Marie Krüerke

Über die großen Fragen des
Lebens sprechen

Achtsamkeit und Spiritualität in der Sozialen Betreuung

Einleitung

In vielen Senioreneinrichtungen haben die Gruppenangebote drei Ziele:

Kaum eine Einrichtung bietet den Senior:innen die Möglichkeit, die großen Fragen des Lebens anzusprechen und in einem wertschätzenden, entspannten Rahmen zu erörtern. Dabei taucht jetzt, nach der Verrentung, dem Abschied aus dem eigenen Zuhause, für viele auch nach dem Tod des Lebenspartners, die Sehnsucht nach Antworten auf:

Werde ich noch einmal neue Freundschaften knüpfen? Wer aus meinem Bekanntenkreis lebt noch und begleitet mich bis heute? Wenn ich oft Einsamkeit erlebe: Suche ich nach einem höheren Wesen, das mir Sinn und Hoffnung gibt? Könnte das Gott sein, oder wie stille ich den spirituellen Durst?

In der letzten Etappe der eigenen Biografie bleiben viele hochaltrige Menschen mit ihrem Bedürfnis, philosophische Themen zu besprechen, allein. Nach Jahrzehnten im Beruf, parallel beschäftigt mit Familie, Haushalt und Hobbys, treten Leerstellen auf. Sollte je ein Bezug zu Glauben oder Kirche bestanden haben, ist er für viele schon lange abgebrochen. Wo also suchen nach Zuversicht und innerer Stärke für den oft beschwerlichen Alltag, der immer wieder durch Alleinsein und körperliche Begrenzungen geprägt wird?

Dieses Praxisbuch lädt ein, alltagsnah und lustvoll Achtsamkeit und Spiritualität mit den Senior:innen zu entdecken. Dabei biete ich viel Raum für eine eigenen Position, die vielleicht auch auf der Seite der Seniorenbetreuer:innen erst gefunden werden möchte. Es möchte ein Reisebegleiter sein, weder rein spirituell noch rein philosophisch, sondern offen, abwechslungsreich und handfest. Mit viel Platz für eigene Experimente, verlässliche Tipps und die ganz unterschiedlichen Bedürfnisse und Reaktionen der Senior:innen.

Ich wünsche viel Freude auf dem Weg und unterwegs gute Entdeckungen, die neue Möglichkeiten und alte Bekannte miteinander vereinen.

Marie Krüerke, Januar 2022

Teil I

Achtsamkeit mitten im Alltag:

Damit die Stimmung stimmt

Die Gestaltung der Atmosphäre

Die Atmosphäre in der Betreuung und Pflege ist eine Grundvoraussetzung, damit sich sowohl die Seniorinnen und Senioren als auch die Angestellten wohlfühlen. In vielen Teams prägen Gewohnheiten das Miteinander: Wie ist unser Umgangston im Kollege:innenkreis? Arbeiten alle ihre eigene Agenda ab oder sind wir als Team in engem Austausch unterwegs? Können wir uns aufeinander verlassen oder machen wir lieber alles selbst? Vertrauen wir uns Sorgen um einzelne Betreute an oder zerbricht sich jede:r allein den Kopf, wenn das Verhalten bestimmter Seniorinnen oder Senioren verändert scheint? Stehen wir in Engpässen und Krisen zusammen oder schieben wir uns gegenseitig die Verantwortung und unangenehme Pflichten zu?

Wer eine neue Arbeitsstelle antritt, versucht, sich möglichst zügig in das bestehende Team einzugliedern – mit allen Gewohnheiten im Miteinander, die dazu gehören. Nur selten nehmen sich Abteilungsleitende die Zeit, zu beobachten und nachzufragen, wie der Umgang untereinander die Stimmung der Senior:innen beeinflusst.

Achtsamkeit ist nach einer Phase als Modewort in vielen Unternehmen als feste Größe im Leitbild eingezogen. Aber kaum jemand kann klar benennen, was Achtsamkeit bedeutet und wie sie sich praktisch im Arbeitsalltag erkennen und fördern lässt. Ich bin mir sicher, dass Achtsamkeit keine Aktivität ist, die wir als Baustein in den Wochenplan integrieren, sondern dass Achtsamkeit eine Grundhaltung ist: uns selbst, unseren Kolleginnen, Kollegen und den betreuten Menschen gegenüber. Je bewusster und wertschätzender wir uns begegnen, desto achtsamer und erfüllender sind wir miteinander unterwegs. Und desto mehr fühlen sich alle Anwesenden wohl.

Wie sprechen wir miteinander?

Der Umgangston im Team bestimmt die Art und Weise, wie wir mit den Seniorinnen und Senioren sprechen. Niemand kann nach rechts seine vorbeilaufende Kollegin anblaffen und nach links von Herzen freundlich und geduldig auf eine demenziell veränderte Dame eingehen. Wer Konflikte mit der Vorgesetzten hat, wird die morgendliche Gymnastik nicht so schwungvoll und unbeschwert anleiten wie sonst. Alles, was sich hinter verschlossener Tür unter Kolleginnen und Kollegen abspielt, wird durch die Mimik, Gestik und den Sprachgebrauch nach draußen an die Seniorinnen und Senioren getragen.

Daher möchte ich einige Fragen zum eigenen Reflektieren stellen, um der Dynamik im Team auf die Spur zu kommen. Denn nur das, was wir durchschauen, können wir auch verändern.

Spontan aus dem Bauch heraus: Wie wohl fühle ich mich in der letzten Zeit bei der Arbeit?

Meine Gedanken zu diesen Fragen:

 

Praxistipp:

Meine Werte, deine Werte

Wenn wir voneinander wissen, was den anderen Teammitgliedern wichtig ist, können wir gelassen miteinander umgehen und in Konflikten besser verstehen, warum bestimmte Standpunkte aufeinanderprallen. Was sind meine Werte?

Freiheit, Gemeinschaft, Frieden, Spaß, Toleranz, Bescheidenheit, Gesundheit, Leidenschaft, Mitgefühl, Respekt, Authentizität, Vertrauen, Zuverlässigkeit, Fröhlichkeit, Wahrheit, Verbindlichkeit, Fortschritt, Tradition, Natur, Spiritualität, Geduld, Verantwortung, Leidenschaft, Nähe …

Was sind die Werte der anderen?

Wo entstehen ganz eindeutig erlebbare Spannungen, weil die Werte einzelner Teammitglieder offensichtlich sehr verschieden sind? Wie können wir uns respektvoll begegnen?

 

Wer übernimmt welche Aufgabe?

Alle Angestellten profitieren davon, wenn sie sich entsprechend ihren Begabungen und Interessen einbringen können. Daher ist es sinnvoll, die Aufgaben im Team bewusst zu verteilen und regelmäßig darüber zu sprechen, ob alle mit ihren Schwerpunktthemen zufrieden sind.

Gibt es Aktivitäten, die sich eigentlich totgelaufen haben, aber aus Gewohnheit aufrechterhalten werden? Solche Aufgaben erfordern überproportional Kraft, ein bewusster Abschied und ein gemeinsamer Austausch über neue Ideen können das Team zusammenwachsen lassen und eine frische Dynamik schenken.

Auch zwischen den einzelnen Abteilungen ist ein Abstimmen der Tätigkeiten sinnvoll. Manche pflegerische Aufgabe wird von einzelnen Vorgesetzten aus Zeitmangel den Betreuenden aufgezwungen. An anderer Stelle könnte die Pflege die Betreuung sehr sinnvoll entlasten, wenn die Tätigkeiten nicht nach Abteilung, sondern nach dem inneren Zusammenhang verteilt werden würden.

Achtsamkeit im Alltag bedeutet, eingeschliffene Abläufe zu hinterfragen, wenn sie sich sperrig und unnötig anstrengend anfühlen.

Achtsamkeit bedeutet auch, die Talente Einzelner höher zu bewerten, als ein starres Organigramm es scheinbar zulässt. Ein Thema, das mich persönlich interessiert und mit dem ich mich identifiziere, kann die Grundlage eines Gruppenangebots sein – selbst wenn mir offiziell die Ausbildung dafür fehlt. Oder wenn der Platz scheinbar bereits durch eine Kollegin besetzt wurde.

Meine Gedanken zu diesen Fragen:

 

Praxistipp:

Outside the Box

Male einen großen Kasten und schreibe hinein, was du derzeit alles tust, weil du dazu ausgebildet wurdest. Schreibe ebenfalls hinein, welche Aufgaben du übernommen hast, weil du dich entweder dafür eingesetzt hast oder niemand anderes daran Interesse hat.

Schreibe rund um die Box, auf welche Tätigkeiten du so richtig Lust hättest – völlig egal, ob sie deinem Tätigkeitsprofil in der Einrichtung oder deiner Ausbildung entsprechen.

Wenn du dich für ein Thema begeisterst, ist es sehr wahrscheinlich, dass du auch andere dafür begeistern kannst. Und dass diese Begabung sich für alle sinnbringend einsetzen lässt. Damit das auch die Vorgesetzten erkennen, kannst du einen Bildungsurlaub zu dem Thema buchen (in fast allen Bundesländern stehen den Angestellten 5 Tage zusätzlicher Sonderurlaub als fest definierter „Bildungsurlaub“ rechtlich zu) oder eine passende Fortbildung besuchen. Danach weißt du einerseits sicher, wie sehr dein Feuer für das Thema brennt, und du kannst andererseits deine Kompetenz klar herausstellen.

 

Wie unruhig ist es eigentlich bei uns?

In vielen Einrichtungen werden zwischen den Mahlzeiten Gruppenaktivitäten oder Einzelbetreuung angeboten. Diejenigen, die nicht daran teilnehmen (können), sitzen währenddessen im Gruppenraum oder Speisesaal und werden mit Radio oder Fernsehen beschallt. Häufig ist das Anschalten der Geräte eine reine Routine der Pflege- oder Betreuungskraft, keine bewusste Entscheidung für ein bestimmtes Konzert im Klassikradio oder eine ausgewählte Sendung im Regionalprogramm des Fernsehsenders. Entsprechend willkürlich und bedeutungslos ist die Musik oder das Geplapper, das vom Bildschirm ausgeht. Dadurch wird eine Stille im öffentlichen Raum der Einrichtung vermieden, eine tatsächliche Aktivierung oder Beschäftigung der zufällig anwesenden hochaltrigen Menschen wird damit aber nicht erreicht. Häufig entsteht einfach nur ein Klangteppich, der durch die Geräusche des Putzteams und der Küche verstärkt wird. Mit den Rufen von Kolleginnen, Kollegen und den teils unartikulierten Äußerungen kognitiv schwer betroffener Seniorinnen und Senioren summiert sich eine Geräuschkulisse, die primär unruhig und anstrengend ist. Da die Hörgeräte oft den Störschall genauso verstärken wie den gewollten Nutzschall (sprachliche Äußerungen in der Umgebung, Musik), verdoppelt sich häufig die akustische Unruhe in der Wahrnehmung der Bewohner:innen.

Viele hochaltrige Menschen reagieren dadurch nervös, gereizt, unkonzentriert und fahrig. Statt Radio und Fernseher lauter zu stellen, damit sie abgelenkt sind, wäre eine konsequente Reduktion der Unruhe viel zielführender.

Meine Gedanken zu diesen Fragen:

 

Praxistipp:

Die Seelen-Haltestelle

Schaffen Sie an einer ruhigen, aber gut einsehbaren Ecke einen Platz als „Seelen-Haltestelle“. Ähnlich einer Bushaltestelle, nur dass hier nicht auf den öffentlichen Nahverkehr gewartet wird, sondern Raum zum Innehalten entsteht.

Hier kann ein Schaukelstuhl, ein Strandkorb oder ein Ohrensessel platziert werden. Der Ort sollte unbedingt einen schönen, freien Blick nach draußen bieten. Gleichzeitig sollte er mit Pflanzen so weit abgeschirmt werden, dass tatsächlich ein Ort der Ruhe inmitten der Gemeinschaft möglich wird. Besonders schön ist es, einen solchen Ort sowohl drinnen als auch draußen einzurichten. Er sollte auf der Terrasse oder einem öffentlichen Balkon für alle gut und ohne Hilfe erreichbar sein. Mit einem kleinen Beistelltisch für eine Tasse Kaffee und einer Wolldecke für ein Gefühl von Geborgenheit entsteht so ein friedlicher Ort, der zum Auftanken einlädt. Wer mag, platziert ein Körbchen mit Bonbons und Seifenblasen für den maximalen Spaßfaktor dazu.

Besonders in Pflegestationen ist es wichtig, dass dieser Platz nicht zu abgelegen ist, damit vorbeilaufende Angestellte jederzeit schnell erkennen und reagieren können, wenn es der dort sitzenden Person nicht gut geht.

Ebenso sollte regelmäßig jemand nachsehen, ob die Seelen-Haltestelle sauber und einladend aussieht oder ob eine Reinigung notwendig ist.

 

Welche Aktivität bieten wir welcher Person an und warum?

Offiziell werden in jeder Einrichtung zu Beginn ausführliche Gespräche mit den neuen Seniorinnen und Senioren geführt, um biografische Informationen zu sammeln. Diese sollen das Kennenlernen erleichtern und garantieren, dass passende Aktivitäten angeboten werden. In der Realität des Betreuungsalltags wird häufig nur wenig auf die erhobenen Daten eingegangen. Welche Person an einer bestimmten Gruppe teilnimmt, hat oft mehr mit praktischen Gründen zu tun, als mit den Wünschen der Einzelnen. Da viele Beschäftigte in der sozialen Betreuung fachfremde Tätigkeiten mit übernehmen müssen und die Zeit für eine fundierte Vor- und Nachbereitung des Angebots oft fehlt, bestimmt die Problemvermeidung die Gruppenzusammensetzung: Bestimmte Personen werden ausgeschlossen, weil sie Unruhe in die Gruppe bringen oder Konflikte provozieren. Angenehme Zeitgenossen werden aus taktischen Gründen in der Gruppe aufgenommen, auch wenn sie eher wenig Interesse am Thema haben. Manche Personen werden einfach spontan dazugesetzt, weil sie einer anderen Kollegin im Weg sind, ohne die Gruppenleitung vorab zu fragen. Dass die Teilnehmenden tatsächlich bewusst und überlegt zu einer Gruppe zusammengeführt werden, passiert nur bruchstückhaft.

  • Welche Interessen haben die Seniorinnen und Senioren wirklich?
  • Wie oft werden sie zu einer Gruppe zusammengefasst und gemeinsam betreut, ohne dass nach den Wünschen der Einzelnen gefragt wird?
  • Welche Kleingruppe könnte zusätzlich angeboten werden, die bisher thematisch fehlt und für die es motivierte Teilnehmende gäbe?
  • Manchmal hilft es, eine Gruppe zu verkleinern und stattdessen ein weiteres Angebot für diejenigen zu starten, die gelangweilt oder störend wirken.

Meine Gedanken zu diesen Fragen:

 

Praxistipp:

Utopische Träume

Wir sammeln als Team die Wünsche der Senior:innen, über welche Angebote sie sich freuen würden – völlig egal, ob sie realistisch umsetzbar wären oder nicht. Anschließend stellen wir zusammen, welche Aktivitäten uns Angestellten gemeinsam mit den Bewohnerinnen und Bewohnern Spaß machen würden. Egal, wie modern, teuer oder unkonventionell diese Ideen wirken mögen – wir ermutigen einander, wirklich jede noch so ausgeflippte Idee festzuhalten. Danach überlegen wir, was der Mittelpunkt der jeweiligen Aktivität ist: Vielleicht lässt sich der Einfall nicht komplett realisieren, aber zumindest ein entscheidendes Kernelement. Für alle Ideen, die so gut sind, dass sie unbedingt am Stück umgesetzt werden sollen: Wie können wir Spenden sammeln, Fördergelder beantragen oder Sponsoren dafür anwerben? Für viele Projekte, wie Gartentherapie, Musiktherapie oder tiergestützte Begleitung, gibt es Fördergelder!

 

Sind wir offen für Wünsche und Impulse der Seniorinnen und Senioren?

Wenn sich viele Seniorinnen und Senioren für Schlager begeistern, aber keiner aus dem Team der Betreuungskräfte: Vielleicht haben wir eine Köchin, die begeistert Schlager singt und alle auswendig kann? Wenn nur pädagogische Angestellte offiziell berechtigt sind, Gruppen und Kurse zu leiten, schränken wir den Kreis der Angebote unnötig ein. Statt davon auszugehen, welche Kompetenzen die Teammitglieder haben, ist es oft zielführender, die Wünsche und Interessen der Seniorinnen und Senioren zu erfragen. Um anschließend gemeinsam zu überlegen, wie die Bedürfnisse erfüllt werden können: mit Mitarbeitenden aus anderen Abteilungen, mit Minijobbern, Ehrenamtlichen oder Studentinnen und Studenten. Auch ein zeitlich begrenzter Rahmen als Projekt kann eine Möglichkeit sein, die Sehnsüchte der Seniorinnen und Senioren zu stillen.

  • Wie festgelegt sind wir auf unser Programm?
  • Werden alle Bedürfnisse abgedeckt: Aktivität und Entspannung?
  • Körperliche und geistige Beschäftigungen?
  • Gruppen und Einzelbetreuung?
  • Gibt es auch Anregungen für die Seele und die Beziehungspflege?
  • Wie viel sitzen wir drinnen, wie oft bieten wir Outdoor-Aktivitäten an?
  • Welche Wünsche werden immer wieder geäußert, wurden aber bisher nie beachtet?
  • Welches Hobby einer Angestellten könnte zur Grundlage eines Betreuungsangebots werden oder als Projekt den passenden Rahmen erhalten?
  • Welches Thema kann nicht langfristig als Gruppenangebot durchgeführt werden, aber eignet sich ideal für eine Projektwoche?

Meine Gedanken zu diesen Fragen:

 

Rituale schenken Geborgenheit

Uns allen ist die Wichtigkeit von Ritualen bewusst, beispielsweise das Vorlesen der Gutenachtgeschichte oder ein Lied im Morgenkreis in der Kindererziehung. Wenn die Zeit ihre Bedeutung verliert und ein Tag übergangslos in den nächsten überzugehen scheint, weil kaum noch etwas Spannendes passiert, sind Rituale umso wichtiger:

Sie markieren den Wechsel der Tages- und Jahreszeiten, das Begrüßen und Verabschieden. Rituale geben Halt und Struktur, sie schaffen einen geschützten Rahmen und damit Sicherheit. Daher sind sie nicht nur für Kinder bedeutungsvoll, mindestens genauso sehr berühren sie hochaltrige Menschen mit kognitiven Veränderungen. Wenn das Lesen des Kalenderblatts kein Verständnis mehr erzeugt und alles irgendwie sinnlos erscheint, geben Rituale einen Raum für Begegnung und Relevanz.

Rituale zum Ankommen und Verabschieden

Haben wir ein Ritual am Morgen? Begrüßen wir einander als Kolleg:innen einerseits und als Gemeinschaft mit den Senior:innen andererseits? Oder stürzen wir an den Arbeitsplatz und legen direkt los? Nehmen wir uns bewusst die Zeit, in einem Pflegeheim die Runde durch den Flur zu machen und in allen Zimmern einmal „Hallo!“ zu sagen? Oder gehen wir davon aus, dass wir im Laufe des Tages „alle irgendwann mal treffen“?

Könnte ein bewusst gestalteter Start in den Tag als Ritual auch mir als Betreuender guttun?

Vielleicht reagieren die Seniorinnen und Senioren anders auf mich, wenn ich sie bereits vorab einmal begrüßt habe, bevor ich sie zu einem Gruppenangebot abhole? Haben sie dann vielleicht den inneren Vorlauf, sich auf mich einzustellen, bevor wir im Miteinander näher miteinander zu tun haben? Besonders im Schichtdienst, wenn alle Mitarbeitenden zu unterschiedlichen Zeiten kommen und gehen, kann ein bewusstes Begrüßen und Verabschieden einen großen Unterschied machen.

Wie könnte ein passendes Ritual bei uns aussehen? Sollte es eher einzeln oder in der Gruppe passieren? Vielleicht morgens durch die Pflege einerseits und dann beim gemeinsamen Frühstück als bewusste Gemeinschaft andererseits? Können dadurch demenziell veränderte Personen vielleicht bewusster und friedlicher in den Tag starten, sodass der „Mehraufwand“ des Rituals sich durch eine entspanntere Tagesverfassung auszahlt?

Meine Gedanken zu diesen Fragen:

 

Auch der Dienstschluss oder ein bewusster Abschied nach dem Abendessen aus der
Gemeinschaft hinein in die Ruhe des Zimmers können ritualisiert und damit wohltuend gestaltet werden.

Rituale im Tagesverlauf (Mahlzeiten, Hygiene, Schlafenszeit)

In vielen Kindergärten gibt es ein Ritual, um Mahlzeiten zusammen zu beginnen und zu beenden. Klare Anfangs- und Endzeiten geben Struktur und damit Sicherheit, die in der unruhigen Atmosphäre eines Speisesaals für manche Person einen großen Unterschied macht. Es muss kein künstliches Tischgebet sein, keine Mitarbeiterin und kein Mitarbeiter soll sich zu einem Ritual genötigt fühlen, das sie oder er sinnlos oder blöd findet. Aber ein gemeinsamer Spruch oder das Singen einer kurzen Strophe, die mit Essen und Trinken zu tun hat, schenkt einen klaren Rahmen. Das Ausschalten eines Radios und Fernsehers hilft, die Essenssituation ruhig zu gestalten – ganz besonders, wenn viele Betroffene mit Demenz anwesend sind.

Auch im Tagesverlauf können Rituale helfen, unruhige Settings klarer zu strukturieren oder angespannte Aufgaben zu entschärfen.

Nach dem Mittagessen die Seniorinnen und Senioren zu einem ruhigen Plätzchen oder ins Bett zum Mittagsschlaf zu begleiten, kann als „Bummelbahn“ gestaltet werden, die durch die Pflegeabteilung schnauft und einen Passagier nach dem anderen absetzt.

Manche Bezugsbetreuerin legt abends mit bestimmten Damen ganz in Ruhe die Kleidung für den morgigen Tag heraus. Dabei kann locker über den Tag geplaudert oder überlegt werden, dass der Sohn mal wieder einige Paare neuer Strümpfe vorbeibringen sollte. So ist die Person nicht aus dem wuseligen Gruppenraum plötzlich ganz allein im eigenen Zimmer, sondern kann mit der Betreuerin durch den Plausch langsam innerlich zur Ruhe kommen und sich auf die Nacht einstellen.

Die Zahnpasta selbst auf die bereitgehaltene Zahnbürste zu quetschen, kann morgens und abends ein Ritual sein, das völlig bedeutungslos erscheint, aber die Eigenständigkeit aufrechterhält und der Person Orientierung schenkt.

Auch das Singen eines Abendlieds wäre möglich, dabei reicht eine Strophe mit Refrain.