Kunstgeschichten

Michael T. Köhler

Kunstgeschichten

Eine Tintenklecks-Erzählung

Heft 4

Das Telefon klingelte, als Mick gerade unter seinem Schreibtisch seinen USB-Stick suchte.

Er stieß sich den Kopf, als er auftauchte, um das Telefonat entgegenzunehmen.

Leise fluchend hob er ab.

„Mick, ist alles okay?“, hörte er am anderen Ende.

„Ja, Phil. Ich hab mich nur gerade am Schreibtisch gestoßen.“

„Am Schreibtisch? Was tust Du da?“

„Auf allen Vieren etwas suchen. In einer Stunde?“

„Bitte?“

„In einer Stunde im Spoon Café?“

„Woher weißt Du?“

„Eine Ahnung.“

„Das ist beängstigend, Mick.“

„Nein, reine Kombination.“

„Oh, ja, das kann ich diesmal wirklich gut gebrauchen.“

„Kombination?“

„So ist es.“

„Dann ist es diesmal keine Entführung?“

„Nein, das Thema hat ja Deine Miko definitiv erledigt.“

„Erledigt. Schöne Formulierung.“

„Ah, wir werden spitzfindig.“

„Nein, ich fand nur Deine Wortwahl äußerst treffend.“

Phil lachte.

„Ja, stimmt. Wir haben diesmal einen Kunstraub. Ich erzähl Dir alles im Café.“

„Okay. Bis dann.“

Als Mick von seinem Treffen mit Phil zurückkehrte, bauten die Arbeiter gerade den Kran ab.

Er ging ins Haus und fand Miko im Wohnzimmer. Zu seiner Freude, saß sie eines seiner Bücher lesend im Sessel am Kamin. Er ließ sich ihr gegenüber nieder. Für einen Moment glaubte er, sie hätte ihn gar nicht bemerkt. Dann sah sie auf.

„Was ist es denn diesmal?“

Mit lautem Geräusch klappte sie das Buch zu.

„Eine Entführung.“

„Oh, nein. Nicht schon wieder.“

Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen.

„Nein, ein Kunstraub.“

„Kunstraub?“

„Ja, einer wohlhabenden Familie aus Edinburgh wurde ein wertvolles Gemälde geraubt.“

„Ein Gemälde? Zeig mal die Akte. Das klingt interessant.“

Mit einer Handbewegung forderte sie den Hefter mit den Unterlagen.

Mick beugte sich vor und händigte ihn ihr aus.

„Ja, mir gefällt das Thema auch. Es dürfte sicherstellen, daß Du nicht wieder wilde Aktionen planst.“

Sie sah ihn über den offenen Hefter hinweg an.

„Ich wäre mir da nicht so sicher, Tintenklecks.“

„Oh doch, bin ich. In wenigen Tagen beginnt für Dich die Schule und dann ist Schluß mit Deinen Eskapaden.“

Er grinste sie an.

„Ja, ja. Glaub Du das nur.“

„Miko, jetzt im Ernst, Deine schulischen Leistungen…“

„…dürfen nicht unter diesem oder einem anderen Fall leiden. Ja, alles klar. Werden sie schon nicht. Wie wertvoll ist das Gemälde?“

„Miko!“

„Ich hab Dich schon verstanden. Muß ich nun bis zu Ende lesen oder sagst Du es mir?“

Resignierend schüttelte er den Kopf. Wenn sie nicht über ein Thema reden wollte, gab es keine Change sie zu zwingen.

„Einhundertfünfzigtausend Pfund.“

„Naja, das ist ja wirklich keine Summe. Da lohnt sich doch so ein Raub gar nicht.“

„Der geschätzte Marktwert ist das eine, aber der moralische etwas ganz anderes.“

„Was meinst Du?“

„Das Bild stammt von einem schottischen Maler und zeigt die Ankunft Bonnie Prince Charlies in Schottland. Ein entscheidendes Ereignis der schottischen Geschichte. Es ist nicht nur einfach ein Gemälde, es ist in gewisser Weise für den Besitzer ein Heiligtum.“

„Es zeigt die Bucht, wo heute das Glenfinnan Monument steht?“

„Ja, genau“, antwortete er beeindruckt über ihre Kenntnis dieses historischen Ortes. „Weiter hinten ist ein Foto eingefügt.“

Sie blätterte in der Akte.

„Sieht gar nicht schlecht aus. Würde über den Kamin passen.“

„Miko!“

„Ja, ja. Ich mein ja nur.“

Sie legte den Kopf zur einen Seite, dann zur anderen.

„Dann dürfte als Dieb ja eigentlich nur ein Schotte in Frage kommen.“

„Man könnte das als naheliegend annehmen. Es wäre aber auch möglich, daß ein Engländer in alter Rivalität zugeschlagen hat.“

Bedächtig legte sie für einen Moment den Zeigefinger an ihre Lippen.

„Ich lese mir das mal zu Ende durch. Übrigens das Dojo ist soweit fertig. Innen sind nur noch kleine Arbeiten abzuschließen.“

„Das klingt ja so, als ob ich nun früh bald nicht mehr von lauten Maschinen geweckt werde.“

„Richtig, Tintenklecks“, sie grinste breit und Mick fühlte, daß er einen wichtigen Punkt übersehen haben mußte.

„Die Maschinen werden Dich nicht mehr früh stören, wohl aber Dein Wecker. Bald darfst Du mich nämlich zur Schule fahren.“

Mick verzog die Miene.

„Diesen Fakt hatte ich bisher erfolgreich verdrängt.“

„Du glaubst gar nicht, wie leid mir das tut.“

„Das glaube ich Dir in der Tat nicht, Rotznase.“

Sie grinste.

Dann änderte sich ihr Gesichtsausdruck.

„Fährst Du morgen eigentlich zum Einkaufen?“

„Ja, das hatte ich so geplant.“

„Bring Schokolade mit. Wir haben keine mehr.“

„Du meine Güte, wie konnte das passieren?!“

Mick rieb sich das Kinn, während er in ihr vorwurfsvolles Gesicht blickte.

„Warte, ich koch uns einen schönen Schokopudding!“

Mikos Gesicht hellte sich auf.

„Oh ja, das laß ich als Ersatz gelten.“

Sie standen auf und gingen beide in die Küche.

„Wir müssen diese Woche noch nach Edinburgh fahren“, sagte Miko beiläufig beim Frühstück.

„Nach Edinburgh?“

„Ja, ich muß noch zum Friseur.“

„Zum Friseur nach Edinburgh?“, wiederholte Mick, um sich zu vergewissern, daß er richtig verstanden hatte.

„Ja, zu Luigi. Ich gehe immer zu Luigi.“

„Luigi? Du kannst froh sein, wenn ich bis Stirling fahre.“

Er nahm die Zeitung, schlug diese auf und begann zu lesen.

„Tintenkleck“, hob sie in scharfem Ton an, „Luigi muß sein!“

Mick sah über die Zeitung.

„Du kämmst Dich ja noch nicht einmal jeden Tag.“

Blitzartig schnellten ihre Hände vor, griffen seine Ohren und zogen ihn über den Tisch ganz nah an ihr empörtes Gesicht.

„Mick Marcius, das ist ein ganz unverschämter Vorwurf. So etwas sagt ein Gentleman nicht zu einer Dame.“

Trotz seiner unvorteilhaften Lage grinste Mick.

„Du bist ja auch nur eine kleine Rotznase.“

Mit zusammengekniffenen Augen funkelte sie ihn an. Dann ließ sie seine Ohren los.

Mick lehnte sich wieder zurück, ihr ernster Blick war weiter auf ihn gerichtet.

Bedächtig sagte sie nun: „Tintenklecks, ich glaube, ich habe etwas bei Deiner Erziehung falsch gemacht.“

Mit offenem Mund war Mick für einen Moment sprachlos.

„Ich habe wohl etwas an den Ohren, Rotznase.“

„Ja, mich gleich wieder“, kommentierte sie und sah ihn mit Schmollmund an.

„Jetzt aber mal im Ernst, nach Edinburgh zum Friseur? Das ist doch wirklich übertrieben.“

„Luigi ist ganz nett und er ist sehr gut. Und außerdem gehört der Salon den Tsukinos.“

„Oh, heißt das, ich muß für Deine Extravaganzen nichts zahlen?“, Mick horchte auf.

„Es hätte mir gleich klar sein müssen, daß Dir das gefällt, Tintenklecks. Ja, Du mußt nichts zahlen. Luigi war mit seinem alten Friseursalon pleite. Mein Vater war aber schon damals sein Stammkunde. Er hat den Laden übernommen und vollständig neu eingerichtet, ganz modern und mit allem Luxus. Dafür erhalten die Tsukinos einen Gewinnanteil. Luigi zahlt zusätzlich eine Rate, um die vorgeschossene Summe für die Modernisierung zurückzuzahlen und jede Frisur für einen Tsukino wird mit einer Pauschale zusätzlich auf diese Rate aufgerechnet. Er bekommt dadurch also schneller seine Anteile zurück.“

„Das ist eine recht faire Geste der Tsukinos.“

„Genau. Und da er nun nur noch mich als Tsukino hat, muß ich ja schließlich zu ihm gehen. Oder etwa nicht, Tintenklecks?“ Sie sah ihn herausfordernd an.

Jetzt kniff Mick die Augen zusammen. Sie hatte ihn clever in eine Zwickmühle gebracht. Blieb er bei seiner Verweigerung, stand er eindeutig als unsozial da.

„Ich denke darüber nach.“

Sie zuckte mit den Schultern und Mick wurde klar, daß sie trotz seiner offenen Antwort wußte, daß sie bereits gewonnen hatte.

Sein Telefon klingelte. Als er auf das Display sah, erblickte er japanische Schriftzeichen. Er hob die Brauen, ihm war nicht bewußt, daß er seine Kontakte in Katakana anlegte.

„Miko!“, sagte er vorwurfsvoll und hielt ihr das Telefon entgegen.

„Oh, das ist mein Onkel!“, damit nahm sie ihm das Telefon aus der Hand und hob ab.

Mick sah sie an, während sie eine Konversation auf japanisch führte.

Als sie schließlich auflegte, hob er an: „Miko, wieso habe ich Kontakte in japanischer Schrift auf meinem Mobiltelefon? Ich denke, ich werde Dir ein eigenes Gerät besorgen, dann ist mit solchen Aktionen Schluß.“

„Ich brauche kein eigenes Telefon. Spar Dir das Geld, ich würde es ohnehin nur in ein Schubfach legen. Dein Telefon genügt mir vollkommen.“

Angesichts der völligen Selbstverständlichkeit, mit der sie den letzten Satz aussprach, atmete er tief aus.

„Mein Onkel hat uns übrigens für morgen zu einem Abendessen mit seiner Familie eingeladen.“

Sie rührte in ihrem Kakao, so als wäre Mick gar nicht anwesend.

„Ein Essen mit der Familie? Oh je, ich kenne doch die japanischen Gepflogenheiten gar nicht.“

Ohne im Rühren innezuhalten sah sie auf.

„Keine Sorge, ich bin bei Dir und außerdem ist sowieso jedem klar, daß sich ein Iteki nicht angemessen benehmen kann.“

Sie kicherte und Mick blickte sie unschlüssig an. Dann entgegnete er jedoch wieder gefaßt: „Iteki. Ich habe mir die Bedeutung dieses Wortes gemerkt, Rotznase!“

„Bemerkenswert“, kommentierte sie mit einem Hauch Sarkasmus und trank.

„Was tun wir denn nun?“

Sie setzte ab.

„Tintenklecks, nun sei nicht so aufgeregt. Wir gehen morgen zu meinem Onkel und haben einen schönen Abend, ich habe ja schon zugesagt.“

„Zugesagt?“

Miko schüttelte mit bedauerndem Blick den Kopf.

„Hey, Tintenklecks. Erinnere Dich, ich bin jetzt faktisch das Familienoberhaupt. Ich kann so eine Einladung nicht ablehnen. Das wäre ein unsäglicher Affront.“ Sie sah ihn einen Moment lang an und fügte dann süffisant hinzu: „Ach ja, und es ist natürlich klar, daß ich zu so einem Abend nur bestens frisiert erscheinen kann.“