ISBN: 978-3-96415-103-2
1. Auflage 2022
Copyright © 2022 by Wild Books (Imprint des Latos Verlags), Schloßstr. 25a, 39240 Calbe
Wild Books
Dein neues Label für aufregend erotische Lovestories
Covergestaltung: Sarah Richter Art, Cottbus
Bildmaterial: © Anetta/Shotshop.com
Lektorat/Korrektorat: N. Braune / Latos Verlag
Alle Rechte vorbehalten.
www.latos-verlag.de
Liebe/r Leser/in,
vielen Dank, dass Du Dich für mein Buch entschieden hast. Ich wünsche Dir viel Spaß und gute Unterhaltung mit »Secret Society: Nicolaj«. Bevor Du Dich jedoch in die Geschichte stürzt, habe ich noch ein kleines Anliegen.
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Alles Liebe
Deine Melanie Thorn
Addison
»Du darfst nicht aufgeben, Addy. Denn wenn du aufgibst, dann haben sie gewonnen …«
Ich war mir nicht sicher, wie lange es her war, seit ich im Lagerraum des Frachters das letzte Mal mit Hailey gesprochen hatte – Stunden, vielleicht war es auch schon ein ganzer Tag –, aber ich hielt weiterhin an ihren Worten fest. Denn ich wusste, dass Hailey, wo auch immer sie sich im Augenblick befand, ebenfalls nicht aufgeben würde.
Seit diese Mistkerle mit Baseballschlägern und Brechstangen auf Brees Wagen eingeschlagen hatten, um an uns heranzukommen, hatte mich die Angst nicht mehr losgelassen. Sie befand sich ganz dicht unter der Oberfläche, war ständig präsent, sodass sie sich für mich beinahe normal anfühlte, als wäre sie schon immer ein Teil von mir gewesen. Ein eisiger Schauer rann über meinen Körper, als ich daran dachte, in was für einem Desaster unser Mädelsabend, der so ausgelassen und aufregend begonnen hatte, geendet war.
Brees Tod … nein, ihre Exekution hatte etwas in meinem Inneren zerbrochen. Als der Schuss fiel, war das unschuldige Mädchen in mir, das keine Ahnung gehabt hatte, wie abgrundtief bösartig Menschen sein konnten, mit ihr gestorben. Ich wusste, ich würde die Bilder niemals wieder loswerden – Brees leblose Augen, die zur Containerdecke starrten, während sich eine dunkelrote Lache um ihren Kopf herum bildete.
Ausgelöscht. Sergej hatte meine Freundin aus dem Leben ausradiert wie eine unbedeutende Randnotiz. Und dennoch hatte sich da dieser Gedanke in meinem Kopf festgesetzt, dass Bree damit einem möglicherweise noch schlimmeren Schicksal entronnen war. Einem Schicksal, auf das ich mich unwiderruflich zubewegte, als ich mit unsicheren Schritten von der Gangway des Schiffes auf den kalten Steinboden der Anlegestelle stolperte.
Der Griff um meinen Oberarm verstärkte sich und verhinderte, dass ich mit dem Gesicht voran auf den Boden fiel. Mein »Käufer« hielt mich aufrecht und führte mich zielstrebig, wenn auch nicht überhastet, weiter. Seit er mich in Empfang genommen hatte, hatte er nicht ein einziges Wort an mich gerichtet.
Ich erwartete ganz sicher keine ausschweifende Konversation, aber irgendein Kommentar, irgendeine Reaktion – und wenn es nur ein antreibendes »Beeil dich, geh weiter!« war – wäre noch immer besser als dieses erdrückende Schweigen. Denn anhand seiner Reaktionen könnte ich den Mann, der mich gekauft hatte, und die Stimmung, in der er sich befand, vielleicht etwas besser einschätzen.
Kleine Steine bohrten sich in meine nackten Fußsohlen, während er mich über einen Parkplatz führte. Zumindest nahm ich an, dass wir über einen Parkplatz liefen, denn ich hatte noch immer den blickdichten Sack, der mir kurz nach der Auktion übergestülpt worden war, über dem Kopf und konnte lediglich hören, wie in der Nähe eine Autotür zugeschlagen und danach ein Motor gestartet wurde.
Das Klicken einer Zentralverriegelung ertönte und ich wusste, ich musste dringend etwas tun, um meine Situation zumindest ein wenig zu verbessern, bevor ich mir überlegte, wie ich dem Mann an meiner Seite gänzlich entkommen konnte. Hier und jetzt um Hilfe rufen, wäre vollkommen sinnlos und würde wahrscheinlich nur darin enden, dass er mich bewusstlos schlug und im Kofferraum transportierte. Statt also zu schreien, ließ ich mich einfach fallen, sackte mit einem Seufzen, das von dem Knebel in meinem Mund gedämpft wurde, in mich zusammen wie Ballon, dem die Luft ausging, und hoffte, dass er mir meinen vorgetäuschten Schwächeanfall abnahm.
Er fing mich auf, bevor ich auf dem harten Boden aufschlug und mich verletzen konnte, und setzte mich auf die Rückbank seines Wagens. Dann zog er mir den Sack vom Kopf, drehte mein Gesicht in seine Richtung und entfernte vorsichtig den Knebel aus meinem Mund. Dabei kam er mir so nahe, dass mir sein Duft in die Nase stieg. Ein frischer männlich herber Duft nach Meer und Freiheit, nach der ich mich verzweifelt sehnte, unterlegt mit einer leicht würzigen Note. Ein Duft, der das Chaos in meinem Kopf beruhigte und mich beinahe dazu brachte, meine gefakte Ohnmacht aufzugeben, weil ich wissen wollte, was für ein Mann es war, dessen Aftershave einen solchen Effekt auf mich hatte.
Ein Mann, der Frauen auf einer Auktion ersteigerte, um sie als Sexsklaven zu halten, sie zu erniedrigen und zu quälen, bis sie zu willenlosen Puppen geworden waren, sie eventuell sogar zu töten, sobald sie nicht mehr von Nutzen waren, sollte nicht so verdammt gut riechen. Sein Geruch sollte vielmehr seine innere Verdorbenheit widerspiegeln und dem Gestank nach verfaulten Eiern ähneln, mich abstoßen, jedoch ganz sicher nicht anziehen.
Aber ich widerstand der Versuchung, zuckte nicht einmal mit den Lidern, als er mir behutsam die Haare aus dem Gesicht und über meine Wange strich. Es fühlte sich an, als wäre er ernsthaft um mich besorgt, als würde er sich nur widerwillig von mir zurückziehen, aber das bildete ich mir sicherlich nur ein. Viel wahrscheinlicher war, dass mein Hirn mir diese Sicherheit, die mir seine Nähe vermittelte, nur vorgaukelte – eine Art Flucht vor der grausamen Realität, damit mein Verstand nach allem, was geschehen war, nicht vollends auf der Strecke blieb. Waren das bereits die ersten Anzeichen eines Stockholm Syndroms?
Eine Tür fiel ins Schloss, der Wagen rollte los und ich blieb mit geschlossenen Augen und zum Fenster gewandten Kopf reglos auf der Rückbank sitzen. Meine Hände waren noch immer vor meinem Körper gefesselt, doch das machte mir nichts aus, denn ich hatte mit meiner kleinen Showeinlage auf dem Parkplatz schon mehr erreicht, als ich zu hoffen gewagt hatte. Jetzt musste ich ihn nur lange genug in Sicherheit wiegen und auf den richtigen Moment für meine Flucht warten, denn ich ahnte, ich würde – wenn überhaupt – nur eine einzige Chance dazu bekommen.
Ich zählte die Sekunden – eine Minute lang, zwei, fünf … acht … fünfzehn Minuten, erst dann warf ich einen ersten kurzen Blick durch das Fenster. Vorsichtig linste ich unter gesenkten Lidern hervor durch die getönte Scheibe und hoffte, irgendetwas zu erkennen, an dem ich mich orientieren konnte. Damit ich wusste, wo ich mich befand.
Wir hatten den Frachthafen und das geschäftige New York hinter uns gelassen und passierten eine Siedlung, die durch das sanfte Licht der Straßenlaternen etwas Verträumtes an sich hatte. Wuchtige Wohn- und Geschäftshäuser, wie ich sie in New York gewohnt war, die dicht an dicht standen und hoch in den Himmel ragten, waren gepflegten Einfamilienhäusern mit Vorgärten und weißen Lattenzäunen gewichen. Es war mitten in der Nacht, die Straßen in dieser Gegend waren menschenleer und somit standen meine Chancen, jemanden zu finden, dessen Aufmerksamkeit ich auf mich ziehen konnte und der mir half, nahezu bei null. Ich war auf mich allein gestellt und musste es ohne Hilfe schaffen.
Ich überlegte, ob ich mich einfach aus dem Wagen fallen lassen sollte, wenn er etwas langsamer fuhr. Aber bei meinem Glück würde ich mich dabei wahrscheinlich selbst ausknocken, sodass er mich problemlos wieder aufsammeln konnte. Und dann würde er die Kindersicherung aktivieren – wenn er das nicht längst getan hatte –, um genau solche Aktionen von mir zu unterbinden. Mir blieb also nichts anderes übrig, als mich weiter in Geduld zu üben und auf eine bessere Gelegenheit zu warten.
Als der Wagen kurze Zeit später langsamer wurde und schließlich zum Stillstand kam, pochte mein Herz aufgeregt in meiner Brust. Ich betete inständig, dass dies die Chance war, auf die ich gewartet hatte. Aber dafür musste er weiterhin glauben, dass ich noch immer bewusstlos war. Also hielt ich meine Augen geschlossen, atmete mit gleichmäßigen Zügen weiter und konzentrierte mich auf die Geräusche, die er verursachte. Nur wenn ich ihn überrumpelte – was bei meiner zierlichen Statur und einer Größe von gerade einmal ein Meter fünfundsechzig schon schwer genug sein würde – und das Überraschungsmoment für mich nutzte, rückte meine Freiheit in greifbare Nähe.
Er öffnete die Fahrertür, dann hörte ich das sanfte Knirschen des Leders, mit dem die Sitze bespannt waren, und die Tür klickte wieder ins Schloss. Angespannt lauschte ich auf die Geräusche außerhalb des Wagens, zählte in Gedanken bis zehn und öffnete mit wild pochendem Herzen langsam die Augen.
Er stand auf einem gepflegt wirkenden Rasen, der zu einer spärlich beleuchteten Parkanlage gehörte, in der sich mitten in der Nacht, außer uns, keine Menschenseele befand. Mit einem undefinierbaren Ausdruck in den Augen starrte er mich an und ich zuckte leise keuchend von der Tür zurück. Bis mir klar wurde, dass er mich durch die getönte Scheibe gar nicht sehen konnte.
Ich bewegte mich wieder näher an das Fenster heran und betrachtete ihn eingehend – seine kantigen Gesichtszüge und das starke Kinn, das, wie seine Wangen, von einem Bartschatten überzogen war, die dunklen Haare, die leicht verwuschelt waren und seinen sexy Out-of-Bed-Look perfektionierten. Und dann dieser Körper …
Es war vollkommen egal, ob er in einen dreiteiligen Anzug gehüllt war, nicht nur die Künstlerin in mir wusste, dass unter dem edlen Stoff männliche Perfektion verborgen war. Ein Mann wie er hatte es ganz sicher nicht nötig, sich eine Frau auf dem Sklavenmarkt zu kaufen. Er bräuchte nur mit den Fingern schnipsen und Frauen, die deutlich hübscher waren als ich, würden sich um ihn scharen wie Bienen um ihre Königin. Nur dass in diesem Fall die Königin ein König war.
Gottverdammt … Ich schloss die Augen und schüttelte fassungslos den Kopf. Die Geschehnisse der letzten Stunden und die Angst, die ich ausgestanden hatte, mussten meinen Verstand durchlöchert haben, dass ich einen solchen Unsinn zusammenfantasierte. Fakt war, dieser Kerl, so gut er auch aussah und so himmlisch er auch duftete, hatte mich auf einer Auktion ersteigert. Und trotzdem schmachtete ich ihn an wie ein verliebtes Mondkalb.
»Wo zum Teufel bist du, Luca?« Überrascht sah ich ihn wieder an. Das war das erste Mal, dass ich seine Stimme hörte, wenn auch nur leise, weil der Wagen eine hervorragende Schallisolierung besaß. Sein russischer Akzent war zwar bei Weitem nicht so stark ausgeprägt wie Sergejs, aber er war trotzdem vorhanden. Ein Zittern durchlief meinen Körper, ehe sich eine unerklärliche Enttäuschung in mir breit machte. Er war einer von denen.
Es waren Russen gewesen, die mich aus Brees Wagen gezerrt hatten, die mich erst auf der Untersuchungsliege festgehalten und dann darauf festgebunden hatten. Und es war ein grobschlächtiger Russe mit schiefen Zähnen gewesen, dem es ein perverses Vergnügen bereitet hatte, mich hemmungslos zu betatschen und mir in den Hintern zu kneifen, während ich vor Angst schlotternd und brennend vor Scham vollkommen nackt auf der Auktionsbühne gestanden hatte. Es waren die ganze Zeit über Russen gewesen, die mich in Angst und Schrecken versetzt hatten, die mich gedemütigt, verletzt und meine Würde mit Füßen getreten hatten.
Und jetzt hatte mich auch noch einer von ihnen gekauft, um wer weiß was mit mir anzustellen. Mir zog sich beim Gedanken daran der Magen zusammen und ich atmete mit tiefen Atemzügen gegen die plötzliche Übelkeit an.
Reiß dich zusammen, verdammt noch mal!, wies ich mich in Gedanken selbst zurecht. Dich zu übergeben, dafür hast du später noch genug Zeit. Jetzt musst du dich darauf konzentrieren, dich aus dieser Situation zu befreien.
»Was soll das heißen, du warst beschäftigt?« Er verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf, als wäre er von seinem Gesprächspartner genervt. Dann fing er an, in etwas Entfernung neben dem Wagen auf und ab zu gehen. »Eines deiner Mädchen flachzulegen, kann nicht wichtiger sein, als dich mit mir zu treffen und das Paket zu übernehmen.« Paket? Meinte er damit etwa mich? Wenn ja, wohin sollte ich gebracht werden? In ein Bordell? War dieser Luca ein Zuhälter? »Ich möchte einmal den Tag erleben, an dem du exakt das machst, was ich von dir erwarte. Ist das wirklich zu viel verlangt? … Wann bist du hier? … Ochen' khorosho, sehr gut. Und jetzt schubs Miffy, Tiffy, Candy, oder wie auch immer die Schlampe des Tages heißt, von dir runter, pack deinen Schwanz ein und gib Gas.« Er lachte. »Jaja, du mich auch, mudak.«
Miffy, Tiffy, Candy? Diese Namen klangen dermaßen klischeehaft billig, dass dieser Luca tatsächlich nur ein Zuhälter sein konnte. Womit wohl auch feststand, dass ich als Frischfleisch für die Gäste eines Bordells herhalten sollte.
»Du hattest recht, Bree«, wisperte ich mit Tränen in den Augen. »Für diese Kerle sind wir alle nur Ware, die sie an den Höchstbietenden verkaufen, damit irgendwelche Drecksäcke ihre kranken Fantasien an uns ausleben können.«
Und einer dieser Drecksäcke befand sich nur ein Stück weit von mir entfernt. Ich richtete mich im Sitz etwas gerader auf und bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick, von dem ich mir wünschte, ich könnte ihn damit zu einem Haufen Asche verbrennen. Er konnte mich mit seinem guten Aussehen und dem himmlischen Duft nicht länger verwirren, nicht noch einmal. Denn er hatte mir mit seinen unmissverständlichen Worten einen Blick, auch wenn der noch so kurz gewesen war, auf das Scheusal gewährt, das in ihm steckte und das er unter einem eleganten Maßanzug vor aller Welt verbarg.
Er beendete das Telefonat, steckte das Handy weg und wandte sich der Tür zu, hinter der ich mich befand.
O verdammt! Mein Puls schoss in die Höhe, dass ich ihn als hektisches Pochen in meinen Ohren hörte, und in meinem Kopf brach panisches Chaos aus. Ich musste hier weg. Egal wie!
Die Tür öffnete sich mit einem leisen Klicken und ich konzentrierte mich auf dieses »Egal wie!«. Denn manchmal war es besser, ohne Plan zu agieren, dann war das Überraschungsmoment um ein Vielfaches größer.
Er zog die Tür vollständig auf, dass die frische Nachtluft ins Innere des Wagens drang und über meine nackten Beine strich, die nicht von dem schlabbrigen T-Shirt verdeckt wurden, das mir nach der Auktion übergezogen worden war. Dann trat er näher an den Wagen heran und ich drehte mich blitzschnell zur Seite. Ich stieß meine gefesselten Arme nach vorn und rammte ihm meine geballten Fäuste mit einem wütenden Aufschrei in den Unterleib.
»Fuck!« Vornübergebeugt und mit einer Hand im Schritt stolperte er rückwärts, während er die andere in meine Richtung ausstreckte. In seinen grünen Augen standen Schmerz und Überraschung, aber kein sprühender Zorn, mit dem ich eigentlich gerechnet hatte, und mein Gewissen meldete sich. Denn normalerweise war ich niemand, der Menschen absichtlich Schmerzen zufügte oder sie auch nur schlecht behandelte. Das lag einfach nicht in meiner Natur. Vielleicht war das der Grund, weswegen mein Vater der Meinung war, ich wäre verweichlicht und hätte nicht den Mut, die Ambitionen und den Killerinstinkt, der ihn auf der Karriereleiter so weit nach oben gebracht hatte. Kein Wunder, dass ich in seinen Augen eine herbe Enttäuschung war.
Die Wut, die ich im Blick meines Käufers – ich würde ihn niemals Besitzer nennen – vermisst hatte, machte sich stattdessen wie ein loderndes Feuer in meinem Inneren breit. Sie war ungewohnt, aber ich hieß sie dennoch willkommen und stieß seine ausgestreckte Hand beiseite. Dann sprang ich aus dem Wagen und sprintete quer über den Rasen und auf ein kleines Wäldchen zu. Die Büsche und Bäume würden mir Schutz bieten, zumindest genug, dass ich meinen Vorsprung ausbauen und mir die Flucht tatsächlich gelingen konnte. Nur musste ich sie erst einmal erreichen.
Im Stillen verfluchte ich die Fessel um meine Handgelenke. Ich hätte nicht vermutet, dass gefesselte Hände einen beim Rennen so sehr einschränken könnten. Vermutlich konnte ich froh sein, dass sie sie vor meinem Körper und nicht hinter meinem Rücken zusammengebunden hatten, denn dann hätte der Kerl mich sicherlich längst eingeholt.
»Bleib stehen, verdammt noch mal!«
Auf keinen Fall würde ich das tun. Nicht, solange ich nicht ausreichend Abstand zu ihm geschaffen hatte und mich in Sicherheit befand.
Das dumpfe Geräusch seiner schnellen Schritte hinter mir trieb mich an. Ich rannte eine kleine Anhöhe hinauf, geriet auf dem feuchten Gras ins Rutschen und fiel mit einem erstickten Schrei auf die Knie. Eilig rappelte ich mich wieder auf und rannte mit hämmerndem Herzschlag weiter.
Nur noch ein paar Meter, dann hätte ich die Baumgrenze erreicht. Nur noch ein paar Meter, dann würde ich …
Ein Arm schlang sich von hinten um meinen Körper und hob mich hoch, sodass meine Beine nutzlos in der Luft strampelten. Ich schlug mit meinen gefesselten Händen auf den Arm ein, der mich festhielt, und schrie aus vollem Hals.
»Halt still«, hörte ich ihn dicht an meinem Ohr. »Ich tue dir nichts.«
Ha, Lügner!
Ich wand mich wie eine Katze, als sein Griff um meine Mitte fester wurde, trat nach hinten aus und riss uns beide damit von den Füßen. Aber dieser Mistkerl ließ mich trotzdem nicht los, stattdessen rollten wir beide die kleine Anhöhe wieder hinunter.
Keine Ahnung, wie er es geschafft hatte, doch als wir in einer Senke liegen blieben, hatte er mich mit beiden Armen umschlungen. Eine seiner Hände lag an meiner Wange und presste meinen Kopf gegen seine Brust, sodass ich seinen starken Herzschlag hören und spüren konnte. Als hätte er versucht, mein Gesicht zu schützen, während wir den Hügel hinuntergerollt waren. Aber warum sollte er das tun?
Damit die Ware, die er Luca übergeben wollte, nicht beschädigt wurde, beantwortete ich meine Frage selbst, als er mich auf den Rücken drehte.
Er kniete sich über mich und klemmte meine Beine fest. Wenn er glaubte, mich so einfach unter Kontrolle zu bekommen, dann hatte er sich schwer getäuscht. Wüst schimpfend, womit ich Bree garantiert stolz gemacht hätte, entriss ich ihm meine Arme und schlug mit geballten Fäusten auf ihn ein.
»Lass. Mich. Los. Du. Dreckiger. Bastard!«
»Blyad', beruhige dich endlich!«, stieß er hervor, als einer meiner Schläge sein Kinn streifte. Es war mir egal, dass der Kabelbinder sich bei jedem meiner Hiebe schmerzhaft in meine Haut drückte. Ich zielte weiterhin wild auf jede Stelle seines Körpers, die ungeschützt war und an die ich herankam – Brust, Schulter, Oberarm, noch mal Brust, Bauch und … bingo!
Sein Gesicht verzog sich zu einer schmerzverzerrten Maske, dann beugte er sich mit einem Stöhnen vornüber, klemmte meine Arme zwischen unseren Körpern ein und machte mich damit schließlich bewegungsunfähig. Er presste seine Stirn auf den Boden neben meinem Kopf und rang keuchend nach Luft, dass ich seinen warmen Atem an meinem Hals spürte.
»Gottverdammt, Addison, zweimal hintereinander? Ernsthaft? Hast du vor, mich umzubringen?«, stieß er angestrengt hervor.
Ich wollte ihm ein gehässiges Ja entgegenschleudern, als mir bewusst wurde, dass er mich mit meinem Namen angesprochen hatte. Jegliche Spannung wich aus meinem Körper. Dass er meinen Namen kannte, konnte eigentlich nur eines bedeuten …
»Oder willst du einfach nur verhindern, dass ich mich jemals fortpflanze?« Ächzend richtete er seinen Oberkörper wieder auf und umspannte meine Handgelenke mit einer Hand, als befürchtete er, ich könnte ihn erneut attackieren. Die Genugtuung, die ich darüber verspürt hatte, dass ich ihn dort erwischt hatte, wo es richtig weh tat, wandelte sich in grenzenlose Scham, die mein Gesicht brennen ließ. Trotzdem entschlüpfte mir ein Kichern.
Vielleicht war ich aber auch schlichtweg verrückt geworden, weil die Situation meinen Verstand überforderte. Und wenn ich es unter diesem Aspekt betrachtete, erschien meine Reaktion wiederum ziemlich normal.
»Du findest das witzig, kleine Maus?« Seine dunklen Augenbrauen hoben sich und er starrte irritiert auf mich herab, als könnte er sich mein Verhalten nicht erklären. »Dir ist schon bewusst, dass du dich in der unterlegenen Position befindest und mir hilflos ausgeliefert bist?«
»Offensichtlich bin ich nicht so hilflos, wie du denkst. Schließlich habe ich dich gleich zweimal an deiner empfindlichsten Stelle getroffen. Und ich könnte wetten, darunter leidet nicht nur dein deformiertes … Ding, sondern auch dein aufgeblasenes Ego.«
O – mein – Gott! Das hatte ich nicht wirklich gesagt. Ich war niemals aggressiv, niemals gehässig oder gemein, sondern verhielt mich unauffällig und ordnete mich unter. Ich hielt mich – normalerweise – immer im Hintergrund und an die Regeln, wie es sich für eine brave Senatorentochter gehörte.
Es kam mir vor, als hätte diese eine Nacht noch viel mehr verändert. Als würden die alten Regeln nicht mehr gelten. Das böse Ich, von dem ich gedacht hatte, dass ich es nicht besaß, drängte sich mit einem Mal stärker in den Vordergrund. Und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte.
»Mein deformiertes Ding? Aufgeblasenes Ego?« Ungläubig schüttelte er den Kopf und lachte. »Das über dich erstellte Profil weist eindeutig Fehler auf, malen'kaya mysh'. Von wegen harmlos, zurückhaltend und schüchtern. Du bist stachlig wie ein Igel.«
Fehlerhaftes Profil? Was für ein Profil? Und außerdem … »Wer bist du?«
Ich betrachtete ihn eingehend, war mir jedoch absolut sicher, dass ich ihm nie zuvor begegnet war. Aber das musste nichts heißen, er konnte dennoch für meinen Vater arbeiten.
»Mein Name ist Nicolaj.« Er stand auf und zog mich mit sich hoch. Dann schlüpfte er aus seiner Jacke, legte sie mir um die Schultern und ein berauschender Mix aus seiner Körperwärme und seines verführerischen Dufts hüllte mich ein. »Und ich stehe nicht auf der Gehaltsliste deines Vaters, falls du das glauben solltest.«
»Tatsächlich nicht?« Ich runzelte verwirrt die Stirn. »Warum hast du mich dann auf der Auktion gekauft?«
»Um Ethan Frost einen Gefallen zu erweisen.«
Meine Rettung war nur ein Gefallen, den er jedoch nicht mir, sondern einem Mann erwiesen hatte, der so einflussreich war wie mein Vater. Kein Wunder, dass seine Erklärung sich wie eine Zurückweisung anfühlte, denn es war bei der Rettung nicht wirklich um mich gegangen. Es ging niemals um mich. Warum hörte ich also nicht endlich auf, darauf zu hoffen, dass es jemals anders sein könnte?
»Ethan hat mich darum gebeten, Hailey, Bree und dich zurückzuholen. Nur wäre es auffällig gewesen, wenn ich euch alle drei auf der Auktion gekauft hätte, also …«
»… hast du nur mich gekauft, während zwei andere Männer losgeschickt wurden, um Hailey und Bree zu kaufen.« Er nickte bestätigend und mir stiegen Tränen in die Augen. Vor Erleichterung, weil ich wusste, dass Hailey in Sicherheit war, und vor unendlicher Trauer, weil Brees Tod jetzt umso sinnloser erschien. Sie hätte genauso gerettet werden können, wenn ich nicht diese dämliche Idee gehabt hätte, dass es einen Versuch wert war, unsere Entführer mit dem Geld unserer Familien zu ködern und mit ihnen zu verhandeln.
Egal, ob Hailey eine andere Meinung vertrat, es war meine Schuld, dass Bree tot war. Ich kannte sie lange genug, dass ich hätte wissen müssen, dass ihr Temperament mit ihr durchgehen und sie sich damit in Gefahr bringen würde. Ich war eine miserable Freundin, die diese Bezeichnung nicht verdient hatte.
Keuchend rang ich nach Luft. Himmel, ich hatte keine Ahnung gehabt, dass Schuldgefühle so verdammt schwer wogen. Sie drückten mich nieder und beraubten mich jeglicher Kraft, dass es sich anfühlte, als würde mich ein Riesengebirge ganz langsam unter sich zerquetschen, und ich konnte nicht entkommen.
»Hey …« Nicolaj legte eine Hand an mein Gesicht. Ich glaubte, Sorge in seinem Blick zu erkennen. Aber die bildete ich mir sicherlich nur ein, denn darin war ich echt gut – mir selbst etwas vorzumachen. Er wischte mit dem Daumen eine Träne von meiner Wange und lächelte mich aufmunternd an. Eine nette Geste, mit der er mich aufbauen und mir Mut machen wollte, nur würde sie nicht die Wirkung erzielen, auf die er hoffte. »Es ist vorbei. Glaub mir, es wird alles wieder gut. Im Augenblick fühlt es sich für dich vielleicht nicht danach an, aber mit der Zeit werden die Erinnerungen an das, was passiert ist, dir keine Angst mehr einjagen. Die Erinnerungen werden verblassen, denn das tun sie immer.«
»Nein, das werden sie nicht.« Ich sah zu dem schwarzen SUV, der hinter der Limousine parkte. Ein Mann im Anzug, bei dem es sich nur um Luca handeln konnte, mit dem Nicolaj telefoniert hatte, stieg aus. Ich beobachtete, wie er über den Rasen lief und mit einer Decke in der Hand auf uns zukam. Und mit jedem seiner Schritte nahm die Taubheit in meinem Inneren zu, bis sie den kleinsten Winkel meines Seins auszufüllen schien. »Nichts wird wieder gut, denn Bree ist tot. Nichts kann das jemals ändern. Und deswegen wird auch nichts jemals wieder so sein, wie es war.«