Geduldig fräste Freddy Strich für Strich an der Kante von Sallys auffällig elegant geformtem Schlüsselbein entlang. Bloß nicht abrutschen! Zwar würde sich die Besitzerin des einzigartigen Knochens bestimmt nicht beschweren, falls es doch passieren sollte. Aber es gehörte zur Berufsehre eines Präparators, seine Objekte ohne grobe Kratzer auf den Gebeinen freizulegen.
Eigentlich verhielt sich der eingetrocknete Ton, in dem Sallys Knochen steckten, ganz manierlich. Auf jeden Fall im Vergleich zu knallhartem Kalk bei echten Fossilien, der Freddy meistens beschäftigte. Sein aktuelles Objekt war schließlich vergleichsweise fast noch als Backfisch zu bezeichnen. Sie stammte aus der Jungsteinzeit und dürfte etwa zur gleichen Zeit wie Ötzi unterwegs gewesen sein. Also vor rund 5000 Jahren. Jedoch nicht im Süden der Alpen, sondern in der Nähe des heutigen Hinterzartens im deutschen Schwarzwald.
Freddy hatte sie als einen sogenannten, komplett geborgenen Block erhalten, aus dem er sie nun Millimeter für Millimeter herausschälte. Ob sie im tonhaltigen Schlamm stecken geblieben und dadurch umgekommen war oder ob man sie darin begraben hatte, ließ sich nicht mehr feststellen. Sie war eines von mehreren Objekten, die man an dieser Stelle aus der Erde geholt hatte. Danach hatte sie zwei Jahre im Lager gelegen. Gut geschützt in dem Holzrahmen, mit dessen Hilfe man sie aus ihrer Grube gehoben hatte. Das führte ganz nebenbei dazu, dass ihre Hülle aus Lehm in Ruhe vollständig durchtrocknen konnte. Bevor sie endlich an der Reihe war, um erneut das Licht der Welt zu erblicken. Man versuchte verständlicherweise zuerst die interessantesten Funde zu bearbeiten. Mit Anzeichen wie außerhalb der Norm liegende Gebeine oder für wertvolle Grabbeigaben.
Bei Sally war bislang kein einziges Schmuckstück aufgetaucht. Auch nicht auf der Röntgenaufnahme, die vor Beginn der Arbeiten angefertigt worden war. Diese Folie diente Freddy als eine Art Vorschau, in welcher Haltung sich Sally im Block befand. Das Bild zeigte den Verlauf der großen Knochen und die Lage des Schädels. An Stellen, an denen die Gebeine direkt aufeinanderlagen, ließen sich jedoch kaum alle Einzelheiten ausmachen.
Dass es sich um ein weibliches Exemplar handelte, schien aufgrund des typisch breiten Beckens immerhin festzustehen. Freddy hatte bei den Fußknochen begonnen und sich inzwischen bis zum Schultergürtel hochgearbeitet. Er mochte seine Arbeit und vergab jeweils Namen, sofern die Präparation länger als einen Monat dauerte. Deshalb hieß "die Neue" Sally. Freddy liebte es, wenn er in der Kneipe ernsthaft davon erzählen konnte, wie er zuerst Sallys Knochen ordentlich auslegen musste, um sie in ihrer gesamten Schönheit betrachten zu können. Die ungläubigen Gesichter der Touristen waren den Aufwand meistens wert. Und es war schon vorgekommen, dass einer die Polizei angerufen hatte. Inzwischen rückten die jedoch nicht mehr aus, sondern trieben ihre eigenen groben Späße mit den Fremden.
Sally lag sozusagen auf dem Bauch vor Freddy. Ihr Brustkorb war jedoch zusammengedrückt, die Rippen hatten dem Druck des Erdreichs nicht standhalten können. Die oberste Schicht, mit der Wirbelsäule bis zum Hals, den Schulterblättern und lose im Ton steckenden Rippenteilen hatte er mittlerweile sorgsam entfernt. Alles, was einst Sallys hoffentlich entzückenden Rücken geformt hatte. Nach den Schlüsselbeinen würde er sich ihrer Vorderseite im unteren Teil des Blocks zuwenden. Der Schädel, der praktisch senkrecht nach unten im Ton steckte, würde als letztes größeres Stück übrig bleiben.
Offensichtlich zierte sich Sally und hielt sich die Hände vor der Brust. Das erschloss sich aus der Lage der Armknochen. In ihrem Zustand eine eher sinnfrei anmutende Geste. Sie führte jedoch dazu, dass sich unter dem Brustbein eine knöcherne Ansammlung gebildet hatte, die ihn wochenlang beschäftigen würde. Zeit die er benötigte, um die dicht aufeinanderfolgenden Knöchelchen ihrer Handwurzeln und Fingerglieder unversehrt auseinanderzuklauben.
Freddy hatte sich bei der ersten Betrachtung der Röntgenaufnahme dabei ertappt, dass er im Bereich von Sallys Händen zwei kreisförmige, schwache Schatten zu erkennen glaubte. Natürlich behielt er das für sich. Logisch, dass ihm sein Gehirn, das an dieser Stelle selbstverständlich einen Busen erwartete, gerne einen fiesen Streich spielte.
Die Fantasie ließ sich nicht einfach abschalten. Auch wenn man ernsthaft versuchte, streng wissenschaftlich zu arbeiten.
***
Endlich war es so weit: Freddy legte sorgfältig den letzten der über fünfzig Handknochen Sallys in den Karton, der ihre Gebeine enthielt. Die Schachtel war gerade so lang, dass eine normale Femur, also ein Oberschenkelknochen, darin Platz fand. Für die vielen kleinen Fundstücke wie die Teile der Hände, standen Behältnisse aus Hartpapier mit entsprechender Einteilung zur Verfügung. Noch immer war kein einziges Schmuckstück aufgetaucht. Das ließ darauf schließen, dass Sally doch eher nicht begraben wurde, sondern verunglückte. Vielleicht auf der Flucht in den Sumpf, in finsterer Nacht. Vor damals üblichen Angreifern, die tatsächlich gerne fremde Frauen raubten, um die eigene Sippe mit frischem Blut zu versorgen. Die Abnutzung ihrer Gelenke war nicht besonders ausgeprägt. Also dürfte es sich bei ihr vermutlich sogar um eine junge Schönheit gehandelt haben. Solche Zusammenhänge festzustellen, oblag zwar nicht Freddy. Aber logischerweise verfügte er über langjährige Erfahrung. Die oft mehr Details erkannte, als ein Frischling von der Uni selbst mit aufwendigen Tests herauszufinden vermochte. Allerdings war ihm bisher bei Sallys Präparation kaum Ungewöhnliches aufgefallen. Im Innern der Handflächen hatte ihn zwar eine schwach anders wirkende Zwischenschicht kurz irritiert. Überreste von Handschuhen, war der erste Gedanke gewesen? Unwahrscheinlich. Eine plausible Erklärung dafür war jedoch bald gefunden. Geschützt zwischen Handflächen und Oberkörper dürfte eine Bekleidung aus feinem Leder oder auch Pelz etwas länger überdauert haben als am Rest des Torsos.
Die Unterkante von Sallys Unterkiefer zeichnete sich schon deutlich im Ton ab. Er lag ganz knapp vor den Schlüsselbeinen, die er vor zwei Monaten herauspräpariert hatte. Dies ergab sich aus der Lage des Schädels, der ihr so tief wie möglich auf die Brust gesunken war. Der Schädel war natürlich der interessanteste Teil einer fünftausendjährigen Leiche. Weil die darin steckenden Zähne viel über Lebensweise und Alter einer Person verrieten. Und manchmal, im gut geschützten Innern, sogar eine Chance zur DNA-Bestimmung boten. Und nicht zuletzt, die Möglichkeit einer Gesichtsrekonstruktion, ausgehend von der Form des Schädelknochens.
Freddy hielt sich ran. Es dauerte kaum mehr als eine Stunde, bis er die linke Seite des zarten Unterkiefers freigelegt hatte. Sallys Mund stand leicht offen. Genügend Platz, um mit dem Fräser zwischen die Kauflächen einzustechen. Perfekt! Er grinste zufrieden. Eine massive Zeitersparnis zeichnete sich ab. Zwar hatte er sich gerne mit ihr beschäftigt. Aber irgendwann wurde es auch wieder Zeit für etwas Neues. Freddy wechselte das Werkzeug. Eine gröber gezahnte Scheibe, mit deren Hilfe er den Ton im Rachenraum zügig entfernen konnte. Von unten, durch den Bogen des Unterkiefers. Da war nichts mehr vorhanden, das Schaden nehmen konnte. Durch die Eile löste sich jedoch ein Backenzahn und rollte über Freddys Oberschenkel auf den Boden. Leise fluchend kroch er unter den staubigen Werktisch, um das verlorene Teil einzusammeln. Es fühlte sich schwer an, das fiel ihm gleich auf. Noch auf den Knien betrachtete er den Zahn genauer. Eigentlich nichts Ungewöhnliches zu erkennen. Er wischte den Staub weg. Ein dunkler Fleck erschien auf der Kaufläche. Freddy erstarrte. Sallys Zahn wies eine Füllung auf. Bleigraues Amalgam. Ganz bestimmt keine 5000 Jahre alt.
Freddy fror plötzlich. Sally hatte es irgendwie geschafft, ihn reinzulegen. Er schob sich keuchend zu seinem Schreibtisch. Darauf stand ein altmodisches Telefon. Der Chef würde gleich total ausrasten.
Plötzlich hielt er inne. Welche Blamage für ihn? Und für das gesamte Team.
Bisher wusste sonst niemand Bescheid. Besser erstmal in Ruhe darüber nachdenken. Eigentlich war ohnehin schon längst Feierabend. Sowas konnte man doch nicht Knall auf Fall entscheiden.
***
Krüger klaubte umständlich sein brummendes Handy aus der Jackentasche. Meyer mit Y, stand auf dem Display. „Hallo Herr Kollege Meyer“, brummte Krüger vor sich hin.
„Ich weiß, dass Sie einige freie Tage haben, Kollege Krüger“, begann Meyer ansatzlos. „Es handelt sich auch bloß um eine kurze Recherche, für die ich einen außenstehenden Beamten benötige. Die zuständigen Kollegen in Titisee-Neustadt sind im Zusammenhang mit einer Fundsache mit denjenigen vom Landesdenkmalamt aneinandergeraten.
Fahren Sie bitte mal hin, sehen sich die Sache an und schlichten Sie den Streit am besten direkt! Die Adressen und einen Bericht finden Sie in Ihrem Mailpostfach. Alles klar, Herr Kollege?“
„Ja. Und ich habe sogar Zeit“, gab Krüger zurück.
„Hatte ich gar nicht gefragt?“
„Nein.“
„Tut mir leid. Eigentlich bin ich mit den letzten Vorbereitungen für Ihren nächsten Auftrag schon am Anschlag. In zehn Tagen haben wir dazu einen Termin vor Ort. Hat Frau Smolenska Sie nicht informiert?“
„Nein, bislang nicht.“
„Ich sorge dafür, dass sie es bald nachholt. Aber diese andere Sache betrifft eine Ausgrabung in der Gegend bei Hinterzarten. Falls Sie zum Fundort wollen, der befindet sich offenbar direkt neben dem Dorf Matislesmoos. Beziehungsweise im Hochmoor, das gleich dahinter liegt. Die Grabung ist im Winter jedoch eingestellt. Sie müssten mit dem Denkmalamt in Stuttgart Kontakt aufnehmen, bevor Sie hinfahren. Steht alles in der erwähnten Nachricht. Wahrscheinlich wird es überhaupt nicht notwendig, vor Ort zu recherchieren. Aber das überlasse ich selbstverständlich Ihnen.
Ergänzende Angaben zum Fundstück erhalten Sie von Professor Gründel, vom Rechtsmedizinischen Institut. Den kennen Sie ja persönlich.“
„Ja, wir hatten schon gemeinsame Fälle“, bestätigte Krüger vorsichtig.
„Ja, dann Herr Kollege, viel Erfolg!“
Krüger hatte erst bei Gründel angerufen, bevor er ihn aufsuchte. Deshalb war der Professor bestens vorbereitet auf seinen Besucher. Nach der Begrüßung in der Kantine mit Kaffee und einem kleinen Schwatz über den letzten Fall folgte Krüger dem Professor schließlich in ein separates Labor im Institut.
„Man hat sie bereits über den Sachverhalt informiert, nehme ich an, Herr Kommissar?“, begann Gründel.
Krüger schüttelte den Kopf. „Ein Fundstück stiftet offenbar Unfrieden? Das ist mein Wissensstand.“
„Dann muss ich mich dafür entschuldigen, dass ich nicht gleich zur Sache gekommen bin, Herr Kommissar. Aber wir betrachten die Kantine als öffentlichen Raum und sprechen deshalb dort nur zurückhaltend über Befunde oder heikle Sachverhalte.“
„Eine kleine Pause schadet doch nicht“, wehrte Krüger ab.
„Da gebe ich Ihnen gerne recht, Herr Kommissar. Aber wie auch immer, eine dermaßen kuriose Geschichte habe ich noch nie erlebt. Und das will etwas heißen! Ein Skelett aus der Jungsteinzeit mit modernen Amalgamfüllungen in den Backenzähnen?“ Gründel wedelte mit der Hand vor dem Gesicht.
Krüger sah ihn fassungslos an. „Ein Ötzi mit Plomben?“
Gründel nickte. „So könnte man es ausdrücken. Allerdings dürfte es sich um ein weibliches Exemplar gehandelt haben. Eine Ötzia…“
Gründel stockte. „Lassen wir das lieber! Im Zusammenhang mit Hinterzarten lässt sich da wohl kaum eine unverfängliche Marke prägen.“
Auch Krüger konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Immerhin versuchte er, sein Gesicht rasch wieder unter Kontrolle zu bringen. „Aber die Plomben haben offenbar nicht sofort dazu geführt, dass man meine Kollegen vor Ort informiert hat?“, fragte er nach.
„Es ist etwas komplizierter. Beim ersten Auftauchen von Skeletten wurde selbstverständlich ein Gerichtsmediziner hinzugezogen. Der hatte jedoch rasch festgestellt, dass es sich bei den Gebeinen um archäologische Funde handelte. Also war kein Ermittlungsbedarf gegeben und die Formalität erfüllt. Der Kollege hat jedoch naturgemäß nicht alles gesehen, was vor Ort schließlich auftauchte. Bei jeder Ausgrabung finden sich die Knochen nach und nach. Man gräbt sorgfältig, manchmal dauert es Jahre, bis eine Fundstelle vollständig dokumentiert ist.“
„Aber nicht bei jeder Grabung finden sich zwischenzeitlich jüngere Knochen aus späterer Zeit?“, hakte Krüger nach.
„Natürlich nicht“, Herr Kommissar.
„Aber sind neuere Gebeine nicht deutlich heller und elastischer als solche, die Jahrtausende alt sind?“
„Normalerweise ja. Ich habe Aufnahmen der Knochen hier. Sehen Sie selbst!“
Gründel legte einige Fotos aus. „Optisch lassen sich die Gebeine tatsächlich auf den ersten Blick nicht von denjenigen unterscheiden, die seit vielen Jahrhunderten dort liegen. Da der Fundort am Rand eines Hochmoores liegt, werden alle diese Knochen in kurzer Zeit bräunlich verfärbt. Sie kennen doch sicher Bilder von Moorleichen, mit dieser typischen dunkelbraunen Farbe, mit Stich ins Violette?“
„Ja natürlich“, bestätigte Krüger. „Aber im Moor verwesen die Toten doch normalerweise gar nicht?“
„Das ist richtig. Jedoch liegt der Platz nicht im Moor, sondern nur am Rand eines solchen. Gelegentlich bei Hochwasser sickert an dieser Stelle Grundwasser vom Moor ein. Für eine gleichmäßige Verfärbung reicht das bloß zeitweilig vorhandene saure Medium aus. Dies entkalkt außerdem die Knochen in unregelmäßigen, keinesfalls noch irgendwie nachvollziehbaren Zyklen. Auch die anderen normalen Anzeichen, einmal abgesehen von der Farbe wie Gewicht, Elastizität oder Geruchsemissionen leiden stark unter einer solchen Umgebung. Der ständige Wechsel begünstigt sogar eher die Verwesung von Weichteilen. Für ein dauerhaft sauerstoffarmes Milieu des Erdreichs wie im Moor reichen diese bloß gelegentlichen Durchfeuchtungen nicht aus.“
„Ein wahrhaftig komplizierter Sachverhalt“, stimmte Krüger zu. „Wie häufig könnte denn ein solcher, sagen wir mal Lapsus, bei Ausgrabungen vorkommen, Herr Professor? Angesichts der offenbar schwierigen Identifizierung, drängt sich die Frage auf?“
Der Professor winkte ab. „Kann ich mir nicht vorstellen, dass das häufiger passiert. Das Problem bestand trotz allem nicht vorwiegend darin, dass sich ein jüngerer Knochen überhaupt nicht von einem alten unterscheiden lässt. Vor allem, wenn man sogar im direkten Vergleich prüfen kann. Wenigstens irgendwelche Zweifel müssten auftauchen. Das würde ich von einem erfahrenen Archäologen durchaus erwarten, selbst ohne Labortest. Ein solcher sollte in der Folge dann natürlich durchgeführt werden, um Gewissheit zu erlangen. So funktioniert das Geschäft normalerweise. Es lag wohl vielmehr an der täglichen Routine, dass dieses Skelett erst mal nicht als andersartig erkannt wurde. Mangelnde Sorgfalt, Schlendrian oder auch Betriebsblindheit. Egal wie man es nennen mag, Herr Kommissar. Es wurde zwar eine Röntgenaufnahme von jedem der Skelette angefertigt. Man hat sich bei der Sichtung jedoch nur auf eventuellen Schmuck oder metallene Grabbeigaben konzentriert. Bei ihr war leider nichts dergleichen zu erkennen. Diese Knochen lagerten deshalb seit zwei Jahren unberührt in einem Regal.“
„Zwei Jahre, ohne das jemandem etwas auffiel?“ Krüger schüttelte ungläubig den Kopf.
„Ich muss ein Stück weit ausholen, Herr Kommissar, um das zu erklären. Im Rahmen einer Ausgrabung werden heute meistens bei allen entdeckten Skeletten die offengelegten Stellen mit einem Gipsüberzug erneut konserviert, um danach als ganzer Block geborgen zu werden. Dazu hebt man um das Fundstück herum einen Graben aus und schiebt schließlich einzelne Bretter untendurch.“
Der Professor stockte. „Sie haben ein Bild vor sich, Herr Kommissar?“, fragte er.
Krüger nickte. „Habe ich schon mal gesehen. Der große Klotz wird dann mit einem oder mehreren Kränen gehoben und auf einen Tieflader gestellt!“
Der Professor zuckte mit den Schultern. „Für ein einzelnes Skelett benötigt man wohl keinen Tieflader. Ein solcher Block wiegt maximal zwei Tonnen. Da reicht ein normaler LKW mit aufgebautem Kran. Aber ansonsten ist das Vorgehen genauso, wie Sie es beschrieben haben.“ Gründel lächelte versöhnlich.
„Diese Blöcke werden dann zunächst eingelagert. Im Winter ruhen die Außenarbeiten. Deshalb haben die Archäologen in der kalten Jahreszeit ausreichend Muße, sich gründlich um die Präparate aus dem Fundus zu kümmern. Dieses Vorgehen ist durchaus üblich und wohl auch sinnvoll. Bloß will jetzt keiner der Depp gewesen sein, der nicht gleich bemerkte, dass es sich um eine, sozusagen frische Leiche gehandelt hat. Dies ist zumindest meine Einschätzung, Herr Kommissar.“
Krüger schien nachdenklich. „Ganz taufrisch waren die Gebeine wohl trotzdem nicht. Kann man schon eingrenzen, wie alt sie tatsächlich sein könnten?“
„Die Analysen sind noch im Gange. Auf eine Vermutung lasse ich mich aufgrund der geschilderten Umstände lieber nicht ein“, wehrte Gründel ab.
„Na schön. Trotzdem ist mir nicht ganz klar, weshalb meine Kollegen vor Ort jetzt nicht einfach die Ermittlungen aufnehmen.“
„Da wurde zu viel Porzellan zerschlagen. Zwischen dem Denkmalamt und den örtlichen Ermittlungsbehörden wird die Verantwortung für den Fall hin und her geschoben. Man traut einander nicht mehr. Anstatt zusammenzuarbeiten, werden dauernd neue Anschuldigungen erhoben. Von beiden Seiten! Und von mir wollen alle jeweils die Absolution erteilt haben.“
„Okay. Das kann ich nachvollziehen.“ Krüger schüttelte den Kopf. „Es sind immer wieder die gleichen Rituale. Keiner ist schuld! Bloß nichts zugeben. Eine Omertà wie in der Cosa Nostra.“
Jetzt grinste Gründel. „Eine solche Einschätzung scheint mir zwar passend, Herr Kommissar. Aber es anderswo laut zu sagen, davon rate ich ab. Wenn so was an die Presse gelangen sollte …“
„Natürlich nicht!“, winkte Krüger ab. „Eine andere Frage, Herr Professor. Sie haben doch mit Ihren Studenten ab und zu Gesichtsrekonstruktionen durchgeführt. Wären Sie bereit, eine weitere in Betracht zu ziehen? Der Schädel ist doch vorhanden?“
„Ja, der Schädel ist geborgen und befindet sich hier im Institut. Er weist übrigens eine massive Fraktur auf. Durch einen stumpfen Gegenstand. Form und Größe der Läsion entsprechen möglicherweise dem Abdruck einer Glasflasche. Oder einem ähnlich geformten, nicht sehr langen zylindrischen Teil. Der Bruch befindet sich seitlich, links am Hinterkopf. Der Schlag wurde ihr wahrscheinlich von hinten im Stehen zugefügt. Dafür spricht die schräg nach oben verlaufende Grundlinie der Einbuchtung.“
Krüger erschauerte. „Jemand hat sie erschlagen wie eine räudige Katze!“
Gründel zuckte mit den Schultern. „Wenn es Sie beruhigt, Herr Kommissar, sie dürfte auf jeden Fall sofort tot gewesen sein.“
Krüger hob abwehrend die Hände. „Ich werde mich trotzdem niemals vollständig an solche Berichte gewöhnen können, Herr Professor.“
„Es gibt auch eine gute Nachricht. Diese Beschädigung am Hinterhaupt hat kaum Auswirkungen auf ihre Gesichtszüge. Sobald das Ergebnis der C 14-Analyse vorliegt, können wir mit der Rekonstruktion beginnen. Wir möchten doch gerne die vorherrschende Ernährungssituation und Frisurenmode der damaligen Zeit einbeziehen.“
Der Professor lächelte schelmisch. „Das war nicht ganz ernst gemeint, Herr Kommissar. Solche Einsprengsel mache ich bloß, um die volle Aufmerksamkeit meiner Studenten zu behalten.“
Krüger sah ihn ratlos an.
„Was die Frisuren betrifft, war Spaß“, ergänzte Gründel. „Trotzdem würde ich die Altersbestimmung abwarten. Das Gesicht einer Person, die vor mehr als achtzig Jahren gelebt hat, dürfte kaum relevant für deren Identifizierung sein. Es dauert ohnehin nur noch ein paar Tage.“
***
Krüger und Nadja trafen sich zu einer sehr kurzfristig angesetzten Besprechung mit Meyer. „Eine Aussicht, dass die Kollegen vor Ort die Sache unbefangen angehen können, sehe ich nicht“, begann Meyer. „Wir verschieben deshalb den neuen Fall, in dem wir ohnehin im Verzug stehen, erstmal um zehn Tage. Das schafft die Möglichkeit, für die Tote eine Akte zu erstellen und die ersten Erkenntnisse zusammenzutragen. Die Kollegen waren ja nicht völlig untätig. Aber das Denkmalamt torpedierte soweit möglich sämtliche Nachforschungen in seiner Domäne. So kann man den Fall überhaupt nicht ins System einbauen. Je nachdem, was Sie herausfinden, bleiben Sie danach voll am Ball oder bearbeiten die Sache bloß nebenbei. Einverstanden, Kollege Krüger?“
Der Kommissar nickte. „Ich bin gerne dabei.“
Und Sie, Frau Smolenska?
„Mit dem größten Vergnügen, Herr Meyer!“
„Ob es ein Vergnügen wird, wage ich zu bezweifeln. Sie sind damit gleichzeitig in zwei Fälle involviert. Aber bitte, wie Sie wünschen, Frau Smolenska.“
„Ich bin es gewohnt, mehrere Dinge parallel zu bewältigen“, behauptete sie keck.
Meyer winkte ab. „Wir sind keine Akkordtruppe, Frau Smolenska. Fordern Sie rechtzeitig Unterstützung an, falls notwendig. Ich winke das durch. Alle nötigen Unterlagen werden bis morgen an Ihr Büro in Freiburg zugestellt. Sie erhalten Abschriften der bisherigen Berichte aus Titisee-Neustadt. Der örtliche Staatsanwalt ist übrigens ebenfalls draußen. Falls Sie Amtshilfe oder was auch immer benötigen, Meldung bitte direkt an mich. Ich sehe außerdem keine Veranlassung, dass Sie sich auf der örtlichen Wache melden. Der Chef dort wird informiert, er wird dafür sorgen, dass Sie nicht behelligt werden. Hoffe ich wenigstens. Alles klar?“
Krüger und Nadja nickten gleichzeitig.
„Ja dann, viel Glück!“, brummte Meyer.
***
Stolz präsentierte Professor Gründel den Kopf der jungen Frau, der auf einer Kopie von Sallys Schädel modelliert war. „Das Original haben wir gescannt und daraus auf einer computergesteuerten Maschine ein perfekt genaues Duplikat gefräst“, erklärte er.
„Hübsches Mädchen“, brummte Krüger versonnen. „Sie hätten ebenso ein erfolgreicher Bildhauer werden können, Herr Professor.“
Der zuckte zusammen. „Der Feinschliff stammt nicht von mir, leider. Ich hatte eher die technische Seite im Blick. Aber Sie haben recht. Der junge Mann, der sie geschaffen hat, sollte sein Talent eigentlich nicht verschwenden und bloß Mediziner werden. Jedoch bitte kein Wort davon an Außenstehende. Seine Eltern würden mich teeren und federn lassen für einen solchen Satz.“
„Ich schweige selbstverständlich“, versprach Krüger. „Soll ich einen Polizeifotografen beauftragen oder wollen Sie uns die Büste überlassen?“
„Wenn Sie es einrichten können, weder noch, Herr Kommissar. Fotos von allen Seiten haben wir längst angefertigt und das Objekt an sich möchten wir doch gerne für unser hauseigenes Museum behalten!“
„Wenn Sie mir einige der Aufnahmen überlassen, sehe ich kein Problem“, brummte Krüger.
„Ausgezeichnet, Herr Kommissar, vielen Dank. Sie können selbstverständlich jederzeit weitere beziehen oder auch die Negative …“
„Schon gut“, wehrte Krüger ab. „Für den Moment reichen mir einige Schnappschüsse des Objekts.“
Der Professor schluckte. „Schnappschüsse“, murmelte er. „Aber gut, Sie haben die Bilder ja noch gar nicht gesehen. Warten Sie bitte einen Moment! Ich hole Ihren Umschlag aus meinem Büro.“
Krüger zog es vor, zu schweigen. Offenbar hatte er sich gerade etwas despektierlich ausgedrückt. Es galt, sich die Sympathie des Professors auf keinen Fall zu verscherzen.
Die Fotos zeigten sich ebenso ausgezeichnet wie die Büste. Krüger nickte mehrmals zustimmend, während er sie betrachtete. „Gut gemacht, Herr Professor, sehr gut sogar. Man würde gar nicht auf die Idee kommen, dass es sich um ein Modell handelt. Sie wirkt absolut lebendig.“
„Ich werde Ihren Kommentar gerne weiterleiten, Herr Kommissar. Danke!“
***
Zwei Tage später hingen in Matislesmoos ein Dutzend Plakate an einigen Gebäuden oder auch an Bäumen im Ort. Die Aufschrift war betont zurückhaltend gewählt. Wer kennt diese Frau? Sie hat vor längerer Zeit vermutlich hier gelebt. Die angegebene Telefonnummer, in Streifen zum Abreißen, führte direkt auf Nadjas Handy. Kein Hinweis auf Polizei oder eine andere Behörde. Krüger hatte sich mit seinen engsten Beraterinnen, also mit Elisabeth und Nadja, auf dieses Vorgehen geeinigt. Als Experiment. Wenn es zu keinem Ergebnis führte, würde man sich immer noch an die große Öffentlichkeit wenden können. Jedoch schreckte das möglicherweise Zeugen ab, die sich nicht exponieren wollten oder eventuell sogar eine Strafverfolgung befürchteten. Die ehemaligen Freundinnen beispielsweise. Oder ein heimlicher Verehrer, der inzwischen, sehr wahrscheinlich, in einer anderen Beziehung lebte. Eine Garantie, dass Sally tatsächlich aus der Gegend stammte oder das Gründels Modelleur nicht zu viel Fantasie in die Büste eingearbeitet hatte, gab es natürlich nicht. Die Aktion war bloß ein erster Versuchsballon. Aber Krüger wollte es auf jeden Fall wagen.
Krüger ließ sich von Nadja auf das Weingut Kocherhof fahren. Erstens weil sie den Weg kannte und zweitens, um sich während der Fahrt ein weiteres Mal in die Akte vertiefen zu können. Eine völlig abstruse Geschichte. Angefangen hatte alles durch einen beim Notar hinterlegten Briefumschlag. Darauf die vielversprechende Aufschrift: „Erst nach meinem Tod zu öffnen.“ Allerdings ging es nicht um ein unbekanntes Vermögen, auf das die Erben kurz gehofft hatten, sondern die Verblichene beschuldigte ihren ehemaligen Dienstherrn, einen gewissen Lorenz Kocher. Er solle seine ungetreue Ehefrau mitsamt ihrem Kuckuckskind in einem der tiefsten Keller des Weingutes eingesperrt haben. Solange, bis die beiden dort unten elend verhungert gewesen seien.
Der Weinbauer genoss einen sehr guten Ruf in der Gemeinde. Niemand zweifelte daran, dass die Anschuldigungen jeglicher Grundlage entbehrten. Bloß der Racheakt einer herb enttäuschten Frau. Selbst der Umstand, dass die erwähnte Ehefrau vor 28 Jahren tatsächlich plötzlich verschwand, führte nicht zu echter Verunsicherung. Die Denunziantin musste die Behauptung schließlich an irgendeinem Ereignis festmachen. Und dieses eignete sich ausgezeichnet für eine gemeine Verleumdung. Was er ihr angetan haben konnte, wusste niemand. Außer vielleicht Lorenz Kocher selbst. Aber man konnte sich denken, dass die damalige Magd wohl gerne den Platz der Verschwundenen eingenommen hätte.
Kocher erklärte sich damit einverstanden, dass man auf dem Hof nach Spuren suchte, um die Sache ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. Der seit Jahrhunderten bewirtschaftete Hof verfügte wahrhaftig über fast endlos tiefe Lagerkeller. Die von vorangegangenen Generationen nach und nach aus dem Vulkangestein unter dem Kaiserstuhl geschlagen worden waren. Natürlich verwendete man längst moderne Edelstahltanks für die Weinproduktion. Die alten Gänge dienten höchstens noch als Hinweis auf die sorgfältig gepflegte Weintradition.
Entgegen jeder Erwartung fanden die Kriminaltechniker Fragmente von menschlichen Knochen in einer der Höhlen. Die Gebeine eines Kleinkindes. Es konnte höchstens fünf Monate alt geworden sein, war jedoch mit Sicherheit keine Totgeburt gewesen. Rückschlüsse auf die Todesursache waren nicht möglich. Bestattet wurde der Säugling in einer viereckigen Blechdose mit aufgesetztem Deckel. Eingewickelt in Gewebe aus Baumwolle, wie es früher für Windeln verwendet wurde. Ohne persönliche Gegenstände wie Schmuck oder Spielzeug. Lediglich ein einfaches Kruzifix aus Holz hatte man ihm auf die letzte Reise mitgegeben.
Die Blechbüchse stammte von einem deutschen Zwiebackhersteller und war vor mehr als fünfzig Jahren angefertigt worden. Bevor sie zum Sarg wurde, hatte man sie wohl für Kekse benutzt. Jedenfalls fanden sich in den Ritzen entsprechende Rückstände.
Die Schachtel wurde in einer dunklen Nische in eine Ecke gestellt und notdürftig bedeckt. Ein echtes Vergraben im Gestein wäre schließlich gar nicht möglich gewesen. Das vorhandene lose Material reichte immerhin dazu aus, einen an dieser Stelle zusammengekehrten Haufen aus Sand und Staub vorzutäuschen.
Die Keller blieben trocken und kühl, das ganze Jahr über. Der Boden des Behältnisses war trotzdem irgendwann von innen durchgerostet und hatte die flüssigen Überreste des kleinen Leichnams nicht mehr zurückhalten können. Dadurch entstanden typische Flecke mit Rückständen von Körperflüssigkeiten im Gestein. Die bewiesen, dass die Dose zu diesem Zeitpunkt bereits an dieser Stelle gestanden haben musste. Ob sie zwischenzeitlich einmal gefunden und dabei verschoben oder vorübergehend an einen anderen Platz gestellt wurde, ließ sich objektiv nicht ausschließen. Sobald der Inhalt völlig getrocknet gewesen war, verströmte er auch keinen auffälligen Leichengeruch mehr.
***
Trotzdem. Krüger blieb keine Wahl. Er musste die Sache absolut unvoreingenommen untersuchen. Der Bauer schien offenkundig selbst bekümmert über den Fund. Hielt er es für möglich, dass der Säugling sein sehnlichst erwarteter und bis heute ausgebliebene Stammhalter gewesen sein könnte?
Ob die Knochen von einem Knaben oder einem Mädchen stammten, war allerdings bislang nicht klar.
Oder holte ihn eine frühere Untat jetzt tatsächlich ein?
Indessen, falls die ehemalige Magd wirklich etwas darüber gewusst hätte, weshalb sollte sie dem vermögenden Bauern nicht wenigstens eine kleine Rente abgetrotzt haben? Sie hatte in einfachsten Verhältnissen gelebt, bis zu ihrem zugegeben unerwartet raschen Ableben. Hatte sie es möglicherweise erst neulich versucht und war deshalb ebenfalls ein Opfer Kochers geworden?
Oder war sie selbst diejenige gewesen, die das Kind und womöglich die Frau des Bauern in beschriebener Weise beiseitegeschafft hatte?
Jedoch, wie sollte das unbemerkt geschehen sein? Es fanden sich weder abschließbare schalldichte Türen noch feste Ringe oder Ketten in den Felskammern. Über die Möglichkeit, den Zugang zum Weinkeller nachhaltig zu verhindern, verfügte ausschließlich der Hausherr selbst.
Andererseits, weshalb sollte der Bauer in den inzwischen 28 vergangenen Jahren seit dem Verschwinden seiner Frau niemals eine Gelegenheit gefunden haben, um die verräterischen Knochen endgültig zu beseitigen?
In normal feuchter Erde wären die bald restlos vermodert gewesen. Mitsamt der Dose. Das war jedem Bauern mit Sicherheit klar. Deshalb ging Krüger davon aus, dass Kocher wirklich nichts von der kleinen Leiche in seinem Keller gewusst hatte.
***
Eine Besichtigung des Fundortes sparte sich Krüger für den Moment. Er wollte erst mit dem Gutsherrn sprechen. Allein, ohne Protokoll. Was dachte der über die Frau, die ihn posthum beschuldigte. Trude Henzer, hatte sie geheißen. Eigentlich Gertrud, aber das interessierte auf dem Land keinen. Krüger hatte einen Spaziergang durch den Weinberg vorgeschlagen und der Bauer hatte eingewilligt. „Warum die Trude den Brief hinterlegt hat? Das wüsste ich auch gern, Herr Kommissar. Und woher sie über das tote Kind in unserem Weinkeller Bescheid wusste?“ Er zuckte mit den Schultern.
„Das steht keineswegs fest“, erwiderte Krüger. „Womöglich hängen der Brief und das Kind überhaupt nicht zusammen“, mutmaßte er.
„Sie halten mich wohl für einen potenziellen Massenmörder, Herr Kommissar!“
„Aber nein, Herr Kocher! Es kann tausend Gründe geben, ein Kleinkind heimlich zu bestatten. Jedoch, dass es absichtlich von einem Fremden umgebracht wurde, ist äußerst unwahrscheinlich. Meistens sind es verzweifelte Mütter, die keinen anderen Ausweg mehr sehen. Am häufigsten sind jedoch natürliche Ursachen, die bei Säuglingen in den ersten Monaten zum Tod führen. Besonders, wenn sie ohne jegliche ärztliche Betreuung bleiben. Bis vor einigen Jahrzehnten war dies auch hierzulande absolut nicht ungewöhnlich.“ Krüger zuckte mit den Schultern. „Ich gebe bloß wieder, was mir der Rechtsmediziner darüber erzählt hat.“
Kocher wirkte skeptisch, schwieg jedoch.
„Erzählen Sie mir von Frau Henzer. Wann hatten Sie den letzten Kontakt, zum Beispiel?“
„Kontakt zu Trude? Gar nie!“
„Sie war doch auf dem Hof angestellt? Irgendwann haben Sie mit ihr gesprochen?“ Krüger schien leicht gereizt.
„Ja, eventuell damals. Aber seither. Sie war bloß eine einfältige Magd. Kein einziges Mal!“
„Wann hat Frau Henzer ihren Dienst auf dem Hof beendet? Bevor Ihre Ehefrau verschwand oder danach?“
„Wissen Sie das tatsächlich nicht, Herr Kommissar?“ Kocher schüttelte den Kopf.
„Es wäre nett, wenn Sie mir einfach antworten würden“, brummte Krüger.
„Es war ungefähr ein Jahr später, glaube ich. Oder zwei. Genau weiß ich es nicht mehr. Ist schließlich schon über ein Vierteljahrhundert her.“
„Und Sie haben absolut keine Idee, womit Sie Frau Henzer gekränkt haben könnten.“
„Eventuell hat sie gespürt, dass ich sie für nicht besonders intelligent gehalten habe. Oder sie hat versucht, mich zu bezirzen und ich habe es nicht einmal bemerkt?“ Kocher schnippte mit den Fingern. „Woher soll ich wissen, was im Kopf einer solchen Person vor sich geht?“
„Was war sie für eine Frau? War sie gut aussehend?“
„Na ja, wie man es nimmt. Reichlich Holz vor der Hütte hat sie gehabt und ihre blonden Haare trug sie immer sehr lang. Zwar als Zopf, aber immerhin.“
„Das heißt ja?“
„Wenn Sie es so hinbiegen wollen, Herr Kommissar. Aber als Bäuerin wäre sie trotzdem niemals infrage gekommen. Zu naiv. Ungebildet. Die konnte kaum lesen und schreiben. Worüber hätte ich mit ihr sprechen sollen? Über Haus-und Stallarbeit? Das war der Trude sicher selbst ebenso klar, falls Sie daraus ein Motiv konstruieren wollen, Herr Kommissar. Und die Nachbarn hätten sich kaputtgelacht.“
„Finden Sie das nicht auch ein wenig selbstgefällig, Herr Kocher?“
Er zuckte mit den Schultern. „Kann sein. Aber es stimmt trotzdem.“
„Was denken Sie, ist mit Ihrer Frau passiert? Sie hatten damals nicht gleich eine Vermisstenmeldung aufgegeben. Erst als es sich nicht mehr vermeiden ließ. Können Sie das näher erklären?“
„Sie ist mit dem fremden Balg im Bauch abgehauen. Dass er nicht von mir war, weiß ich sicher. Wir schliefen damals schon länger nicht mehr im gleichen Bett. Aber ich wollte ihr und dem Strolch, der sie geschwängert hat, eine faire Chance lassen. Ich denke, sie sind irgendwo in Kanada oder in den USA abgetaucht.“
Krüger runzelte die Stirn. „Sie gehen davon aus, dass Ihre Frau noch lebt? Weshalb haben Sie sich denn nicht gegen die Todeserklärung gewehrt? Das verstehe ich nicht.“
„Interessiert mich, was irgendeine Behörde beschließt? Hauptsache, die geben endlich Ruhe. Hat übrigens bestens geklappt.“
„Einen konkreten Hinweis haben Sie jedoch nicht, oder? Das Ganze ist bloß eine Vermutung?“