecke parkenden Kleinbus sprangen und das Feuer auf die französische Staatsmacht eröffneten. Das ganze Manöver dauerte nur wenige Sekunden. Danach wurde es wieder still in Petit-Clamart. Die Angreifer waren verschwunden. Nur die verschossene Munition blieb auf dem Asphalt zurück. 186 Geschosse, die buchstäblich an de Gaulles Limousine abgeprallt waren und das, obwohl der Wagen keine Panzerung besaß. Lediglich 14 Einschusslöcher hatte man später in der Karosserie gezählt, nachdem dem Fahrer des Präsidenten mit zerschossenen Reifen die Flucht vor den Terroristen gelungen war. Es folgten Ermittlungen, Festnahmen und die Hinrichtung des Anführers der Gruppe.

Jedes kleinste Detail dieses Ereignisses hatte Mark in Kindheitstagen auswendig gekannt, so häufig hatte er die Story vom Attentat auf de Gaulle gehört. Sein Vater erwähnte sie gern, wenn er seinen schwarz lackierten Citroën DS aus der Garage fuhr, um ihn irgendjemandem zu präsentieren. Genau das Modell eben, das seit dem Anschlag im Jahre 1962 als völlig unzerstörbar galt. Zumindest behauptete das sein Vater, bis er mit seiner französischen Limousine vor einen Baum raste. Seitdem hatte Mark die Geschichte nie wieder von ihm gehört. Erst der Roman Der Schakal von Frederick Forsyth, rief ihm das Spektakel Jahrzehnte später wieder in Erinnerung. Eher zufällig entdeckte er das Buch auf dem Trödel. Die Seiten waren stark vergilbt, das Cover zerknickt. Trotzdem musste er das Exemplar haben.

Wie Mark aus dem Interview mit dem Autor entnehmen konnte, das als Einleitung auf den ersten Seiten zu lesen war, diente das Attentat von Petit-Clamart als Vorlage für seinen Thriller, der nur zwei Jahre nach Erscheinen mit Edward Fox in der Hauptrolle verfilmt wurde. Mark wiederum nahm Forsyths Buch als Inspiration, selbst einen Kriminalroman zu schreiben. Doch nun, gerade zum Abschluss seines Debüts gekommen, haderte er wieder mit sich selbst und grübelte, ob er eventuell doch noch etwas rausnehmen sollte oder alles einfach so ließ, wie es war. Dieses ganze Prozedere hörte wohl niemals auf. Wie lange müsste er noch feilen, fragte er sich, um das Manuskript endlich aus der Hand geben zu können? Hatte er nicht schon genug getan in den langen einsamen Stunden, die er damit zubrachte, alles in Form zu bringen? Wie in Isolation hatte er gelebt, war in all der Zeit kaum mehr vor die Tür gegangen oder hatte zu irgendjemandem Kontakt gehabt. Manchmal waren Tage vergangen, ohne dass er ein einziges Wort mit einem anderen Menschen gewechselt hatte. Und wenn, war es häufig nur ein flüchtiges Hallo, Bitte, Danke und Auf Wiedersehen mit einer Kassiererin an der Supermarktkasse gewesen. Ewigkeiten, so schien es ihm, hatte die Schufterei angedauert, in der er vor seinem Computer gehockt und auf den Bildschirm gestarrt hatte. Doch er hatte weiter gemacht, immer weiter und weiter, bis er den Roman schließlich vollendet hatte, abgesehen von den eventuellen Änderungen, die er noch vornehmen wollte, aber darum würde er sich später kümmern. Jetzt musste er sich erst einmal auf das konzentrieren, was unmittelbar vor ihm lag.

Der Schriftzug der BLUE-BAR leuchtete über ihm in der Dunkelheit. Von drinnen war das Klimpern von Gläsern, unverständliches Geplapper und der warme Sound einer Blues-Gitarre aus der Konserve zu hören; Nobody knows you when you`re down and out.

Wenn Mark früher im Laufe seiner gescheiterten Musikkarriere mit seiner Combo in irgendwelchen schäbigen Pinten gespielt hatte, musste er sich vorher immer reichlich mit Alkohol betanken, um überhaupt auftreten zu können. Auch heute noch war sein Lampenfieber kaum auszuhalten. Die Trinkerei jedoch hatte er aufgegeben, da sie zum Problem für ihn wurde. Seitdem blieb ihm nichts anderes übrig, als seine gelegentlichen Auftritte, die sich heutzutage ausschließlich auf Lesungen beschränkten, nüchtern durchzustehen. An Abenden wie diesem eine echte Herausforderung. Im Saal waren alle Plätze besetzt. Rauchschwaden von Tabak hingen in der Luft wie Nebel in einem Edgar-Wallace-Streifen.

Als Mark die Theke erreichte, bestellte er sich einen KiBa auf Eis. Er hatte noch ein bisschen Zeit, bevor es losging, ein paar Minuten. Sobald die Scheinwerfer angehen würden, wären alle Augen auf ihn gerichtet und er der Mittelpunkt des Trubels. Ein kurzer Kick im Leben eines erfolglosen Schriftstellers. Danach würde er wieder in Vergessenheit geraten, sich zurückziehen, in seine Butze im Prenzlauer Berg und weiter träumen von einer ganz großen Autoren­karriere. Aber wie es den Anschein hatte, würde er diesmal nicht allein nach Hause gehen müssen. Eine olivfarbene Schönheit mit schwarzen Korkenzieherlöckchen, die wie Papierband von einem Geschenk hingen, das nur darauf wartete, ausgewickelt zu werden, stand von einem der Tische neben der Bühne auf und kam direkt auf ihn zu. Sein Lampenfieber war so gut wie verschwunden, als sie ihn anlächelte. Das würde sein Abend werden, strahlte Mark Milberg.

Er hatte ein gutes Gefühl.



2


Die Frühlingssonne erhob sich zwischen den Häuser­wänden im Berliner Disneyland. Designer- und Döner-Läden glänzten in ihrem Schein und auch die Pfützen aus Urin vor den hippen Touristenschmieden schimmerten golden an diesem frühen Morgen. Rick Liebknecht spazierte wie jeden Tag um diese Zeit mit seinem Hund, einem Terrier namens Marlowe, durch den Weinbergspark. Die karge Grünfläche, auf der Marlowe gerade sein Geschäft erledigte, war ein beliebter Treffpunkt für junge Leute. Doch um diese Zeit war hier kaum etwas los. Nur unten am Fuß des Hügels, lachten und klatschten zwei heimatlose Herren auf einer Parkbank, während ein dritter ein Tänzchen für sie aufführte.

Rick war hingerissen von der Performance. Die ganze Aufführung konnte er sich allerdings nicht ansehen, da zuhause noch Arbeit auf ihn wartete. Redaktionsschluss war in weniger als einer Stunde. Bis dahin musste er den Text für seine täglich am Abend im REPORT erscheinende Kolumne Liebknechts Leiden fertiggestellt haben. Zudem hatte er vor, bei seinem alten Freund Bert Kröger im Verlag anzurufen, um ihm von dem Autor zu berichten, den er gestern Abend, nachdem er nochmal auf ein Feierabendbier los war, in der BLUE-BAR gehört hatte. Es war eine von diesen Newcomer-Lesungen gewesen. Eine der Veranstaltungen, auf denen unbekannte Autoren ihre Werke ausschnittweise vorstellten, in der Hoffnung, von einem der anwesenden Agenten oder Scouts entdeckt zu werden. Ein paar wirklich bissige Beiträge gab es dort zu hören, von Leuten, die auch mal den Mumm hatten, auf den Tisch zu hauen. Das gefiel Rick und hatte ordentlich Power, wie er fand. Der Vortrag, der für ihn allerdings am meisten herausstach, war der von dem Autor, von dem er Bert erzählen wollte, aber auf dessen Namen er gerade nicht kam. Zum Glück hatte er ihn sich gestern Abend noch notiert. Den Zettel hatte er bei sich zu Hause auf dem Schreibtisch liegen. Der Stil des Autors, an den er sich hingegen auf Anhieb erinnerte, war eindeutig inspiriert von alten Hard-Boiled-Romanen. Er musste den Stoff förmlich inhaliert haben, so stark war der Einschlag. Die Hauptfigur in seiner Geschichte war ein versoffener Ermittler, der sich eigensinnig durch ein von Gangs beherrschtes Berlin der Zukunft boxte. Dazu kamen flotte Sprüche, viel Action, schäbige Typen und begehrenswerte, selbstbewusste Frauen, die den Kerlen die Köpfe verdrehten. Ein echtes Talent, das es verdient hatte, gelesen zu werden. Er wusste, dass Bert das mit Sicherheit interessieren würde. Zudem wollte Rick sich bei ihm erkundigen, was in Oldebeck, dem kleinen Hafenstädtchen an der Weser, los war. Wie er der Zeitung entnehmen konnte, war es gerade sehr unruhig dort. Er war erstaunt und schockiert zugleich. Mal hören, was Bert darüber wusste.

Den Haufen seines Hundes zügig in einem Plastikbeutel verschnürt und in einem Abfallbehälter entsorgt, verließ er zusammen mit Marlowe den Park in Richtung Rosenthaler Platz.

Angekommen in ihrer Wohnung, gab Rick seinem West Highland erst einmal etwas zu fressen. Er selbst schenkte sich noch einen Becher Kaffee ein, um sich gleich darauf in sein Arbeitszimmer zurückzuziehen.

Auf seinem Schreibtisch, der seitlich vor dem Fenster zum Hof stand, stapelten sich massenweise Berichte, alte Zeitungen, Unterlagen und etliche Notizzettel, die wild durcheinander flogen oder am Monitor seines Rechners klebten. Ein wohlsortiertes Chaos, in dem nur er sich auskannte und zu dem er niemandem Zutritt gewährte. Wenn einmal die Woche seine Putzhilfe zum Aufräumen kam, verriegelte Rick jedes Mal die Tür, damit sie bloß keine Ordnung in seine Unordnung brachte. Frau Bertels war, was das anging, eine echte Bedrohung. Sie quasselte zwar die meiste Zeit ohne Punkt und Komma über ihre Tochter, deren Mann und dessen Kinder. Schaffte es aber nebenher auch immer wieder, Sachen verschwinden zu lassen. Ständig verlegte sie die Leine von Marlowe zum Beispiel, sortierte Sachen in Schubladen, die da einfach nicht reingehörten oder kriegte es auf wundersame Weise immer wieder hin, dass sich die Fernsehzeitung zusammen mit den Hausschlappen in Luft auflöste.

Rick stellte das Fenster auf Kipp, um ein wenig Luft reinzulassen und machte sich daran, seine Kolumne für die heutige Ausgabe vom REPORT zu überarbeiten. Das Thema seines neusten Artikels beschäftigte sich mit dem Verhalten einiger Fahrgäste im öffentlichen Verkehrsbetrieb. Ein kritischer Blick auf all diejenigen, die einstiegen, bevor andere aussteigen konnten oder die Türen blockierten, anstatt weiter durchzulaufen, damit andere Fahrgäste auch noch die Möglichkeit hatten, zuzusteigen.

Keine halbe Stunde später, seinen vorgeschriebenen Text soweit korrigiert, schickte er ihn per Mail an die Redaktion. Im Anschluss daran schrieb er sich noch schnell ein paar Stichpunkte für sein nächstes Thema auf. Es war längst überfällig, dass er den Dreckspatzen, die überall in der Stadt mit ihrem Abfall die Parks verschmutzen, endlich einmal seine Meinung geigte. Die Umwelt im Müll zu ersticken, weil man zu faul war, seine Flaschen, Grills, Kisten, Tüten oder was auch immer ordnungsgemäß zu entsorgen, war nicht nur grob fahrlässig, sondern auch völlig hirnlos. Aber jetzt wollte Rick sich nicht darüber aufregen. Nachher, wenn er seinen neuen Text für die morgige Kolumne aufsetzte, konnte er seinen Dampf ablassen. Für den Moment gab es Wichtigeres. Er legte den Stift aus der Hand und wählte die Durchwahl zu Berts Büro im Verlag. Das Freizeichen ertönte. Dann schaltete sich der Anrufbeantworter ein. „Schönen Guten Tag, Sie sind verbunden mit dem Verlagsh…‟

„Kröger‟, unterbrach Bert den lieblich gesprochenen Ansagetext seiner Sekretärin.

„Ah, du bist da, fantastisch! Hallo Berti-Boy, ich bin’s.‟

„Ricky, Mensch, Hallo. Bin gerade rein. Wie geht’s, Hombre!‟

Sie hatten sich schon eine ganze Weile nicht mehr gesprochen, aber es war wieder einmal so, als ob es erst gestern gewesen wäre. Zwei alte Freunde wie Bert und Rick, die sich mittlerweile gut vierzig Jahre kannten, wobei Rick etwa neun Jahre jünger war als Bert, mussten nicht erst warm werden, um miteinander reden zu können, die konnten gleich zur Sache kommen.

„Du, ich hab da eventuell was für dich, Bert.‟

„Schieß los, ich bin ganz Ohr.‟


*


Bert lauschte sehr aufmerksam, was Rick ihm zu berichten hatte. Er erzählte ihm von einem brandheißen Autor, den er am Abend zuvor in Berlin gehört hatte. Rick hatte sich den Namen notiert. Den Jungen selbst hatte er nicht mehr zu fassen gekriegt, war gleich nach seiner Vorstellung verschwunden. Wie Rick heute Morgen schon recherchiert hatte, gab es keine Internetpräsenz von Mark Milberg, so hieß der Schreiber. Die Nummer hatte er aber über die Auskunft rausfinden können. Wie es aussah, handelte es sich um ein völlig unbeschriebenes Blatt, kombinierte Bert. Nach Ricks euphorischer Berichterstattung zu urteilen, war er aber nicht bloß irgendein Underdog, sondern hatte echtes Talent. Bert wusste schon, wen er auf Milberg ansetzen würde; Seine Spezialistin für solche Fälle. Sie könnte ihm Bericht erstatten, während er in der Sonne Floridas weilte. Auf sie war Verlass. Außerdem hatte sie einen guten Riecher, was neue Autoren anging. Wenn der Typ wirklich reines Dynamit sein sollte, wie Rick mehrmals betonte, dann gehörte er natürlich in die Autorenliste seines Verlags.

„Danke für den Tipp, Ricky. Ich werde mir den Herrn Milberg mal angucken‟, sagte Bert zu seinem Freund, der am Ende seiner Erzählung angekommen war.

„Ja, tu das, Berti-Boy. Aber lass nicht zu viel Zeit ins Land gehen. Du weißt ja, die Konkurrenz schläft nicht.‟

„Klugscheißer‟, konterte Bert scherzhaft. „Ich schicke meine schärfste Waffe ins Rennen. Glaub mir, an ihr wird er nicht vorbeikommen. Sie wird sich der Sache annehmen, während ich weg bin. Für mich heißt es nämlich erst einmal ab in den Urlaub!‟

„Du Glücklicher. Ins Strandhaus?‟

„Richtig‟, bestätigte Bert. „Wenn du Lust hast, komm’ vorbei! Mi casa es tu casa, weißte ja.‟

„Du bist lustig, und was mach ich mit Marlowe?‟

„Den bringst du mit, in so einem Gitterkasten von der Fluggesellschaft. Die haben doch so was.‟

„Du spinnst wohl‟, sagte Rick empört.

„Oder du gibst ihn bei deiner Haushälterin ab‟, schlug Bert vor. „Wäre doch auch eine Möglichkeit.‟

„Oh Gott, der arme Hund‟, jammerte Rick.

Bert lachte. Er stellte sich Ricks Putzhilfe vor, wie sie seinem Terrier kleine Schleifchen ins Fell band.

„Aber sag’ mal, was anderes ...‟ Rick wechselte abrupt das Thema. „In Oldebeck ist wohl gerade schwer was los, wie? Habe von den Morden im REPORT gelesen. Dachte erst, ich sehe nicht recht, Oldebeck im REPORT? Ein kleiner Artikel nur, aber der stach mir sofort ins Auge.‟

„Ja, schrecklich‟, sagte Bert. „In der OZ sprechen sie nach den zwei Morden der letzten Wochen schon von einer Serie.‟

„Aha, wieso?‟, fragte Rick verdutzt.

„Beide Opfer hatten identische Merkmale, die darauf hinweisen, dass es sich tatsächlich um einen Serienkiller handeln könnte‟, gab Bert zu verstehen.

„Du meinst, weil die Frauen erstochen wurden?‟

„Nicht nur das. Die Schnittwunden beider Opfer stammen von derselben Klinge. Die Polizei geht davon aus, dass der Mörder die Frauen mit einem Sägeblatt aufgeschlitzt oder aufgesägt hat. Es fanden sich Riffelspuren im Fleisch. Furchtbare Geschichte.‟

„In der Tat. Aber könnte dich das nicht vielleicht auch inspirieren?‟, fragte Rick. „Ich meine zu einem neuen Buch, Berthold Krögers neuem Kriminalroman?‟

„Nein, mein Lieber, die Zeiten sind vorbei. Meine Bücher sind geschrieben. Ich verlege nur noch.‟

„Du musst es wissen‟, sagte Rick. „War nur so eine fixe Idee von mir, als ich den Bericht in der Zeitung gelesen habe. Schließlich warst du ja mal einer der ganz Großen.‟

„Nun übertreib mal nicht. Wenn ich wirklich so toll gewesen wäre, wie du sagst, hätte ich wohl kaum meinen eigenen Verlag gründen müssen, um meine Krimis veröffentlichen zu können.‟

„Der Berti, bescheiden wie immer‟, bemerkte Rick.

„Nun gut.‟ Bert gab sich geschlagen. „Wenn ich mir den Schund so angucke, den einige Verlage heutzutage auf den Markt schmeißen, von Autoren, die nicht mal die erste goldene Regel der Schreibkunst beherrschen, kann ich wohl behaupten, gar nicht so schlecht gewesen zu sein. Ja, das stimmt.‟

„Und wie lautet die erste goldene Regel der Schreibkunst?‟, wollte Rick nun wissen. Eine rein rhetorische Frage.

„Das muss ich dir doch nicht erklären.‟ Bert lachte. „Aber es ist tatsächlich so, dass es die wenigsten Autoren, die mir in letzter Zeit so angeboten wurden, hin­bekommen haben, den Anfang eines Romans so komponieren, dass man dran bleibt.‟

„Das wundert mich nicht‟, sagte Rick. „Heutzutage meint doch jeder, er wäre Schriftsteller, nur weil er mal einen Aufsatz im Internet hochgeladen hat.‟

„Wie wahr‟, bestätigte Bert, versteckt hinter einem Stapel Unterlagen, die sich vor ihm auf dem Schreibtisch ausbreiteten. Hinsichtlich dessen, was er noch zu tun hatte, sagte er schließlich zu Rick: „Du, ich muss mal langsam ran hier. Sei mir bitte nicht böse, aber morgen geht’s los, da will ich alles erledigt haben.‟

„Na klar. Kein Problem‟, antwortete Rick. „Schön, dich mal wieder gesprochen zu haben. Und denk an die Milberg-Geschichte, ja? Guck dir den auf jeden Fall mal an.‟

„Ist schon so gut wie in die Wege geleitet‟, beruhigte ihn Bert.

Das Gespräch mit Rick schließlich beendet, legte er die Notizen über Milberg erst einmal beiseite. Er würde den Auftrag später an seine Lektorin weiterleiten. Erst ­einmal musste er der Buchhaltung Feuer unter dem Hintern machen. In der letzten Monatsabrechnung, die ihm vorlag, gab es einige nicht verbuchte Erträge. Ungereimtheiten, die es auszugleichen galt, aber sofort.

Bert stöhnte. „Wenn man nicht alles alleine macht.‟



3


„Na Süßer, Lust auf Gesellschaft?‟

Die Musikbox spielte gerade Amanda Lear mit Follow me, als die Alte vom Nachbarhocker sich zu ihm rüberbeugte. „Ich mach’s dir auch mit ganz viel Liebe‟, säuselte sie. „Oder musst du gleich wieder nach Hause zu deiner Mutti, mmhhh?‟

Er ignorierte die Anmache, denn er hatte keinen Bock auf Streicheleinheiten. In seinem Kopf war er viel zu sehr damit beschäftigt, wie er es diesem miesen kleinen Flittchen von Alina Rose endlich einmal heimzahlen konnte. Die Nummer von ihr auf der Weihnachtsfeier letztes Jahr war einfach unter aller Kanone. Und jetzt tat sie auch noch so, als ob er derjenige gewesen wäre, der irgendetwas falsch gemacht hatte. Wie Luft behandelte sie ihn, dabei war er den ganzen Abend so nett zu ihr gewesen. Cool, wie er zu ihr rübergeschlendert war, sich Alina gegriffen und vom Buffet weg auf die Tanzfläche gezerrt hatte. Einfach einsame Spitzenklasse. Mädels standen doch auf so was. Oder etwa nicht? Davon mal abgesehen, war er ja auch nicht irgendwer. Er war Ralle Brinkmann aus der Buchhaltung. Ein Kollege und kein stinkender Penner, den man einfach so rumschubsen konnte.

„Schlampe‟, zischte er. Etwas zu laut, denn Sweet Sugar Sandy neben ihm fühlte sich gleich angesprochen. Sie warf ihm einen bösen Blick zu, den er nur zu gern mit einem noch böseren Blick erwiderte. Erschrocken rutschte die fette Qualle vom Hocker, nahm ihren Drink und verzog sich durch die Plüschvorhänge ins Separee. Brinkmann folgte ihr, aber nur bis zur Jukebox, um eine Münze nachzuwerfen. Kaum hatte er wieder auf seinem Barhocker Platz genommen, knisterte das Intro von You Sexy Thing aus dem Lautsprecher und versetzte Brinkmann zurück auf den Dancefloor. Wieder sah er sich auf der Weihnachtsfeier, zusammen mit Alina unter der Discokugel, ihren Arsch in seinen Händen, die Zunge an ihrem Hals. Das war wirklich grandios gewesen, bis das Fräulein Hochnäsig ihm eine geknallt hatte. Natürlich auch so, dass es jeder aus der Firma mitbekam. Gedemütigt hatte sie ihn, vor allen Anwesenden. Doch wenn diese dämliche kleine Zimperliese glaubte, dass er sie damit durchkommen ließ, hatte sie sich geirrt.

„Du hättest es von mir ganz zärtlich haben können‟, brummelte Brinkmann in seine Pina Colada. „Doch jetzt kriegst du es auf die harte Tour.‟ Er knallte dem Bartender einen Zehner auf den Tresen und verließ das MU MU, noch bevor Hot Chocolate mit ihrem Lied zu Ende waren.