Ruby Recked
Don’t Wanna Love You
© 2017 Written Dreams Verlag
Herzogweg 21, 31275 Lehrte
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www.writtendreams-verlag.de
© Covergestaltung: Sabrina Dahlenburg
(www.art-for-your-book.weebly.com)
Lektorat: Rohlmann und Engels
ISBN ebook: 978-3-96204-467-1
Sämtliche Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Dieses eBook darf weder auszugsweise noch vollständig per E-Mail, Fotokopie, Fax oder jegliches anderes Kommunikationsmittel ohne die ausdrückliche Genehmigung des Verlags weitergegeben werden.
Travis
„Travis! Dean! Das Essen ist fertig!“, hallte Moms Stimme durch das Haus.
Langsam schlurfte ich aus meinem Zimmer und erkannte sofort den Geruch: Makkaroni mit Käse. Na, das war ja mal wieder ein richtiger Festtagsschmaus.
Mom, ihr Mann Cliff und mein Bruder Dean saßen bereits am Tisch, als ich die Küche betrat. Nach der üblichen Frage, wie die Schule gewesen war und dem standardmäßigen Gebrummel als Antwort, was so ziemlich alles zwischen „gut“ und „furchtbar“ bedeuten konnte, ergriff Cliff das Wort: „Ich muss mit euch reden. Erinnert ihr euch an meinen Freund Frank Ferrington, der nach Deutschland ausgewandert und letztes Jahr bei einem Verkehrsunfall gestorben ist?“
Betretenes Schweigen herrschte am Tisch. „Franks Tochter lebt seit dem Unfall bei ihrer Großmutter Martha drüben in Kannapolis“, fuhr Cliff fort. „Leider liegt Martha im Sterben und hat mich gebeten, die Vormundschaft für Melissa zu übernehmen. Diese Familie ist auch meine und …“ Er zögerte. Der nächste Satz schien ihm alles andere als leichtzufallen. „Was ich versuche euch zu sagen, ist, dass ihr jetzt eine neue Schwester bekommt“, ließ er die Bombe platzen.
Was? Sofort sah ich zu Mom. Sie versuchte sich an einem Lächeln, das wohl aufmunternd wirken sollte. Meinem kleinen Bruder stand der Mund offen und seine Augen waren aufgerissen. Ich musste wohl genauso aussehen. Er fand als Erstes die Sprache wieder: „Wann? Wie alt ist sie? In welchem Zimmer soll sie wohnen?“
Obwohl Dean gefragt hatte, wanderte Cliffs Blick direkt zu mir. „Na ja, wir dachten, sie könnte zunächst in deinem Zimmer schlafen, Travis, und …“ wollte er mir erklären, aber ich fiel ihm direkt ins Wort.
„Auf gar keinen Fall, vergesst es!“ Das war ja wohl die Höhe!
„Jetzt hör doch erst mal zu!“, mischte sich Mom nun ein. „Wie gesagt, wir hatten die Idee, dass Melissa vorübergehend in deinem Zimmer schlafen kann. Für diese Zeit müsstest du dann bei Dean übernachten. Wir werden schnellstmöglich das Arbeitszimmer räumen und neue Möbel für das Mädchen kaufen. Das wird allerdings einige Wochen dauern.“
„Warum kann sie nicht einfach auf Deans Klappsofa schlafen?“, setzte ich zu einem neuen Versuch an, meinen Raum zu retten. „Ihr könnt doch nicht verlangen, dass ich mir da den Rücken verdrehe.“
Doch Mom wusste wie immer eine Antwort. „Weil wir nicht wollen, dass einer von euch mit ihr in einem Zimmer schläft, und sie will das sicher auch nicht. Bitte stell dich nicht so an, Travis! Es ist doch nur kurzzeitig. Und wenn du bei deinen Freunden übernachtest, liegst du doch auch nicht weich gepolstert.“
Mist, ich konnte ihr wohl schlecht sagen, dass ich schon ewig nicht mehr bei einem meiner Kumpels übernachtet hatte. Das war immer nur meine Ausrede gewesen, wenn ich bei ihr war. Ich schaute zu meinem Bruder, doch der zuckte nur mit den Schultern. Er war doch sicher auch nicht begeistert, dass ich ihm so gezwungenermaßen auf die Pelle rückte. „Wann kommt sie denn und wie alt ist sie überhaupt?“, wiederholte Dean seine Frage von vorhin.
„Sie ist sechzehn“, ergriff Cliff nun wieder das Wort. Okay, also lag sie vom Alter her genau zwischen uns Jungs. Gerade wusste ich nicht, was mir besser gefallen würde: ein weiterer Teenager in unseren Reihen oder ein kleines Kind. Am liebsten wäre es mir gewesen, wenn sie gar nicht zu uns kommen würde. Denn in einem Punkt war ich mir sicher: Sie würde mir tierisch auf den Wecker fallen.
„Ich werde ab jetzt jeden Tag nach Kannapolis rüberfahren, um mich gebührend von Martha zu verabschieden. Schließlich ist sie so etwas wie eine Mutter für mich. Ich weiß noch nicht, wann ich Melissa mit hierherbringen werde.“
„Können wir nicht einfach jetzt schon das Klappsofa in das Arbeitszimmer stellen?“, versuchte ich, mit einer neuen Idee aufzufahren, weil ich nicht kampflos aufgeben wollte. „Wenn ihr dann ein Bett für sie gekauft habt, kann es ja wieder zurück in Deans Zimmer.“
„Sie hat einen schweren Schicksalsschlag hinter sich und der nächste steht ihr kurz bevor. Sie hat niemanden außer uns. Außerdem ist sie unser Gast und soll sich hier wohlfühlen und nicht in einem Provisorium wohnen“, schmetterte Cliff auch diese Idee ab.
„Ach und ob ich mich wohlfühle ist egal oder was?“, maulte ich.
„Travis!“, empörte sich meine Mutter.
„Travis!“, äffte ich sie nach. Das war im Moment ihre Standardantwort, wenn ihr eine meiner Aussagen nicht passte. Als wüsste ich nicht selbst, wie ich heiße.
Cliff, der edle Ritter, kam ihr zu Hilfe. „Natürlich sollst du dich auch wohlfühlen. Aber das wird für uns alle eine große Umstellung, nicht nur für dich. Wir sollten als Familie zusammenhalten, dann werden wir das gut meistern.“
Wie konnte man nur so optimistisch sein? Das war ja ekelhaft. Und dieses Gerede über Familie konnte ich ebenso wenig ertragen. Ich fühlte mich hier ja ohnehin schon als Fremdkörper. Wie viel Zusammenhalt konnte es in dieser Familie geben, wenn noch jemand hinzukäme, der nicht dazugehörte?
„Und noch etwas“, fügte Cliff hinzu. „Melissa ist absolut tabu für euch. Wie gesagt, seht einfach eine Schwester in ihr. Helft ihr ein bisschen, sich hier einzuleben, aber behaltet die Finger bei euch. Ich hoffe, wir haben uns verstanden.“
Wie ich es hasste, wenn er auf strengen Daddy machte! Was sollte die Ansage überhaupt? Dean war vergeben und mir konnten Weiber momentan gestohlen bleiben. Um unnötige Diskussionen zu vermeiden, nickte ich nur, genau wie mein Bruder.
Nachdem wir aufgegessen hatten, räumten Dean und ich unsere Teller in den Geschirrspüler und gingen nach oben. Ich folgte ihm in sein Zimmer und schloss die Tür hinter uns. „Na, du warst mir ja eine große Hilfe, vielen Dank auch“, fauchte ich ihn sofort an.
„Was sollte ich denn bitte machen?“, verteidigte er sich. „Das war ohnehin beschlossene Sache.“
„Du hättest zumindest mal protestieren können“, knurrte ich. „Wie viel ungestörte Zeit mit Gemma hast du wohl noch, wenn ich hier bei dir abhänge?“
Dean und Gemma waren jetzt seit ein paar Monaten ein Paar und konnten kaum die Finger voneinander lassen, wobei sie vermutlich noch nicht gevögelt hatten, so wie ich die beiden einschätzte. Außerdem glaubte ich, dass er mit mir darüber geredet hätte. So war mein Bruder: redebedürftig. Im Gegensatz zu mir, der die meisten Sachen mit sich selbst ausmachte.
„Du sollst auch nicht die ganze Zeit in meinem Zimmer abhängen, sondern ausschließlich hier schlafen“, schoss er zurück. „Tagsüber kannst du in deinen eigenen Raum gehen. Außerdem bist du eh meistens unterwegs, also mach es nicht schlimmer, als es ist.“
Konnte oder wollte er es nicht verstehen? Es ging doch nicht nur um die Nächte. Der Neuzugang würde wahrscheinlich im Dauerzustand mein Heiligtum blockieren. Wohin sollte ich mich dann zurückziehen, wenn mir mal wieder alle auf die Nerven gingen? „Das sagst du so einfach, du musst dein Reich ja auch nicht aufgeben.“
„Jetzt mach hier nicht auf Dramaqueen.“ Dean schnaubte. „Es ist nur vorübergehend. Wir sollten Mom und Dad einfach helfen, das Arbeitszimmer auszuräumen, zu renovieren und dann hast du deinen Rückzugsort ganz schnell wieder.“
Ach, helfen sollte ich auch noch, damit das Prinzesschen einen schönen Palast bekam? Das wurde ja immer besser. Und überhaupt: Wovon wollten Cliff und Mom das alles eigentlich bezahlen? Renovierung und Möbel? Uns wurde immer gesagt, dass eine Taschengelderhöhung nicht drin sei. Auch Extrawünsche standen nicht zur Debatte. Aber für ein komplett neu eingerichtetes Zimmer hatten sie plötzlich Geld übrig? Das ergab doch vorne und hinten keinen Sinn.
Melissa
Nun saß ich im Auto, unterwegs in ein neues Leben. Schon wieder! Neben mir befand sich mein neuer Vormund. Clifford Anderson. Er war ein enger Freund meines Vaters gewesen und sozusagen der Ziehsohn von Grandma, die wir gestern beerdigt hatten. Nachdem seine Eltern gestorben waren, als er siebzehn war, durfte er bei meiner Oma und meinem Vater leben, um nicht aus seinem sozialen Umfeld herausgerissen zu werden. Clifford war ein großer Mann mit schwarzem Haar, das an den Schläfen schon grau meliert war. Mit seinen freundlichen braunen Augen betrachtete er mich ständig mitleidig.
Was mich einerseits störte, konnte ich ihm andererseits nicht verdenken. Schließlich sah ich erbärmlich aus mit meiner Yogahose und dem viel zu großen Kapuzenpulli. Meine blonden Haare hatte ich mir schon seit drei Tagen nicht mehr gewaschen. Damit man nicht bemerkte, wie schrecklich sie aussahen, hatte ich sie zu einem unordentlichen Dutt zusammengeknotet. Außerdem war mein Gesicht von der ganzen Heulerei völlig verquollen. Kurz gesagt sah ich so aus, wie ich mich fühlte: beschissen.
Clifford war im vergangenen Jahr immer mal wieder zu Besuch bei meiner Grandma gewesen. Als es meiner Oma immer schlechter ging, wurden seine Besuche häufiger. Zum Schluss war er sogar bei uns eingezogen, um meine Grandma auf ihrem letzten Weg zu begleiten.
Wir verließen Kannapolis und fuhren über eine Landstraße Richtung Huntersville. Das gefiel mir gut. Zumindest wohnten sie nicht in der Großstadt. Clifford versuchte ein paarmal, eine Unterhaltung mit mir zu starten, aber als er merkte, dass ich nicht antwortete, sondern nur aus dem Fenster starrte, gab er auf. Zwar machte er einen wirklich netten Eindruck auf mich, aber mir war gerade nicht nach Reden zumute. Ehrlich gesagt, war ich komplett überfordert mit der Situation.
Eine halbe Stunde später erreichten wir Huntersville und kurz darauf das Haus der Andersons. Es war nicht besonders groß, dennoch oder gerade deshalb wirkte es sehr einladend. Der Garten wirkte gepflegt und das Grundstück war von einem weißen Zaun umfasst.
Als wir hineingingen, betraten wir zuerst die Küche, die sich auf der linken Seite des Flures befand. Sofort wurden wir von Brittany, Cliffords Frau, begrüßt. Es handelte sich um eine große, schlanke Brünette, die umwerfend aussah. Sie trug ein lindgrünes Sommerkleid und ihre Haare fielen in großen Wellen über ihre Schultern. Brittany war ungefähr dreißig Jahre alt und somit deutlich jünger als Clifford, der mit seinen zweiundfünfzig Jahren genauso alt war, wie mein Dad es jetzt gewesen wäre. Das war auch schon alles, was ich über ihn wusste, mehr Details waren mir nicht bekannt. Außer, dass mein Dad mir einmal erzählt hatte, dass er zwei Kinder in meinem Alter hatte. Dass Brittany die Mutter war, bezweifelte ich dabei stark.
„Hallo Melissa, schön, dass du da bist“, sagte Brittany und zog mich in eine feste Umarmung. „Ich hoffe, du wirst dich bei uns wohlfühlen. Wenn du irgendetwas brauchst, gib einfach Bescheid.“
Diese Menschen schüchterten mich mit ihrer offenen Art ein. Ich konnte gar nicht reagieren, also nickte ich und versuchte mich an einem Lächeln. Es glich wohl eher einer Fratze, weshalb ich meinen Blick senkte.
Seit dem Tod meiner Eltern hatte ich mich zurückgezogen und jeglichen Kontakt zur Außenwelt vermieden. Auch meine Oma hatte es nicht geschafft, zu mir durchzudringen. Immerhin war sie wie eine Fremde für mich, weil ich sie bis dato nur viermal gesehen hatte.
Jetzt, wo sie ihrem Krebsleiden erlegen war, bereute ich es, uns keine Chance auf ein besseres Verhältnis gegeben zu haben. Mit dem festen Entschluss, es den Andersons leichter zu machen, war ich hierhergekommen, doch jetzt schaffte ich es nicht einmal, mit ihnen zu reden. Wann hörte das bloß wieder auf? Würde sich mein Leben je wieder normal anfühlen? Würde es irgendwann wieder so werden, wie es einmal gewesen war?
Wir setzten uns an den Tisch und Brittany servierte uns selbst gemachten Eistee. Während wir tranken, erklärten sie mir, was sie mit der Zimmerverteilung vorhatten. Mir gefiel es nicht sonderlich. Hoffentlich war das für diesen Travis okay, dass ich einfach seinen Raum besetzte. Unter gar keinen Umständen wollte ich ihn aus seinem Reich vertreiben. Genauso, wie ich hier niemandem zur Last fallen wollte. Ich könnte ja auch auf der Couch schlafen, überlegte ich. Leider lag meine Zunge immer noch wie Blei in meinem Mund, sodass ich meine Einwände nicht vorbringen konnte, weshalb ich erneut nickte.
Nachdem wir unsere Gläser geleert hatten, führte Brittany mich die Treppe hinauf. Die Einrichtung des Raums, der jetzt vorübergehend meiner war, bestand aus einem großen Bett, einem Kleiderschrank und einem Schreibtisch. An der Wand hing ein Flatscreen und auf einer kleinen Kommode davor standen ein DVD-Player sowie eine Playstation. Typisch Jungs. Allerdings erstaunte mich, dass alles unglaublich ordentlich war. Ob ihr Sohn ein Sauberkeitsfanatiker war oder hatte er es nur für mich so hergerichtet?
„Travis hat in seinem Schrank sicherlich schon Platz für deine Sachen gemacht“, teilte Brittany mir mit. Als sie die Holztüren öffnete, fiel der gesamte Inhalt heraus. Offenbar hatte er die Sachen wahllos hineingestopft, was den aufgeräumten Raum erklärte. Irgendwie fand ich es lustig, dass Travis nicht das getan hatte, was man von ihm erwartete.
Brittany schloss die Augen und presste die Lippen aufeinander. Sie murmelte etwas, was verdächtig nach „Ich bring ihn um“ klang. Sie holte tief Luft und sah mich an. „Okay, so wie es aussieht, hat er das noch nicht gemacht, aber sobald er nach Hause kommt, wird er es bestimmt nachholen.“
Wir verließen mein neues Reich und ich erhielt eine Führung durch das Haus. Oben befanden sich die Räumlichkeiten der Jungs, ein Bad und das bisherige Arbeitszimmer, das ich bekommen sollte. Ein Blick in den Raum sagte mir, dass es noch etwas dauern könnte, bis es so weit war. Hier standen ein Schreibtisch und zwei riesige Regale voller Ordner. Dann waren da aber auch noch ein Bügelbrett, ein Crosstrainer und unzählige Kisten, also eher ein Abstellraum als ein richtiges Büro.
Unten waren der Wohnbereich, der von einer gemütlich aussehenden, hellbraunen Sofalandschaft beherrscht wurde, sowie das Reich von Brittany und Clifford. Das besaß sogar ein angrenzendes Bad. Dann gab es noch ein Gäste-WC und die Küche, die ich bereits kannte. Sie war mit Abstand der größte Raum des Hauses. Die Einrichtung bestand aus einem hellen Holz und in der Mitte befand sich eine freistehende Kochinsel, die mir besonders gut gefiel. Ebenso war ein Esstisch mit acht Stühlen vorhanden, auf dem nun Sandwiches standen, die vorhin noch nicht da gewesen waren. Nach der Zeit bei meiner Grandma war ich froh, wieder in einem modern eingerichteten Haus zu leben.
„Lasst es euch schmecken“, forderte Clifford uns auf. „Ich muss noch einmal dringend in die Werkstatt.“ verabschiedete er sich mit einem Kuss von seiner Frau. Mich schaute er unsicher an, legte mir im Vorbeigehen die Hand auf die Schulter und sagte: „Ich hoffe, dass du dich bei uns wohlfühlen wirst.“
„Die Jungs sind übrigens noch in der Schule. Sie kommen immer erst spät nach Hause. Ich hoffe, dass ihr euch gut verstehen werdet“, erzählte mir Brittany, während wir aßen. Sie sprach von ihnen, als wäre sie ihre leibliche Mutter, aber das konnte gar nicht sein, so jung wie sie war. Hatte sie sich so gut gehalten oder waren die Jungs vielleicht gar nicht in meinem Alter? Hatte ich das einfach falsch verstanden? Ich öffnete meinen Mund, um sie danach zu fragen, aber irgendwie brachte ich keinen Ton heraus. Bestimmt sah ich aus, wie ein Fisch auf dem Trockenen, also schloss ich die Lippen wieder.
„Möchtest du dich vielleicht etwas hinlegen?“, erkundigte sich Brittany nach dem Essen. „Du siehst ganz schön erschöpft aus.“ Erleichtert nickte ich, da ich tatsächlich müde war. Die ganzen neuen Eindrücke hatten mich ausgelaugt. Hinzu kam, dass ich seit einem Jahr quasi dauerhaft hätte schlafen können. Seit dem Unfall, bei dem meine Eltern gestorben waren, quälten mich nachts Albträume. Sie hielten mich in unendlich vielen Nächten wach. Eine Zeit lang hatte ich es mit Schlaftabletten versucht, aber meine Grandma hatte sie mir weggenommen, da sie befürchtete, dass ich es damit übertreiben könnte. Ehrlich gesagt war ihre Sorge nicht ganz unbegründet, denn ich hatte tatsächlich ein paarmal daran gedacht, meinem Leben ein Ende zu setzen. Aber selbst dazu fehlte mir die Motivation.
Bevor ich hochging, umarmte ich Brittany, weil sie mich so freundlich empfangen hatte. Sie sollte auf keinen Fall denken, dass ich undankbar war, nur weil ich nicht redete. Sie erwiderte die Geste und streichelte mir sanft über den Rücken.
In meinem Zimmer holte ich den MP3-Player aus dem Rucksack, schaltete ihn ein und legte mich auf das Bett. Es war offensichtlich frisch bezogen, denn es roch nach Waschmittel oder Weichspüler und hatte keinen Eigengeruch von jemand anderem an sich. Schon nach kurzer Zeit dämmerte ich ein.
Als ich nach fast zwei Stunden wieder aufwachte, ging ich nach unten und suchte nach Brittany. Sie saß im Garten in der Sonne und las ein Buch. Sie lächelte, als sie mich entdeckte. „Na, konntest du ein bisschen schlafen?“
Ich nickte und lächelte schüchtern. In dem Moment hörte ich von drinnen eine Stimme rufen. „Mom? Dad?“
Kurz darauf stand ein Junge an der Terrassentür. Er war groß, bestimmt einen Meter fünfundachtzig, und trug eine rote Basketball-Montur. Die schwarzen Haare waren kurz geschoren und er besaß die gleichen freundlichen, braunen Augen wie Clifford. Die Nase und der Mund hatten allerdings starke Ähnlichkeit mit Brittanys. War sie also doch seine leibliche Mutter?
Als sein Blick mich traf, grinste er mich an. „Hey, hallo, ich bin Dean“, begrüßte er mich und reichte mir die Hand. „Ich nehme dich jetzt lieber nicht in den Arm, weil ich total verschwitzt bin, aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben, okay?“ Dann zwinkerte er mir zu und wandte sich an Brittany. Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Hey Mom, Travis kommt später, er wollte noch in den Kraftraum. Ich bin dann mal duschen, bis gleich.“ Daraufhin war er auch schon wieder im Haus verschwunden. Er war echt süß und ich froh, dass mich hier alle so freundlich aufnahmen.
Wie sehr ich mich mit dieser Annahme getäuscht hatte.
Etwa eine Stunde später saßen wir alle am Küchentisch, wo sich Dean und Brittany über den Tag unterhielten, als sich die Haustür öffnete und wieder schloss.
„Hi, bin zu Hause“, rief der Neuankömmling, während er an der Küchentür vorbeiging. Da er so schnell unterwegs war, konnte ich gar nicht erkennen, wie er aussah. Schon hörte man polternde Schritte auf der Treppe.
Brittany sprang auf und stürzte in den Flur. „Travis! Kannst du dich bitte vorstellen und Melissa begrüßen?“
Ich hörte sein Schnauben bis in die Küche und dann, wie er sich gemeinsam mit Brittany näherte und schließlich den Raum betrat.
Als ich ihn sah, fiel mir nur ein einziges Wort ein: wunderschön. Obwohl man das nicht unbedingt über einen Jungen sagte, traf es auf dieses Exemplar zu. Er war riesengroß, also zumindest aus meiner Perspektive, aber ich war mit meinem einen Meter zweiundsechzig ja auch eher klein. Die dunkelblonden Haare standen ihm wild vom Kopf ab und er besaß blaugraue Augen, die mich mit einem stechenden Blick fixierten. Seine Gesichtszüge waren absolut ebenmäßig. Die perfekt gerade Nase und sein kantiges Kinn, das eine scharfe Linie bildete, ließen ihn richtig sexy aussehen.
Er kam auf mich zu und streckte mir seine Hand entgegen. „Hi, ich bin Travis, schön dich zu treffen“, leierte er herunter, als hätte er diesen Satz auswendig gelernt. Seine Attraktivität und seine arrogante Ausstrahlung schüchterten mich dermaßen ein, dass ich weder mit ihm reden noch seinem Blick standhalten konnte. Also senkte ich den Kopf, ohne seine Hand zu ergreifen.
Plötzlich beugte er sich zu mir herunter, so weit, dass er mir von unten ins Gesicht sehen konnte. „Hey, es ist äußerst unhöflich, eine Hand nicht zu ergreifen, die einem hingehalten wird.“
Ich wich seinem Blick erneut aus, indem ich zur Seite schaute. Travis richtete sich wieder auf, wie ich aus den Augenwinkeln erkannte. Daraufhin machte er auf dem Absatz kehrt und wandte sich an Brittany. „So, ich hab's versucht, Mom. Ich hoffe, du hast es zur Kenntnis genommen. Aber offenbar bin ich nicht begrüßenswert. Kann ich jetzt gehen?“
„Kannst du“, seufzte Brittany. „Gib Melissa bitte ein bisschen Zeit. Sie muss sich erst mal an die neue Situation und an uns gewöhnen.“
„Wenn du meinst“, gab er verächtlich zurück. „Ich bin ja der Meinung ein Hallo könnte man auch ohne große Eingewöhnung über die Lippen bekommen.“
Damit drehte er sich um und marschierte in den Flur. „Hatte ich dich nicht gebeten, in deinem Schrank etwas Platz für Melissas Sachen zu schaffen?“, rief seine Mom ihm noch hinterher.
Die Antwort fiel äußerst laut aus: „Weißt du was? Mach doch in deinem Schrank Platz oder bitte Cliff oder Dean darum! Es reicht doch wohl, dass ich mein Zimmer und mein Bett räumen muss! Es kann ja auch mal einer von euch zurückstecken und nicht nur ich!“ Als Nächstes hörte ich, wie eine Tür ins Schloss knallte.
Travis
Nachdem ich allein in meinem Zimmer war, ließ ich mich mit dem Rücken gegen das Türblatt fallen und hämmerte mehrfach mit dem Hinterkopf dagegen. Was war das denn bitte? Ich musste hier mein Zimmer räumen und Madame hatte es nicht einmal nötig, mich zu begrüßen? Wie undankbar konnte man sein?
Sie benahm sich nicht nur unhöflich, sondern sah auch noch ungepflegt aus. Merkte sie eigentlich nicht, wie warm es draußen war, dass sie so einen dicken Pulli trug? Geschminkt war sie auch nicht. Also nicht, dass ich besonders darauf stand, aber ihrem verheulten Gesicht hätte es sicher gutgetan.
Als ich meinen Blick durchs Zimmer streifen ließ, fiel mir auf, wie es hier aussah. Meine Schranktüren waren offen und das ganze Zeug, was ich heute Morgen noch schnell hineingestopft hatte, lag nun davor. Neben meinem Schreibtisch standen zwei riesige Koffer und ein Rucksack. Mein Bett war frisch bezogen, aber offensichtlich hatte sie schon drauf gelegen. Auf meinem Kopfkissen befand sich ein MP3-Player. Bestimmt hörte der Zwerg nur Schrott, da musste ich mal nachschauen. Ich scrollte durch die Playlist und kannte keine der Bands. Sie schien ausschließlich deutsche Musik zu hören. Ob sie der englischen Sprache wohl nicht mächtig war? Das könnte erklären, warum sie nicht sprach. Allerdings war diese Möglichkeit eher unwahrscheinlich, da sie schon seit einem Jahr in Amerika lebte und zur Schule ging und in Deutschland hatte man doch sicherlich auch Englischunterricht. War sie also einfach nur schüchtern oder hatte sie eventuell eine geistige Behinderung oder so was? Nicht zu sprechen und Blicke zu meiden, konnte doch unmöglich normal sein. Vielleicht würde ich ja beim Abendessen dahinterkommen.
Jetzt war es erst einmal Zeit für eine Dusche. Da ich nach dem Football- und Krafttraining der letzte Schüler auf dem Schulgelände war und der Hausmeister schon mit seinen Schlüsseln geklappert hatte, hatte ich es mir vor Ort gespart. Er hatte mich schon einmal eingeschlossen und auf eine Wiederholung hatte ich keinen Bock. Also zog ich mich bis auf die Boxershorts aus und ging ins Bad.
Als ich nach dem Duschen den Vorhang aufzog, öffnete sich zeitgleich die Badezimmertür. Der Zwerg trat ein und riss die Augen und den Mund auf. „Na, gefällt dir, was du siehst?“, provozierte ich sie. Sie lief augenblicklich dunkelrot an, mied meinen Blick und verließ den Raum. Das war ja fast schon niedlich.
Nach dem Abtrocknen band ich mir das Handtuch um die Hüfte und kehrte in mein Zimmer zurück. Dort saß das Mädchen auf meinem Schreibtischstuhl. Auf ihrem Schoß befanden sich Handtücher und Klamotten. Anscheinend hatte sie endlich mal vor, sich sauber zu machen. Einen kurzen Moment fiel ihr Blick auf mich, bevor sie erneut ihren Kopf senkte, sich vom Stuhl erhob und direkt an mir vorbei ins Bad rauschte. Korrektur: Das Ganze war doch nicht niedlich, sondern wurde echt lächerlich. Hatte sie Angst vor mir oder was war das Problem?
Ich zog mich an und begab mich nach unten zu den anderen. Inzwischen waren auch Cliff und Gemma angekommen. „Hey“, begrüßte ich die Runde „Was geht?“
„Wir wollen Pizza bestellen“, antwortete Cliff.
„Cool! Ich nehme Thunfisch mit Extra-Zwiebeln“, gab ich direkt meine Wunschbestellung auf.
„Alter“, empörte sich Dean. „Lass das! Denk dran, dass du in meinem Zimmer schläfst.“
„Pech gehabt, würde ich sagen“, antwortete ich desinteressiert.
„Travis, das ist echt ekelig. Kannst du nicht mal Rücksicht nehmen?“, mischte sich jetzt auch noch seine Freundin ein.
„Und kannst du nicht einfach mal die Klappe halten?“, konterte ich. „Was geht es dich an? Du bist doch nur neidisch, dass du nicht bei Dean schlafen darfst.“
„Hey, sprich nicht so mit meiner Freundin“, knurrte mein Bruder. „Lass deine schlechte Laune gefälligst da aus, wo du sie dir geholt hast.“
Meine Güte, warum musste mir heute eigentlich jeder auf die Nerven gehen? „Oh, ihr seid so süß, dass ich gleich kotzen muss. Immer schön für den anderen in die Bresche springen. Und bis eben war meine Laune ganz ausgezeichnet.“
„Es reicht!“, spie Cliff uns entgegen. „Hört auf, euch zu benehmen wie im Kindergarten. Was sollen wir denn für einen Eindruck auf Melissa machen?“
„Das ist jetzt deine Hauptsorge?“, murrte ich. „Was wir für einen Eindruck machen? Ich glaub, ich spinne! Wisst ihr was? Ich bin raus. Esst eure Scheiß-Pizza doch alleine und spielt dem Zwerg da oben die Happy Family vor, aber ohne mich.“ Ich stand so schnell auf, dass mein Stuhl geräuschvoll über den Boden scharrte und stürmte zur Haustür, die ich hinter mir zuknallte. Anschließend marschierte ich in die Garage, um mir mein Fahrrad zu schnappen.
Noch vor ein paar Wochen wäre ich jetzt zu einem meiner Kumpels gefahren, aber das hatte sich inzwischen erledigt. Also radelte ich ziellos durch die Gegend. Mein Leben war einfach nur scheiße!
Melissa
Als ich nach dem Duschen wieder runterging und die Küche betrat, stellte ich erleichtert fest, dass Travis nicht mehr anwesend war. Mein Gott, es war mir so peinlich, dass ich ihn im Bad überrascht hatte. Mir war es absolut unangenehm gewesen, ihm schien es hingegen nichts auszumachen, da er, obwohl er splitterfasernackt vor mir gestanden hatte, sein arrogantes Grinsen aufsetzen konnte. Ich hatte echt keine Ahnung, wie ich mit diesem Kerl zurechtkommen sollte.
Die Familie sah nicht ganz so glücklich aus, nur Gemma lächelte mich an. Ihre Ausstrahlung wirkte wahnsinnig positiv auf mich. Bereits vorhin, bevor ich nach oben gegangen war, waren wir uns kurz über den Weg gelaufen. Ihre braunen, glatten Haare reichten ihr bis zur Schulter. Vor allem waren mir ihre grünen, leicht schräg stehenden Augen aufgefallen. In diesem Moment strahlten sie viel Wärme aus, aber ich konnte mir vorstellen, dass sie auch unheilvoll blitzen konnten, wenn sie mal nicht so gut gelaunt war. Gemma war ein ganzes Stück größer als ich, aber das schien hier in dem Haus der Riesen auf jeden zuzutreffen. Im Gegensatz zu mir hatte das junge Mädchen eine deutlich weiblichere Figur, was ebenfalls keine Schwierigkeit war.
„Freitags ist bei uns Pizza-Tag“, erklärte mir Clifford. „Welche Sorte möchtest du?“ Nach einem kurzen Blick in die Karte, entschied ich mich für eine mit Schinken. Die Nummer acht, hätte ich sagen müssen, aber es kam einfach nichts aus meinem Mund, also zeigte ich notgedrungen auf die entsprechende Stelle in der Karte. Herrgott nochmal, es ging doch nur um Pizza. Reiß dich zusammen Ferrington! Wenn das so weiterging, würden sie mich sicherlich bald in die Klapse einweisen.
Während wir auf den Lieferservice warteten, informierte Clifford mich, dass es Streit mit Travis gegeben hätte und er daraufhin abgehauen sei. „Aber er macht das öfter und ist bisher noch immer wieder zurückgekommen.“
„Eigentlich ist Travis nicht so, weißt du“, versicherte mir Brittany. „Vor Kurzem haben seine Freundin und er sich getrennt, aber er erzählt uns nicht, warum. Langsam weiß ich echt nicht mehr, wie ich mit ihm umgehen soll. Alles, was wir machen, scheint falsch zu sein.“ Einerseits fand ich es zwar interessant, darüber in Kenntnis gesetzt zu werden, weil es mir eventuell dabei helfen könnte, ihn besser zu verstehen. Andererseits wusste ich nicht, was ich davon halten sollte, dass mir hier solche Details über ihn verraten wurden. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Travis das recht war.
Als die Pizza geliefert wurde, wechselten wir zum Glück das Thema. Da meine Ersatzfamilie schon bemerkt hatte, dass ich nicht redete, erzählten sie einfach etwas von sich. So erfuhr ich zum Beispiel, dass Clifford eine kleine Autowerkstatt besaß und Brittany in einem Kindergarten arbeitete. Sie teilte mir außerdem mit, dass sie in der kommenden Woche Urlaub genommen hatte, damit sie mit mir Behördengänge erledigen konnte. Darüber hinaus würde sie mich in der Schule anmelden und der Möbelkauf stand ebenfalls auf ihrer To-do-Liste. Clifford informierte mich, dass morgen mit dem Ausräumen des Arbeitszimmers angefangen werden würde.
Auch Gemma nutzte ihre Chance mit mir zu reden. „Ich freu mich wahnsinnig, dass jetzt hier ein Mädchen wohnt. Hoffentlich können wir Freundinnen werden. Tanzt du gern? Ich tanze schon seit meinem achten Lebensjahr. Vielleicht kommst du mal mit zum Training?“ Auch, wenn ich Sport liebte, so wusste ich nicht, ob ich auf dieses Angebot eingehen würde. Gemma stellte mir gefühlt hundert Fragen. Manche konnte ich mit einem Nicken oder Kopfschütteln beantworten, bei anderen zuckte ich mit den Schultern, was sie nicht weiter zu stören schien. Sie war jemand, der ohne Punkt und Komma reden konnte, was mir aber egal war, denn sie war einfach nur liebenswert.
Direkt nach dem Essen ging ich hoch in den Raum, der mir zur Verfügung gestellt wurde. Ich war todmüde auch wenn es erst neun Uhr war, aber es war ein wahnsinnig langer Tag gewesen. Gerade als ich eindöste, wurde die Tür aufgerissen und Travis kam herein. Erschrocken zog ich mir die Decke unters Kinn und schaute ihn an. Er würdigte mich keines Blickes, sprach aber mit mir: „Mann, stell dich nicht so an! Ich muss nur schnell was holen. Dann bist du mich los und hast mein Reich wieder für dich allein.“ Und schon war er wieder weg.
Irgendwie konnte ich verstehen, dass er mich nicht mochte. Schließlich blockierte ich sein Zimmer und benahm mich darüber hinaus auch noch merkwürdig. Mir war durchaus bewusst, dass es nicht normal war, unentwegt zu schweigen. Aber ich hatte auch keine Idee, wie ich wieder mit dem Sprechen anfangen sollte. Es gab heute viele Situationen, in denen ich gerne etwas gesagt hätte, aber es kam einfach nichts aus meinem Mund.
Am nächsten Morgen begannen Clifford, Brittany, Dean und ich das Büro auszuräumen. Travis weigerte sich standhaft, was mich wunderte. Man sollte doch meinen, dass er das möglichst schnell erledigt haben wollte, damit er mich aus seinem Reich bekam. Mir hingegen sollte es recht sein. So kam es wenigstens nicht zu unangenehmen Zwischenfällen mit ihm.
Manche Sachen verstauten wir im Keller, andere auf dem Dachboden oder verteilten sie auf andere Räume im Haus. Vieles nahm Clifford mit in seine Werkstatt, vor allem solche, die seine Arbeit betrafen.
Am Montagmorgen gingen wir zur Gemeinde und zur Schule, um mich anzumelden. Damit man mich richtig einstufen konnte, musste ich einen Test machen, der mir einige Schwierigkeiten bereitete. Im letzten Jahr war ich mehr zu Hause als in der Highschool gewesen. An vielen Tagen war ich einfach liegen geblieben und meine Grandma hatte es nicht geschafft, mich zum Aufstehen zu bewegen. Stattdessen hatte sie mir eine Entschuldigung nach der anderen geschrieben. Wenn ich doch einmal am Unterricht teilnahm, war ich nicht aufnahmefähig. Wozu sollte ich noch lernen und mir Mühe geben, wenn ich meine Eltern nicht mehr stolz machen konnte? Am Ende der Woche würde ich Bescheid bekommen, in welche Klasse ich nach den Ferien, die in zwei Wochen beginnen würden, käme. Ab morgen sollte ich erst einmal die zehnte Klasse besuchen, da das mein aktueller Jahrgang war. Ob es so bleiben würde, wusste ich nicht, da der Rektor meiner alten Schule dazu geraten hatte, dass ich das letzte Schuljahr wiederholen sollte. Auch wenn es bedeuten würde, dass ich ein Jahr länger zur Schule gehen müsste, wäre mir eine Wiederholung sehr recht. Schließlich würde ich dann eine Stufe mit Dean besuchen und der war bisher sehr nett zu mir gewesen.
Die nächsten Nachmittage verbrachten Brittany und ich in diversen Kaufhäusern, Textilgeschäften und Baumärkten, um Einrichtungsgegenstände für mein Zimmer zu besorgen. Die Einkäufe verliefen reibungslos. Sie ließ mir komplett freie Hand bei der Auswahl und je mehr Gegenstände ich zusammen bekam, desto mehr freute ich mich auf mein eigenes, neues Reich. Allerdings würde es bis zur Lieferung meiner Möbel sechs Wochen dauern, was einer Zumutung glich, wenn ich an Travis' mögliche Reaktion dachte. Er würde alles andere als begeistert sein.
Und so war es dann auch. Die meiste Zeit der Woche schafften wir es erstaunlich gut, uns aus dem Weg zu gehen, was sicherlich auch daran lag, dass er fast den ganzen Tag nicht zu Hause war. Er spielte im Footballteam und legte stets eine Extratrainingseinheit ein, sodass er erst spät nach Hause kam. Das Abendessen wurde allerdings immer gemeinsam eingenommen, wobei er mich wie in der Schule stets ignorierte. Das fand ich gut, so kam es wenigstens nicht zu unangenehmen Situationen.
Am heutigen Donnerstag war Dean allerdings bei Gemma und Clifford hatte noch in der Werkstatt zu tun, also waren wir nur zu dritt. „Wir waren richtig erfolgreich“, erzählte Brittany fröhlich. „Wir haben schon Laminat, Wandfarben und Vorhänge zusammen. Auch ein Bett, einen Schrank und Schreibtisch haben wir gekauft. Jetzt fehlen nur noch die Lampen und ein paar Dekoartikel.“ Man konnte den Stolz förmlich aus ihrer Stimme heraushören.
Travis' Blick verdüsterte sich bei ihren Aufzählungen immer mehr. „Wer zahlt das eigentlich alles?“, fragte er.
„Das soll nicht deine Sorge sein“, erwiderte Brittany ruhig.
„Ist es aber“, gab er schroff zurück. „Zu Dean und mir wird immer gesagt, dass keine Extra-Wünsche drin sind, und wir bekommen deutlich weniger Taschengeld als unsere Freunde. Und für sie wird erst mal ein komplett neues Zimmer eingerichtet. Lass mich raten: ein riesiger Plasma-TV und ein neuer Computer sind auch dabei?“
„Erstens, nein, ein Plasma-Fernseher ist nicht dabei, und zweitens zahlt Melissa das quasi selbst.“
„Wovon das denn bitte?“, erkundigte er sich verwundert.
„Frank hat in seinem Nachlass dafür gesorgt“, klärte sie Travis auf, „dass Melissas Vormund ein gewisser Betrag zur freien Verfügung steht. Des Weiteren bekommen wir monatlich Zuwendungen für die Verpflegung, Bücher, Kleidung und um Melissa ein Taschengeld zu zahlen. Du brauchst also keine Angst haben, dass sie uns finanziell belastet oder dir irgendetwas entgeht, nur weil sie jetzt hier wohnt“, fügte sie genervt hinzu. „Frank hat ein Fitnessstudio besessen, das inzwischen verkauft wurde, genau wie sein Haus. Aus dem Erlös bekommen wir das Geld und wenn Melissa einundzwanzig ist, darf sie selbst darüber verfügen. Frank wollte nicht, dass sie irgendwem zur Last fällt.“
Ich hoffte, dass dieses Thema jetzt endlich erledigt war, denn ehrlich gesagt, fand ich, dass ihn das gar nichts anging, außerdem schmerzte mich schon allein die Erwähnung meines Vaters. Leider hatte ich meine Rechnung ohne Travis gemacht.
„Ah, ich verstehe, das Prinzesschen ist also mit ‘nem goldenen Löffel im Mund groß geworden“, brummte er. „Das dürfte wohl auch das schlechte Sozialverhalten erklären. Und mir entgeht dadurch, dass sie hier wohnt, durchaus etwas: erholsamer Schlaf nämlich.“
„Dein Sozialverhalten ist aktuell auch nicht gerade vorzeigbar!“ Wo Brittany recht hatte, hatte sie recht. Ich hasste es, wenn er so tat, als wäre ich gar nicht anwesend. Es war mir ein Rätsel, wie er äußerlich so makellos sein konnte, wenn sein Inneres so gemein war. Alle hatten mich so freundlich empfangen, nur er machte ständig Stress.
„Muss am Schlafmangel liegen“, murmelte Travis, während er sich etwas von dem Nudelauflauf in den Mund stopfte. „Wann kommen denn eigentlich die Möbel?“
„Ähm, nun ja …“ Brittany schaute verlegen nach unten. Kuschte sie jetzt etwa vor ihrem Sohn? Wobei ich mir immer noch nicht vorstellen konnte, dass es ihr leibliches Kind war. Nach wie vor hielt ich sie für viel zu jung und ähnlich sahen die beiden sich auch nicht.
„Mom, wann?“, forderte er erneut eine Antwort auf seine Frage.
„In circa sechs Wochen“, gab Brittany endlich zu.
„Na prima!“ Seine Stimme triefte vor Sarkasmus. Mehr sagte er an diesem Abend nicht. Womit wir schon zu zweit waren. Arme Brittany.
Am Freitagnachmittag kam Dean von der Schule nach Hause und ging direkt auf Brittany zu. „Hi Mom! Ich hab einen Brief für Dad dabei.“ Kurz kramte er in seinem Rucksack, um den Umschlag herauszuholen. „Hier, bitte schön.“
„Was hast du angestellt?“, fragte sie argwöhnisch.
Abwehrend hob er die Hände. „Gar nichts. Ehrlich nicht.“
„Und Travis?“, bohrte Brittany weiter.
Dean zuckte mit den Schultern. „Auch nichts, soweit ich weiß.“
„Was ist das dann für ein Schreiben?“
„Keine Ahnung. Warum siehst du nicht einfach nach?“, lautete sein Vorschlag.
„Weil ich dir die Chance zum Beichten geben wollte.“ Sie grinste und zwinkerte ihm zu. Eine echt coole Mom, fand ich. Sie schnitt das Kuvert mit der Küchenschere auf und las den Inhalt aufmerksam durch. „Das sind deine Testergebnisse, Melissa“, informierte sie uns. Hier steht, dass du nach den Ferien in Deans Jahrgang kommst, weil du den Anforderungen der zehnten Klasse noch nicht gerecht geworden bist.“ Ich hatte bereits vermutet und auch ein bisschen gehofft, dass ich wiederholen müsste. Jetzt war es Gewissheit. „In amerikanischer Geschichte hast du besonders starke Defizite, aber die bekommen wir bestimmt in den Griff. Dabei können dich Dean oder Travis sicherlich unterstützen.“
„Wobei kann Travis unterstützen?“, fragte der, als er durch die Tür kam.
„Melissa braucht vielleicht Nachhilfe in amerikanischer Geschichte.“
„Also, wenn du mich fragst, braucht sie nicht nur in dem Unterrichtsfach Unterstützung, sondern professionelle Hilfe!“, dabei ließ er den Finger an seiner Schläfe kreisen, um zu zeigen, dass ich nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. „Aber wenn die Bezahlung stimmt, bin ich dabei.“
Dieser Kerl machte mich fertig und ich kam nicht umhin, mich zu fragen, was sein Problem war. Brittanys Antwort auf seine Aussage war ein genervtes Stöhnen, das in ein brummiges Knurren überging. Passend dazu verdrehte sie die Augen.
Travis wollte gerade die Treppe hochgehen, als Dean ihn aufhielt. „Hey Trav, warte mal. Gemma und ich wollen heute Abend zu Brian, ein paar Filme gucken. Kommst du mit?“
„Du meinst, ob ich euch dahin kutschiere?“
„Ähm ja, so ungefähr“, gab Dean kleinlaut zurück. „Aber natürlich hätte ich meinen Lieblingsbruder gern dabei.“ Er setzte ein Megawattlächeln auf und zog hoffnungsvoll die Augenbrauen nach oben. Unweigerlich fragte ich mich, wie es wohl aussah, wenn Travis lächelte. Das hatte ich in meiner ersten Woche bei den Andersons nämlich noch nicht gesehen.
„Wer wird noch da sein?“, wollte Travis wissen.
„Scott, Ben, Tim, Lucy und Hillary auf jeden Fall. Ich weiß nicht, ob noch jemand kommt“, zählte Dean auf.
„Na gut, meinetwegen“, antwortete Travis und wandte sich dann an Brittany: „Können wir dein Auto haben?“
„Wenn ihr Melissa auch mitnehmt, dann ja.“
„Klar!“ - „Auf gar keinen Fall!“ kam es zeitgleich von den Brüdern.
„Bitte! Es tut ihr bestimmt gut, mal unter Leute zu kommen.“ In Brittanys Stimme lag ein flehender Ton. So langsam ging es mir auf die Nerven, dass hier immer alle über mich redeten, als wäre ich gar nicht anwesend. Natürlich wurde ich auch gar nicht gefragt, ob ich überhaupt mitwollte. Dass sie mein Mitkommen als Bedingung setzte, um ihren Wagen zu bekommen, machte mich bei den Jungs bestimmt auch nicht beliebter. Um unnötige Diskussionen zu vermeiden, machte ich mich dennoch fertig.
Um sieben Uhr am Abend machten wir uns auf den Weg zu diesem Brian. Da Dean unbedingt hinten bei Gemma sitzen wollte, musste ich auf dem Beifahrersitz neben Travis Platz nehmen. Wir waren noch nicht ganz aus der Ausfahrt, da ertönten von der Rückbank schon Schmatzgeräusche. Ein Blick nach hinten bestätigte meine Vermutung, dass Dean und Gemma wild knutschten.
„Sicher, dass ich zu Brian fahren soll? Oder soll ich das Auto lieber irgendwo auf einem Waldweg parken und eine großzügige Runde laufen gehen?“, fragte Travis und ich musste schmunzeln.
Dabei schaute ich möglichst unbeteiligt aus dem Fenster, damit er es nicht sah.
„Fahr zu Brian“, befahl Gemma in einer Atempause von der Rückbank.
Je weiter wir fuhren, desto schöner, größer und wertvoller wurden die Gebäude und Grundstücke. Brians Eltern schienen wohlhabend zu sein, denn wir fuhren eine lange Auffahrt hinauf, an deren Ende es sogar einen Wendekreis gab. Das Haus war riesig und die Veranda wurde von zwei weißen Marmorsäulen umrahmt.
Die Haustür wurde von einem Jungen mit braunen, lockigen Haaren und intensiven grünen Augen geöffnet. Er begrüßte Gemma mit einer Umarmung und die Andersons mit einem Handschlag mit dazugehörigem Rempler an die Schulter. Als er mich entdeckte, zog er mich ungefragt in seine Arme, woraufhin ich mich sofort versteifte. So viel offene Zuneigung war ich nicht gewohnt. Ich kannte ihn doch gar nicht. „Hi, ich bin Brian. Und du?“
„Vergiss es!“, giftete Travis direkt los. „Sie spricht nicht. Das ist Melissa, unsere neue Mitbewohnerin.“
„Hi Melissa, schön dich kennenzulernen.“ Brian, der sich inzwischen von mir gelöst hatte, strahlte mich mit seinen bezahnspangten Zähnen an und ich lächelte zurück.
„Oh, guck mal einer an“, höhnte Travis neben mir. „Sie hat sogar ein Lächeln für dich übrig. Fühl dich geehrt. Ich bin für so eine Reaktion nicht gut genug.“ Mein Blick wanderte wie so häufig, wenn Travis das Wort ergriff, zu Boden. Konnte er nicht einfach seine verdammte Klappe halten? Mir fiel der Umgang mit meinen Mitmenschen schon schwer genug. Musste er mich jetzt auch noch in schlechterem Licht dastehen lassen?
„Siehst du?“
„Ach, jetzt kommt doch erst mal rein. Die anderen sind schon da.“ Brian führte uns in das riesige, luxuriöse Wohnzimmer. Hätte ich nicht gewusst, dass hier eine Familie lebte, hätte ich gedacht, dass hier ein reicher Junggeselle wohnen würde. Alles war in Schwarz, Weiß, Silber und Chrom gehalten und verlief in klaren Linien. Deko oder Familienfotos suchte man vergebens und so wirkte die Einrichtung ziemlich kalt. Das Einzige, was echt gemütlich aussah, waren die auf dem Boden ausgebreiteten Kissen und Sitzsäcke. Da das Zweisitzer-Sofa schon von einem Pärchen belegt war, ließ sich Dean auf dem Sessel nieder und zog Gemma auf seinen Schoß. Ich entschied mich für den blauen Sitzsack in der Nähe der Dreiercouch, auf die sich Travis und Brian fallen gelassen hatten. Eine dritte Person hätte neben ihnen keinen Platz gehabt, so breitbeinig wie die beiden dasaßen.
Zwei Jungs sowie ein Mädchen hatten sich ebenfalls für die Kissenvariante auf dem Boden entschieden. Sie begrüßten mich freundlich, schenkten mir darüber hinaus aber keine weitere Beachtung. Wirklich wohl fühlte ich mich hier nicht. Ich spürte, wie die Anwesenden mich beobachteten, allerdings sprachen sie nicht mit mir.
Brian startete den ersten Film. Noch während des Vorspanns flüsterte er zu Travis: „Die Kleine ist aber süß.“ Ich konnte ihn gut verstehen, da ich zum einen nah bei den beiden saß und er zum anderen schreiflüsterte. Wahrscheinlich hatte ihn jeder hier im Raum gehört, außer Dean und Gemma vielleicht, die waren schon wieder im Knutschland.
„Das ist doch nicht dein Ernst, oder?“, gab Travis leise zurück. „Sie ist ein verdammter, stummer Zwerg.“
Bevor Brian etwas erwidern konnte, klingelte es an der Tür. Er stand auf und kam einen Augenblick später mit einem Jungen und einem Mädchen zurück, das atemberaubend schön aussah. Sie war groß und schlank, hatte aber auch weibliche Kurven. Ihre schwarze Mähne wellte sich über ihren gesamten Rücken. Dazu kamen karamellfarbene Augen, die sie gekonnt mit Make-up in Szene gesetzt hatte. Sie strahlte eine Anmut aus, die den ganzen Raum einnahm. Der attraktive Typ neben ihr musste ihr Bruder sein, überlegte ich, denn sie hatten gewisse Ähnlichkeiten in den Gesichtszügen.
Wo war ich hier eigentlich gelandet? Im Land der Models? Je mehr ich von diesen hübschen Menschen kennenlernte, desto kleiner – wortwörtlich – und minderwertiger kam ich mir vor. Die beiden wirkten wie das exakte Gegenteil zu einem verdammten, stummen Zwerg.