EIN KRIMI AUS SÜDTIROL
Mit freundlicher Unterstützung der Abteilung Deutsche Kultur in der Südtiroler Landesregierung
© Edition Raetia, Bozen 2022
1. Auflage
Grafisches Konzept und Druckvorstufe: Typoplus, Frangart
Umschlaggrafik: Philipp Putzer, Farbfabrik
Umschlagfoto: Manfred Kostner, Alamy
Lektorat: Verena Zankl
Korrektorat: Katharina Preindl
ISBN: 978-88-7283-820-4
ISBN E-Book: 978-88-7283-824-2
Unser Gesamtprogramm finden Sie unter www.raetia.com.
Bei Fragen und Anregungen wenden Sie sich bitte an info@raetia.com.
TEIL 1
Anne Marschall
Marlene Pittscheider
Andreas Schmalzl
Filippo Magnabosco
Anne Marschall
Marlene Pittscheider
Filippo Magnabosco
Andreas Schmalzl
Filippo Magnabosco
Marlene Pittscheider
Andreas Schmalzl
Filippo Magnabosco
Anne Marschall
Filippo Magnabosco
Anne Marschall
Andreas Schmalzl
Filippo Magnabosco
TEIL 2
Evi Kranebitter
Filippo Magnabosco
Anne Marschall
Andreas Schmalzl
Carmela Pasqualina
Anne Marschall
Filippo Magnabosco
Marlene Pittscheider
Carmela Pasqualina
Anne Marschall
Filippo Magnabosco
TEIL 3
Anne Marschall
Filippo Magnabosco
Anne Marschall
Filippo Magnabosco
Andreas Schmalzl
Filippo Magnabosco
Pater Antonius
Andreas Schmalzl
Marlene Pittscheider
Filippo Magnabosco
TEIL 4
Maria Gasser
Filippo Magnabosco
Maria Gasser
Carmela Pasqualina
Filippo Magnabosco
Filippo Magnabosco
Drei Tage später
Simone Dark
Anne Marschall brauchte kein Brot und auch keine süßen Krapfen, sie brauchte einfach nur Platz.
So schnell sie nur konnte, drängte sie sich durch Hunderte von Touristen und Einheimischen, die den jährlichen Brotmarkt in Brixen besuchten und sich durch die Stände naschten. Es nieselte ein wenig, der Oktober war kühler und nasser als in den Jahren zuvor. Hinter ihr begannen vier Herren in blauen Schürzen mit der Schaudrescherei, im Takt schlugen sie mit ihren Dreschflegeln Weizenkörner aus den Halmen. Tock, tock, tock, tock. Und noch einmal tock, tock, tock, tock. Holz flog auf Holz, Weizenkörner sprangen davon, Kinder staunten und Erwachsene hielten ihre Mobiltelefone auf die wackeren Müller, die mit verbissenen Mienen die Spreu vom Weizen trennten. Tock, tock, tock, tock.
Anne nahm kurz ihre große, dunkle Brille ab, um sie mit einem Taschentuch trocken zu wischen. Ein Kind wurde von der Mutter gerufen, es lief rückwärts, ohne den Blick von den dreschenden Männern zu nehmen, und stieß an Annes Beine. Sie blieb abrupt stehen, das Kind drehte sich um und starrte sie an. Anne erkannte den Schrecken im Gesicht des Mädchens und versuchte, es mit einem Lächeln zu beruhigen. Das Mädchen sah sie noch einen Moment lang entgeistert an und wandte sich dann ab, um zur Mutter zu rennen. Aus dem Augenwinkel sah Anne, dass das Kind seiner Mutter etwas ins Ohr flüsterte und beide sich noch einmal zu ihr umdrehten.
Anne kannte diese neugierigen, abschätzigen, manchmal auch mitleidvollen Blicke nur zu gut, diese Blicke, die alte Wunden aufrissen und sie nie heilen lassen würden. Sie wusste genau, was das Mädchen seiner Mutter ins Ohr gesagt hatte: „Mama, Mama, da war eine Frau, die hat nur ein Auge. Ja, mit dem einen hat sie mich angeschaut und das andere hat sie dabei zugelassen. Schau, genau so“, und dann hatte das Mädchen wahrscheinlich versucht, das linke Auge zu schließen und das rechte offen zu lassen, genau wie sie. Mit dem einzigen Unterschied, dass Anne ihr linkes Auge nicht öffnen konnte, mit dem rechten aber viel mehr als andere Menschen sah.
Anne ging weiter, das klopfende Dreschgeräusch wurde leiser. Der Duft von frisch gebackenem Brot mit Speck, süßen Strauben mit Preiselbeeren und Nieselregen stieg ihr in die Nase. Sie schlüpfte durch die hölzernen Buden und bahnte sich den Weg zum Kreuzgang, lief hektisch hinein und blieb schwer atmend stehen. Zu viele Menschen an engen Orten hatten Anne schon immer in Panik versetzt. Vielleicht hatte sie sich gerade deshalb für die Schriftstellerei entschieden: In ihren Romanen war sie ihr eigener Herr, konnte über das Schicksal aller Darsteller mit freier Hand entscheiden und den echten Menschen, denen sie nicht begegnen wollte, den Rücken kehren. Natürlich musste sie dann und wann das Haus verlassen, sich mit ihrem Oswald-von-Wolkenstein-Gesicht ins Freie wagen und den argwöhnischen Blicken der Mitbürger aussetzen, doch dies blieb eine Ausnahme. Wurden Lesungen veranstaltet, trug Anne stets einen bunten, breitkrempigen Hut, der von ihrem Makel ablenkte. Während Anne las, störte ihr einäugiger Blick niemanden. Den bemerkten die Menschen nur, wenn Anne mitten unter ihnen war.
Anne blieb vor einem Fresko mitten im Kreuzgang stehen, das Adam und Eva unter dem Lasterbaum zeigte. Eva hielt einen Apfel in der Hand, schützte ihre Scham mit einem Feigenblatt und sah abwesend und entzückt zur Seite. Neben ihr Adam mit langem, blondem Haar, der furchterfüllt die sechs Teufel anstarrte, die sich um sie geschart hatten. Sieben lateinische Inschriften über Laster und Tugenden hingen geordnet über den grausigen Gestalten. Ihre Blicke erinnerten Anne immer an die Menschen, die ihre Jugend in ein Martyrium verwandelt hatten: Kinder, die mit Annes Andersartigkeit nicht zurechtkamen und sie wie eine Aussätzige behandelten. Die sieben Teufel hielten Rechen und Speere in der Hand, schmiedeeisern und schneidend wie die geflüsterten Worte des kleinen Mädchens auf dem Brotmarkt und die verletzende Häme, mit der man Anne schon immer bedacht hatte.
Sie drehte sich um und betrachtete ein weiteres Fresko: das Achatiusmartyrium. Sieben nackte Leiber, aufgespießt auf kahlen, weißen Spießen, vielleicht Bäumen. Ihre Blicke waren gebrochen, leer, tot. Sie bluteten heftig aus ihren Oberkörpern, ihren Mündern, an den Beinen und am Rücken. Sechs Teufel links von Anne, sieben aufgespießte Gestalten rechts von ihr. Das rechte Bild versöhnte sie.
Marlene Pittscheider griff noch einmal nach ihrem Telefon und drückte auf Annes Namen. Sie wandte sich ab, sah kurz nach oben und sprach wieder auf die Mailbox.
„Es tut mir leid, ich erreiche Anne nicht“, entschuldigte sie sich bei Andreas Schmalzl.
Der Kulturredakteur der Eisacktaler Presse blickte kurz auf die Uhr seines Monitors und gab einige Sätze ein. „Und wenn Sie als ihre Assistentin mir etwas von dem neuen Roman erzählen? Sie kennen ihn doch sicher mindestens genauso gut wie Frau Marschall.“
Marlene schüttelte den Kopf. „Ich bin für ihre Termine und ihr Wohlbefinden zuständig. Ich halte ihr den Rücken frei, damit sie schreiben kann. Über ihre Romane kann ich nicht …“
Marlene brach den Satz ab und ging ans Telefon. Anne rief außer Atem in den Hörer, dass sie fast in der Redaktion sei, und entschuldigte sich mehrmals.
Dann hörte man auch schon den Türsummer und die Stimme der jungen Sekretärin. Einige Sekunden später stand Anne in Schmalzls Büro und legte ihren Regenmantel über einen Stuhl.
„Es ist so viel los in der Stadt, furchtbar, ganz furchtbar ist das. Da ist kein Durchkommen, kein Platz für den eignen Leib, das Volk ist außer sich, und das weshalb? Nur ein paar Kanten des trocknen Brotes wegen!“
Marlene schmunzelte belustigt über die mittelalterliche Ausdrucksweise, die Anne immer wieder an den Tag legte.
„Ist doch kein Problem, Frau Marschall. Darf ich Ihnen beiden vielleicht einen Kaffee anbieten?“, fragte Schmalzl und rief der Sekretärin zu, sie solle drei Tassen, eine Kanne Kaffee und Milch und Zucker bringen.
„Oh ja, eine herrliche Idee, werter Herr Schmalzl“, säuselte Anne und lächelte den Kulturredakteur an. „Das schwarze Gebräu aus Arabien hat noch jeden ach so trüben Tag gerettet.“
„Ich glaube, Herr Schmalzl würde lieber sein Interview machen, wir sind schließlich schon spät dran.“
„Wie wahr, wie wahr, Liebes. An die Arbeit, ihr müden Geister, wir wollen doch nicht des Zeitungsmannes wertvolle Zeit verschwenden“, antwortete Anne und nippte mit entzückter Miene an ihrem gezuckerten, hellbraunen Getränk.
Marlene trank leise ihren Kaffee, während Anne bereitwillig die Fragen des Redakteurs beantwortete, ihm einen kleinen Vorgeschmack auf den neuen Roman schenkte und erklärte, wie sie sich auf Lesungen vorbereitete. Marlene kannte die Antworten auswendig, die Anne gab. Und doch hörte sie es immer wieder gerne, wie liebevoll ihre Vorgesetzte und Freundin über den eigenen Beruf und ihre Berufung sprach. Wenn Anne von ihrer Schreibarbeit erzählte, war es, als würde ihr verbittertes Herz aufblühen, sich vollständig entfalten und all die schlimmen Dinge aus der Vergangenheit und Gegenwart, die ihr widerfuhren, für einen Moment vergessen machen. Es war ein Labsal, Anne in ihrem Element zu erleben und sie glücklich zu sehen.
Manchmal fragte Marlene sich, wie ihr Leben ohne Anne Marschall verlaufen wäre. Sie kannten sich nun seit zehn Jahren, seit jenem Unfall auf der Autobahn, die vom Brenner nach Süden führte. Marlene war an einem Winterabend nach dem letzten Streit mit ihrem damaligen Freund von Innsbruck nach Florenz unterwegs gewesen, als es heftig zu schneien begann. Sie weinte, war abgelenkt, ihr Wagen geriet ins Schleudern und krachte in das Fahrzeug vor ihr. Zwar war sie langsam gefahren, doch der Zusammenprall war so heftig, dass Marlene einen Schock erlitt und nicht mehr reagierte. Die Frau aus dem zweiten Unfallwagen fuhr rechts ran, stellte das Warndreieck auf und setzte sich zu der blassen, am ganzen Leib zitternden Marlene ins Auto. Dann alarmierte sie die Polizei.
Die Autoheizung wollte nach dem Aufprall nicht mehr funktionieren, da schmiegte sich die Frau wärmend an sie und legte den eigenen Mantel über Marlenes zitternden Körper. Sie sprach die ganze Zeit leise mit ihr, ohne aufzuhören, und flüsterte ihr beruhigende Worte zu. Als ihr nichts mehr einfiel, summte sie leise Melodien. Marlene bekam all dies nur im geistigen Nebel mit. Dann kamen endlich die Polizei und der Krankenwagen und fuhren die beiden Frauen ins Brixner Krankenhaus.
Als Marlene am nächsten Morgen aus ihrer Schockstarre erwachte, saß neben ihr die einäugige Anne Marschall, die von dem Unfall keine Verletzungen davongetragen hatte. Anne legte leise ihr Buch beiseite und kam näher an Marlenes Bett.
„Ich bin dein Schutzengel. Wir hatten einen Unfall, dein Auto ist leider schrottreif und du hattest einen schweren Schock.“
„Sie haben gestern Abend im Auto bei mir gesessen und mit mir gesprochen“, erinnerte Marlene sich vage.
„Ja. Sicher habe ich wirres Zeug von mir gegeben, aber das ist unwichtig. Mein Name ist Anne. Du bist Marlene, richtig?“
Marlene nickte und schlief wenige Sekunden später wieder ein.
Am nächsten Tag verließ sie gemeinsam mit ihrer Lebensretterin das Krankenhaus. Als sie wieder gesund war, nahm sie Annes Angebot, für sie zu arbeiten, gerne an.
Nachdem er Anne Marschall und ihre Assistentin bis zur Tür begleitet hatte, setzte sich Schmalzl wieder an seinen Schreibtisch. Er massierte kurz seinen Nasenrücken, dachte an die restlichen Tagestermine und beschloss kurzerhand, sie zu verschieben. Der Artikel über die Schriftstellerin durfte nicht warten.
Er rief seine Sekretärin zu sich und bat sie, sich eine Ausrede für sein Fehlen bei der Pressekonferenz einfallen zu lassen. Sie nickte kurz, biss wie immer in ihren Kugelschreiber und verließ sein Büro.
Schmalzl mochte Anne Marschall, trotz ihrer Eigenarten und ihres ungewöhnlichen Aussehens. Oder vielleicht mochte er sie gerade, weil sie nicht in die Menge passte? Weil sie so ein Sonderling war, mit ihrem geschlossenen Auge und ihrer seltsamen Ausdrucksweise, die sie nicht nur in ihren Büchern, sondern manchmal auch im Alltag verwendete?
Sprach man dann mit Anne Marschall, hatte man das Gefühl, sich in einer anderen Epoche zu befinden, irgendwo im graubraunen Mittelalter, bei Minnesängern und stinkenden Bauern, bei verfolgten Hexen und wollüstigen Wanderhuren, in einem Königspalast, im Wald bei den Gesetzlosen. Sie hatte die Gabe, ihr Publikum auf eine Reise in düstere Zeiten mitzunehmen. Es gelang ihr, die Menschen kurz vergessen zu lassen, dass sie eigentlich im 21. Jahrhundert lebten.
Plötzlich merkte er wieder, wie sehr ihn sein Büro anödete. Der aktenüberfüllte Schreibtisch, der staubige PC, all die Krümel zwischen den Buchstaben seiner Tastatur, der Fleck, den seine Kaffeetasse auf der Sonntagsausgabe der letzten Woche hinterlassen hatte. Das Gesicht einer südtirolweit bekannten Politikerin grinste ihn durch einen braunen, welligen Kreis an. Er nahm die Zeitung und warf sie in den Papierkorb.
Politik war nicht sein Ding, genauso wenig wie Sport, darum durften sich gerne die eifrigen Kollegen kümmern. Er, Andreas Schmalzl, widmete sich ausschließlich der Kultur seiner Heimatstadt: Bücher, Kino und klassische Musik waren sein Steckenpferd, dann und wann auch ein wenig Malerei und die alten, teilweise verborgenen Schätze Brixens. Mit diesen Themen fühlte er sich vollkommen ausgelastet und zufrieden. Außerdem vermittelte die Kultur ihm Beständigkeit. Sie blieb. Sie wechselte nicht wie die Gesetze und Regierungen. Und sie wurde nicht gehandelt wie Radfahrgrößen und junge Fußballspieler. Kultur blieb, ob alt oder neu, sie bedeutete Sicherheit.
*
Als Schmalzl spät an diesem Abend nach Hause kam, lag seine Katze im Halbschlaf auf dem Sofa und bedeckte mit ihrem buschigen Schwanz seine zweite heimliche Leidenschaft. Vorsichtig streichelte er das Tier, das sofort zu schnurren begann, ohne die Augen zu öffnen. Dann zog er die CD unter seinem Schweif hervor und putzte sie sorgfältig mit dem Hemdsärmel ab. Lächelnd legte er sie in den Player, den er eigens für diese CD gekauft hatte. Sofort ertönten poppige Violintöne: eine Coverversion von Britney Spears’ … Baby One More Time.
Niemals hatte Schmalzl einer Menschenseele von dieser CD erzählt. Als Spears in den Neunzigerjahren aufgekommen war, hatte er sich trotz des Altersunterschiedes heftig in den amerikanischen Popstar verliebt. Sie war so süß gewesen in ihrer Schulmädchenuniform. Mit ihren blonden Haaren und den dunklen Rehaugen hatte sie es Schmalzl angetan. Das Einzige, was er an ihr nicht sonderlich mochte, war ihre knatschige Stimme. Oft hatte er ihre Videos betrachtet und die Musik auf lautlos gedreht.
Eines Tages dann hatte er unter einem Vorwand einen Freund und Violinisten gebeten, einige ihrer Stücke nachzuspielen und für ihn aufzunehmen. Der Freund hatte ihn zwar für verrückt erklärt, ihm aber dann doch den Gefallen getan. Seitdem lauschte Schmalzl in seinen ruhigen, einsamen Stunden den vergeigten Stücken seines heimlichen Popstars.
Filippo Magnabosco leerte mürrisch den Briefkasten Nummer 57, fischte einige Werbeprospekte und die Mahnung seines Telefonanbieters heraus und nahm den Aufzug in den fünften Stock des Wohnhauses. Drei Sekunden lang betrachtete er sein Spiegelbild in dem gelblich schimmernden Aufzug: Ein grauer Mittfünfziger in schmieriger Lederjacke und mit ungewaschenen Haaren blickte ihn an, ein einfacher, langweiliger Bulle der italienischen Staatspolizei.
Bislang hatte seine Aufgabe darin bestanden, Diebstahlsanzeigen aufzunehmen und dann und wann einen eskalierten Ehestreit zu schlichten, wenn er auf Streife war.
Nun war er durch den Autounfall eines Kollegen zu höheren Zielen berufen worden: Er sollte auf unbestimmte Zeit bei der Mordkommission einspringen. Zumindest so lange, bis sich der Kollege von seinem Unglück erholt hatte.
Auch eine Assistentin war ihm zugewiesen worden, eine gewisse Carmela Pasqualina. Er kannte sie nicht, war ihr ein einziges Mal am Kaffeeautomaten begegnet. Sie war ihm als ein junges, unerfahrenes Ding in Erinnerung geblieben, das nichts Besseres zu tun hatte, als den neuesten Stadttratsch mit den Kolleginnen aus dem oberen Stock zu besprechen.
Carmela war in Süditalien aufgewachsen und erst vor wenigen Jahren nach Südtirol gezogen. Hier hatte sie auch leidlich gut Deutsch gelernt. Magnabosco beschloss, mit ihr so viel wie möglich deutsch zu sprechen – es fehlte noch, dass er sich abmühen musste, ihren kalabrischen Dialekt zu verstehen. Mit seinen Eltern hatte er zwar ein Leben lang auf Italienisch kommuniziert, aber auf ihren Wunsch hin seine komplette Schullaufbahn in deutscher Sprache absolviert und war somit – beinahe – perfekt zweisprachig.
Der Aufzug bremste ruckartig, die Tür öffnete sich langsam und laut. Magnabosco trat auf den dunklen Flur und ging in seine kleine Wohnung hoch über der Bozner Peripherie. Es regnete, die Wolken hingen tief über dem Sportgelände in der Pfarrhofstraße. Sie klebten wie nasse, graue Wattebausche an den sonst rötlichen Felsen, die die Südtiroler Landeshauptstadt umgaben.
Magnabosco stieß gegen seine braunen Lederschuhe, gab dem rechten einen heftigen Tritt, sodass er unter dem Sofa landete. Den linken schob er etwas sanfter in die Ecke hinter der Tür. Die Post schmiss er auf den Küchentisch, ging zum Kühlschrank, der ihn leer angähnte. Er öffnete den Gefrierschrank und entdeckte eine Packung abgelaufener Fischstäbchen. Heute Abend würde er herausfinden, ob sie tatsächlich ungenießbar geworden waren oder ob das Mindesthaltbarkeitsdatum nur eine Masche der Nahrungsmittelindustrie war, um mehr Fischstäbchen zu verkaufen. Magnabosco war sich sicher, dass es ein Trick war. Und falls er sich täuschen sollte, würde er die folgende Nacht eben auf der Toilette oder im Krankenhaus verbringen.
Es war ohnehin egal, schließlich hatte er seit drei Stunden, seitdem Clara zum dritten Mal mit ihm Schluss gemacht hatte, nichts mehr zu verlieren. Dieses Mal hatte sie sich nicht einmal mehr die Mühe gemacht, ihn aufzusuchen oder anzurufen. Sie hatte ihm eine einfache Kurznachricht gesendet. Eine Fernbeziehung nach Brescia war einfach unmöglich zu managen. Es war vorbei, schon wieder. Dieses Mal für immer, hatte Clara geschrieben. Und Magnabosco hatte ihr nicht einmal mehr geantwortet.
Nun fehlte sie ihm, ihre Abwesenheit war zur Leere geworden. Er aß drei Fischstäbchen, öffnete ein Dosenbier und setzte sich vor den Fernseher. Er starrte in den dunkelgrauen Kasten und schaltete ihn nicht einmal ein, um mitzubekommen, wie seine Fußballmannschaft durch ein Eigentor ihren Platz in der Serie A verlor.
*
Gegen dreiundzwanzig Uhr beschloss Magnabosco, noch eine kleine Runde zu drehen. Einmal bis zum Friedhof und wieder zurück war sein Ziel.
Es hatte aufgehört zu regnen, nur ein paar vereinzelte dicke Tropfen fielen noch vom Himmel, als er die Pfarrhofstraße entlangschlenderte und ein Fahrrad hinter ihm Sturm klingelte.
„Che cazzo, vai sul marciapiede, no?“, schrie die Person auf dem Fahrrad.
Magnabosco konnte gerade noch auf den für die Fußgänger vorgesehenen Streifen am Straßenrand ausweichen und fluchte ebenso laut wie sein Gegner.
Plötzlich drehte sich dieser um und lachte auf. Magnabosco erkannte seinen alten Freund von der Polizeischule und ging auf ihn zu.
„Vecchio sbirro, che fai da queste parti?“
Magnabosco gab ihm die Hand. „Sergio Matteotti! Luft schnappen. Ti va una birra?“, fragte er ihn.
Sergio stieg vom Fahrrad.
Wenige Minuten später betraten sie gemeinsam die Bar am Sportplatz. Der Barkeeper betrachtete die beiden Männer mit Widerwillen, hatte er doch gerade eben das letzte Glas ausgespült und gehofft, früher Feierabend machen zu können.
Magnabosco und Matteotti setzten sich und bestellten zwei Bier. Dann stießen sie an. Magnabosco war nicht nach Reden, obgleich er Sergio seit etwa fünf Jahren nicht mehr gesehen hatte und froh war, diesen Abend nicht völlig allein verbringen zu müssen.
„Was ist los, Filippo? Hat das Spiel dich so runtergezogen?“, versuchte Matteotti, ein Gespräch zu beginnen.
Magnabosco schlug sich gegen die Stirn. Das Fußballspiel hatte er völlig vergessen.
„Ist egal“, sagte Matteotti mit verdrießlicher Miene. „Ist eh scheiße gelaufen. Null zu drei verloren. Die Saison ist im Arsch.“
Auch das noch, dachte Magnabosco und leerte das Glas in einem Zug, knallte es auf den Tresen und verlangte ein weiteres Bier. Nicht nur Clara hatte ihn verlassen, sondern auch seine Fußballmannschaft die Serie A. Schlimmer konnte dieser Abend nicht mehr werden.
„Wie geht’s deiner Familie? Hat dein Bruder sich wieder gefangen?“, wechselte Matteotti das Thema.
Magnabosco berührte erneut seine Stirn und strich sich über die Narbe, die ihm als einzige Erinnerung an seinen drogenabhängigen Bruder geblieben war. „Siehst du die hier?“, fragte er sein Gegenüber.
„Ja. Aber was hat die mit deinem Bruder zu tun?“
„Marco hat es nicht geschafft. Ich habe ihn eines Abends volltrunken in seiner Wohnung gefunden. Er war dabei, sich einen Schuss zu setzen, und ich habe versucht, ihn davon abzuhalten. Er hatte ein Messer und hat mich angegriffen. Ich bin dann mit einer Schnittwunde im Gesicht neben meinem toten Bruder wieder aufgewacht. Er hat die Überdosis nicht überlebt. Noch Fragen?“
Matteotti schüttelte den Kopf.
Magnabosco tat es leid, ihm so rüde geantwortet zu haben, doch die Erinnerung an seinen kleinen Bruder Marco und die Drogen, mit denen er sich zugrunde gerichtet hatte, ließ eine unbändige Wut in ihm aufsteigen. Er klopfte seinem alten Freund auf die Schulter, legte einen Zwanzigeuroschein auf den Tresen und wünschte ihm eine gute Nacht.
Matteotti bedankte sich, doch Magnabosco drehte sich nicht einmal mehr zu ihm um. Besser, ich gehe nach Hause und warte auf den nächsten beschissenen Tag, dachte er.
*
Als er wieder im gelblich schimmernden Aufzug stand und noch einmal sein Spiegelbild betrachtete, bemerkte er, dass er mit dem linken Schuh in einen Hundehaufen getreten war. Nun, zumindest ein Glücksbringer heute, dachte er und zog die Schuhe vor der Wohnungstür aus. Er durchstöberte seine Jackentasche nach dem Hausschlüssel, konnte ihn aber nirgendwo finden. Den einzigen Zweitschlüssel zur Wohnung besaß Clara, und die war in Brescia.
Magnabosco lehnte sich verzweifelt an seine Wohnungstür, der Gestank seines linken Schuhs stieg ihm in die Nase. Es war nichts zu machen, er kam nicht in seine Wohnung hinein. Den Schlüsseldienst konnte er nicht rufen, da sein Handy noch in der Wohnung lag. Er nahm seine Schuhe und legte sie unter die Fußmatte, um den Gestank zu dämpfen. Dann setzte er sich hin und fluchte leise. Ihm war kalt, er wollte schlafen.
Etwa zwanzig Minuten später wurde der Aufzug gerufen. Er fuhr ins Parterre, dann wieder auf Magnaboscos Flur. Die Tür öffnete sich. Er glaubte, einen Geist zu sehen.
Es war Clara. Magnabosco blickte sie ungläubig an und rappelte sich auf. In Socken stand er vor ihr. Er konnte erkennen, dass sie geweint hatte.
„Ich muss mit dir reden“, schluchzte sie laut und umarmte ihn heftig.
„Hast du den Schlüssel dabei? Ich habe ihn in der Wohnung liegen lassen“, sagte er leise, hielt ihr schmales Gesicht in den Händen und küsste sie auf den bebenden Mund.
„Ja, hier. Bitte, Filippo, wir müssen sprechen. Ich halte es nicht mehr aus …“, sagte sie und schloss mit zitternden Händen die Wohnungstür auf.
Magnabosco empfand keine Wut auf Clara, er hielt sie an sich gedrückt und wartete, bis sie sich beruhigt hatte. Minutenlang, vielleicht sogar eine Viertelstunde dauerte es, bis sie endlich reden konnte.
„Filippo, ich bin bekomme ein Kind.“
Der Novemberwind schlug einen Fensterladen zu. Anne zuckte zusammen und drehte sich um. Sie konnte niemanden sehen, die Unterdrittelgasse im alten Brixner Stadtteil Stufels war leer, nur der Herbstwind trieb sein frostiges Unwesen. Anne zog ihren grauen Wintermantel fester um ihren zierlichen Körper und suchte Schutz in dem alten Wollschal, der einst ihrer Mutter gehört hatte.
Mit schnellen Schritten näherte sie sich ihrer Haustür, der einzigen, der in der gesamten Straße eine Scheibe fehlte. Die schmiedeeisernen Gitter davor hatten die Mädchen damals vor vielen Jahren, als Anne noch die Schule besuchte, nicht davon abgehalten, sie zu zerbrechen. Annes Mutter hatte sie nie ersetzt, weil kein Geld dagewesen war.