Shulamit Lapid
Lokalausgabe
Lisi Badichis erster Fall
Kriminalroman
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
DÖRLEMANN
Die hebräische Originalausgabe »Mekomon« erschien 1989 bei Keter Books, Jerusalem.
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Copyright © by Shulamit Lapid
Published by arrangement with the Institute for the Translation of Hebrew Literature
© 2022 Dörlemann Verlag AG, Zürich
Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf unter Verwendung einer Illustration von Irène Schoch
Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-03820-998-0
www.doerlemann.com
Niemand wusste, wann Lisi Badichi bei der Party von Hornsticks erschien und mit wem sie kam, und es interessierte sich auch niemand dafür, dass sie dort war, denn sie war keine Frau, die man groß bemerkte, obwohl man sie nicht gerade als leicht zu übersehen bezeichnen konnte – nicht mit ihren großen platten Füßen, die aussahen wie die Flossen eines Seehundes, und nicht mit ihrem großen Busen, der jeden, der es vielleicht vergessen haben könnte, daran erinnerte, dass es so etwas wie Schwerkraft auf der Welt gab, und nicht mit ihrer Art zu sprechen, wobei sie zwischen »Schätzchen« und »hach?« ein paar Wörter aneinanderreihte wie zerkaute Perlen auf einer alten Schnur.
In der Redaktion nannte man sie »Lisi die Bekloppte«. Sie wusste das, aber es störte sie nicht, solange man sie in Ruhe ihre Arbeit tun ließ und sich nicht in das einmischte, was sie schrieb. Sie war »unsere Reporterin« der Zeitung Zeit im Süden, einer Lokalbeilage der überregionalen Zeit. Genaugenommen schrieb sie die ganze Beilage selbst, machte sich höchstpersönlich mitten in der Nacht auf den Weg, wenn man sich mitten in der Nacht auf den Weg machen musste, kippte sich etwas Wasser über den Kopf, um wach zu werden, strich sich Fettstift auf die Lippen, steckte sich riesige Plastikclips an die Ohrläppchen und den Pieper an den Gürtel, zog ihre Füße über den leeren Gehsteig und hoffte, dass der Anlasser ihres Autos keine Schwierigkeiten machen würde und dass ihr Informant an der Stelle wartete, die er ihr angegeben hatte, dass die Nachricht in den überregionalen Teil der Zeitung aufgenommen würde, denn dann bekam sie eine Prämie. Sie wusste, und alle in Be’er Schewa wussten es, dass Lisi Badichi »die Lokalzeitung« war, und das sparte ihr Zeit, überflüssige Formalitäten und alle möglichen Gänge.
Wenn es darum ging, die Mutter eines Getöteten zu interviewen oder die Freundin des Sängers, der eine Nutte vergewaltigt und ihr vier Zähne eingeschlagen hatte, oder den heldenhaften Soldaten, den Stolz der Siedlung D – Lisi war zur Stelle, sie und ihre großen Füße. Dann wusste sie, dass Dahan, der Chef der Zeit im Süden, in Tel Aviv angerufen und Bescheid gesagt hatte, dass Lisi die Bekloppte zu dem Betreffenden hingefahren war. Sie wusste es nicht nur, es war ihr auch egal, denn sie wusste ebenfalls, dass er den Satz mit den Worten beendet hatte: »Sie wird schon eine Geschichte aus ihm herausholen.«
Sie war nicht besonders stolz auf das, was sie tat, und sie war nicht übermäßig bescheiden. Sie tat ihre Arbeit professionell, und das befriedigte sie. Wenn sie einen Faden in der Strickwarenfabrik eingezogen hätte, wie es ihre Mutter tat, oder im Soroka Spritzen gegeben hätte, wie es ihre Schwestern Georgette und Chawazelet taten – dann hätte sie dies auch professionell erledigt, und auch das hätte ihr Befriedigung verschafft. Nun war sie also »unsere Reporterin« im Süden. Big deal. In zwei Monaten würde sie dreißig, und das war es, was für ihre Mutter wirklich eine Rolle spielte, auch für Georgette und Chawazelet. Manchmal kamen ihre Schwestern zu ihr und sagten Schmeicheleien, und dann wusste Lisi, dass sie sie am Schluss bitten würden, ihnen Geld zu leihen, was sie auch tun würde. Sie würde sich vornehmen, beim nächsten Mal ihre Schwestern davon abzuhalten, ihr Schmeicheleien zu sagen. Aber wenn dann das nächste Mal kam, ließ sie wieder zu, dass die beiden erzählten, wie erfolgreich und bedeutend sie, Lisi, war, und wie stolz sie waren, dass so eine zu den Badichis gehörte, die es bis jetzt zu nichts Besonderem gebracht hatten, bis Lisi aufgetaucht war. Sie ließ sie in dem Glauben, sie hätten sie rumgekriegt – wenigstens diese Befriedigung konnte sie ihnen geben nach der Beschämung, dass sie um Geld bitten mussten. Sie hatten Kinder, die nicht nur etwas zum Essen und zum Anziehen brauchten, sondern auch eine Ausbildung, das war wichtiger als ihr eigener Stolz.
Sie hatte als Sekretärin von Dahan angefangen, der damals verantwortlich war für die Anzeigenabteilung. Eines Tages war sie eingesprungen, als keiner da war, der zum Rathaus gehen konnte, um herauszufinden, warum man in der Siedlung C das Wasser abgestellt hatte und wann die Straße in der Siedlung D endlich fertig würde, und bald hatte sie gelernt, dass jede Information ihren Preis hatte, ein paar Zeilen als Bestechung da, eine Spalte als Erkenntlichkeit dort. Allmählich hatten sich die Leute an die junge Frau gewöhnt, die mit ihren großen Füßen über den Gehsteig schlurfte, an ihre schläfrigen Augenlider, die nichts überraschte und nichts aufweckte. Hätte man irgendjemanden in Be’er Schewa gefragt, ob sie Kaugummi kaue, hätte er hundertprozentig geantwortet, natürlich tut sie das, obwohl sie noch nie im Leben Kaugummi gekaut hatte, weil sie von zu Hause so erzogen worden war. Ein gutes Mädchen, egal wie arm, achtet auf gute Manieren. Aber sie sah nun mal so aus wie eine Kuh, die wiederkäut, und das wusste sie auch.
Sie sprach nicht darüber, dass sie Jungfrau war, das war kein Thema, über das man sich unterhielt. Aber in Wirklichkeit bedrückte es sie. Schon vor Jahren hatte sie sich vorgenommen, bei der nächsten Gelegenheit etwas zu unternehmen, aber je mehr Zeit verging, umso weiter verschob sie die nächste Gelegenheit. So war Lisi nun in der Situation, dass sie nicht mehr einfach mit irgendjemandem ins Bett gehen konnte, egal mit wem. Denn was sollte sie diesem »egal mit wem« sagen, wenn er herausfand, dass er ihr erster Mann war? Er könnte noch auf die Idee kommen, sie hätte die ganzen Jahre auf ihn gewartet. Und wie erklärt man jemandem, dass das nicht so ist, ohne ihn zu kränken? Wenn sie siebzehn wäre, na gut … Dann hätte man gesagt, die ist eben dumm, und sie vergessen. Aber mit dreißig minus zwei Monaten – das war, wie zum ersten Mal in die Oper gehen. Und dann erkläre mal, dass es sich keineswegs um eine plötzliche Liebe handelt. Lisi ging also ihren Weg, einen verschlafenen Weg, laut Dahan, der manchmal zum Country Club ging oder in das Hotel gegenüber der Krankenkasse, mit irgendeiner neuen Boutiquebesitzerin oder einer Gymnasiastin mit heißem Hintern. In solchen Fällen sagte er zu Lisi: »Wenn man mich sucht, ich bin nachmittags wieder da«, und wenn er dann zurückkam, zog er einen Duft nach verlockendem Abenteuer hinter sich her. Seine Augen waren gerötet wie immer, doch nun schien die Rötung von Lagerfeuern zu kommen, deren Geruch sie noch im Duft seines Rasierwassers wahrzunehmen glaubte.
Zwischen Lisi und Dahan herrschte eine Beziehung freundlicher Achtung. Sie hatten zu gleicher Zeit in dem winzigen Büro hinter dem Supermarkt angefangen zu arbeiten, waren zwischen Kisten mit Kohl und Brotkästen herumgehüpft, und gemeinsam waren sie in die Reihe renovierter Büros über der Druckerei von Prosper Parpar gezogen und hatten sich wortlos gegenseitig auf die Schultern geschlagen. Er schätzte die Tatsache, dass sie nie einen Auftrag als unmöglich bezeichnete, dass sie zu jeder Pressekonferenz ging, dass sie dem kleinsten Gerücht nachspürte, das ihr zu Ohren kam, und noch höher schätzte er die Gewissheit, dass sie nie im Leben seiner Frau oder irgendjemand anderem etwas von den kleinen Abenteuern verraten würde, die er sich von Zeit zu Zeit gönnte. Sie wiederum schätzte seine Großzügigkeit, die Art, wie er sich Vorteile und Frauen verschaffte, seine ungebremste Gier nach Geld und Erfolg. Sie wusste, dass sie sich an ihn gewöhnt hatte und dass ein Anhauch seiner abenteuerlichen Ausflüge auch auf sie abfärbte. Er war der Mann, der für sie entschieden hatte, dass sie den Führerschein machen musste, und er war derjenige, der beschlossen hatte, es sei jetzt an der Zeit, das Haus ihrer Mutter zu verlassen. Er hatte ihr sogar geholfen, einen Kredit zu bekommen, und er hatte die Leitung der Zeitung davon überzeugt, dass diese Lisi, die alle für eine Kuh hielten, wertvoll für die Zeitung war und dass es sich lohnte, ihr ein Auto zur Verfügung zu stellen.
***
Natürlich wird nicht jeden Tag ein Einwohner von Be’er Schewa Bezirksrichter, doch aus journalistischer Sicht hatte Hornsticks Feier keinen besonderen Neuigkeitswert, mehr als ein paar Zentimeter in der Gesellschaftsspalte standen ihr nicht zu. Aber Dahan hatte eine Werbeanzeige von Israha Musikinstrumente ergattert und bat Lisi, so nett zu sein und zu Richter Hornstick hinzugehen. Sie solle einen Satz über Jacki Danzig schreiben, den Klavierspieler, und bei dieser feierlichen Gelegenheit auch das Klavier erwähnen, auf dem er bei der Party spiele. Und das alles, obwohl Dahan doch wusste, dass Lisi morgens um vier an der Militärkontrollstelle Erez sein musste, der Kontrollstelle zum Gaza-Streifen. Sie hatte keine Ahnung, was Jacki Danzig dafür bekam, dass er sie zu Hornsticks Party mitnahm, aber irgendetwas würde es schon sein, da war sie sicher, denn sie hatte es noch nie erlebt, dass irgendetwas keinen Preis hätte.
***
Das Haus stand auf einem Hügel. Tamarisken und silbrige Reaumurien im Garten bewiesen, dass es sich bei den Besitzern der Villa um eine alteingesessene Familie handelte. Bougainvilleen bedeckten die Vorderseite aus grauen und rosafarbenen Steinen, und zwei gewundene Wege trafen sich an der Eingangstür und verschwanden irgendwo im hinteren Teil des Hauses.
Jacki und Lisi blieben einen Moment an der Tür stehen und drückten Hornstick die Hand, dann rutschten sie mit ihren Schuhsohlen über den schwarzen Marmor, blinzelten, bis sich ihre Augen an das blendende Licht der großen Kronleuchter gewöhnt hatten. Jacki drehte Lisi den Rücken zu und ging schnell hinüber zu dem weißen Klavier, das an einer Wand stand, und sie sagte zu seinem Rücken, der in einem schwarzen Seidenhemd steckte, »Sei kein Esel«, und ging in den Garten. Man könnte denken, ich hätte Aussatz, dachte sie, als sie am Brunnen stand, hineinschaute in den großen Salon und zuhörte, wie Jacki Danzig auf dem weißen Israha spielte. Das Licht aus den Kronleuchtern blitzte auf seiner rosafarbenen Fliege, und er spielte etwas Romantisches, das ein Lächeln auf die Gesichter der Gäste zauberte und ihre Beine in Bewegung brachte. Lisi erinnerte sich, dass man von ihm sagte, er sei der Liebhaber irgendeiner Frau, aber es fiel ihr nicht mehr ein, von welcher Frau die Rede gewesen war. Beide, Lisi und Jacki, waren in den gleichen Wohnblocks aus Spritzbeton aufgewachsen, in der Siedlung G. Er war ungefähr so alt wie sie, und der verschlossene Ausdruck auf seinem Gesicht stand im Gegensatz zu den rhythmischen Melodien, die unter seinen Fingern entstanden. Oder vielleicht auch nicht. Zwei, die auf dem heimischen Platz Erfolg gehabt hatten und jetzt auswärts spielten, das waren sie. Irgendetwas regte sich in ihrem Gedächtnis, tauchte im Hintergrund auf und war drauf und dran herauszuhüpfen …
Einige Paare tanzten auf der kleinen Terrasse, und im Garten hatten sich schon an die zwanzig Paare versammelt. Manche saßen an den runden Tischen unter den bunten Lämpchen, andere bewegten sich im Halbdunkel zwischen Licht und Schatten. Einen Teil der Leute kannte Lisi, und etliche wussten auch, wer sie war. Vermutlich wunderten sie sich, was Lisi hier zu suchen hatte. Sie passte nicht hierher, nicht um diese Zeit und nicht zu diesem Anlass. Ein Bezirksrichter war nicht gerade der adäquate Umgang für eine Frau wie Badichi die Bekloppte, die Königin des Lokalblättchens. Hornstick hätte, wenn er wollte – und das wussten alle –, in Jerusalem oder Tel Aviv sitzen können, und wenn seine Karriere nur langsam anstieg, so lag das daran, dass er sich freiwillig – jawohl, freiwillig – dazu entschieden hatte, ausgerechnet hier zu leben. Nicht dass er unter der Diaspora litt, die er sich selbst auferlegt hatte. Er war der örtliche Mann des Geistes, der Gerechte des Südens und der Apostel des Negev. Seit Ben-Gurion der Wüste nicht mehr automatisch Respekt einbrachte und ihr den Flair des Besonderen verlieh, tat das Pinchas Hornstick, der Richter, der dort in der Tür seiner Villa stand, in der linken Hand ein Bündel Feuerwerkskörper hielt und mit der rechten immer wieder einen herauszog und einem Gast mit den Worten reichte: »Die Party ist im Garten.« Ein blasses Lächeln flatterte über seine Lippen, während er seine Gäste bat, sich völlig frei und ungehindert zu fühlen. Was ist mit seinen Freunden, überlegte Lisi, und was mit seiner Familie? Warum zwingt ihn niemand, mit dieser lächerlichen Pose an der Tür aufzuhören und ins Haus zu gehen? Aber vielleicht zieht er gerade aus dieser Isolation seine Kraft? Doch was für eine Kraft ist das? Eine Kraft zum Bösen oder zum Guten? Oder ganz einfach die Kraft, gesellschaftlichen Spielchen, an denen er keinen Gefallen findet, den Rücken zuzuwenden?
***
»Schtingd nach Geld«, sagte die Frau, die neben ihr stand und sich mit dem Rücken an den Brunnen lehnte.
Lisi warf sich eine Handvoll Erdnüsse in den Mund und fing an zu kauen, ihre Augen mit den schweren Lidern wanderten über das geladene Publikum. Die Baumstämme funkelten golden, und Girlanden aus Goldpapier schaukelten zwischen den Blättern.
»Sie hat Ho-hornstig an der Tür vergessen mit seinem Feuer-feuer-feuerwerkkram«, sagte die betrunkene Frau kichernd, und Lisi murmelte etwas und dachte, wie eklig, wie furchtbar eklig.
»Wer gibt eigentlich diese Party?«. fragte sie die Frau und fügte sofort hinzu: »Ich heiße Lisi Badichi, ich schreibe für die Zeit im Süden.« Sie hatte genug Erfahrung, um zu wissen, dass sie sich vorstellen musste, bevor sie eine Information wollte, damit man hinterher nicht sagen konnte, sie habe die Betreffenden reingelegt und Dinge aus ihnen herausgeholt, ohne dass sie wussten, mit wem sie es zu tun hatten. Lisi betrachtete ihre kleine Nachbarin und fragte sich, was es wohl war, das sie innerlich auffraß. Geld? Liebe? Ehre?
»Wer sie g-g-g-gibt? Pah! Lubitsch Weine gibt die Party! Der Vater von der Frau des Richters Ho-ho-hornstig. Kennen Sie das Weingeschäft am Bus-bus-busbahnhof? Erinnern Sie sich an den vergifteten Wein aus Jugoslawien? Sie waren noch ein kleines Mädchen. Der Vater! Der Schwiegervater von Hornstick! Er. Er hat dafür gesorgt, dass sein Schwiegersohn sein Leben der Allgemeinheit widmen kann. Im Haus die Bilder an den Wänden, alles Originale! Das geht doch nicht von einem Richtergehalt! Mögen Sie Kaviar? Ich esse Kaviar, weil er teuer ist. Wenn er billig wäre, hätte ich ihn nicht gegessen. Nehmen Sie!«
Lisi bemerkte, dass die Zunge der kleinen Frau aufgehört hatte anzustoßen. Schmutziger Tratsch, dachte sie und nahm ein mit Kaviar und Kapern belegtes Schnittchen.
»Ist Lubitsch hier?«, fragte sie. »Kennen Sie ihn?«
»Klar kenne ich ihn.« Die Frau kicherte und verströmte einen säuerlichen Geruch nach Alkohol. »Er ist doch mein Vater, nicht wahr?«
Lisi wollte fragen, ob sie also die Schwester der Hausherrin vor sich hatte. Doch stattdessen kaute sie das belegte Schnittchen und murmelte etwas Unverständliches, wie man es tut, um Zeit zu gewinnen. Alex, die Gattin des Gefeierten, lief im Garten umher, gekleidet in ein goldenes Gewand, mit aufgestickten goldenen Ringen, die sich bei jedem Atemzug bewegten, und in ihrem tiefen Ausschnitt wogten ihre Brüste wie in Hängematten. Sie provoziert ihre Gäste mit ihren Brüsten, dachte Lisi, mit ihren braunen Augen und dem ganzen Gold. Was versucht sie zu beweisen, was versucht sie zu bekommen, wen will sie ärgern? Und diese Geschichte mit dem vergifteten Wein, ob sie wohl stimmt? Wieso war sie nicht bekannt geworden? Sie sah die Schlagzeile schon vor sich: »Schwiegervater des Bezirksrichters H. handelte mit vergiftetem Wein aus Jugoslawien«. Dafür würde sie eine Prämie bekommen. Und dann würden ihre Schwestern, sie sollen gesund sein, wieder zu ihr kommen, sie mit ihren bemitleidenswerten Geschichten füttern und ihr das wenige abschwatzen, was sie sich erspart hatte.
»Was ist das für ein Name, Alex?«, fragte sie die kleine Betrunkene.
»Alexandra, natürlich. Nach dem Namen von Alexandra, der Hasmonäerin.« Sie nahm einen Schluck aus dem Whiskyglas, das sie in der Hand hielt, und ihr Blick streifte hinüber zum Garten. Lisi folgte ihm bis zum Tisch der Familie. Dort saßen Alex’ Eltern, Lubitsch Weine und seine Frau, ein Junge und ein Mädchen, die offensichtlich Hornsticks Kinder waren, und ein Mann, der besorgt zu ihnen herüberblickte und vermutlich der Ehemann der Betrunkenen war. Alle aßen eifrig und beobachteten mit strengem Gesichtsausdruck die Gäste, die den Garten füllten.
***
Lisi beschloss, sich von der feindseligen Schwägerin zu verabschieden, Jacki Auf Wiedersehen zu sagen und nach Hause zu gehen. Sie war hier gewesen, sie hatte alles gesehen, sie hatte zweihundert Worte, mehr brauchte sie nicht. In einer halben Stunde würde sie zu Hause sein, ihren Bericht schreiben, und wenn nichts Besonderes passierte, würde sie noch vor Mitternacht ins Bett kommen. Die Heißwasseranlage des Gebäudes war wieder mal kaputt, und Lisi sagte sich zum soundsovielten Mal, dass sie sich einen privaten Boiler leisten konnte – ja, morgen, sofort wenn sie von der Militärkontrollstelle Erez zurückkam, noch bevor sie auch nur ein Wort geschrieben hätte, würde sie sich über alle Einzelheiten informieren. Sie hatte keinen Mann, sie hatte keine Kinder, sie nahm sich noch nicht einmal Urlaub, außer ein paar Tage für das Theaterfestival in Akko, da konnte sie sich als schwer arbeitende Frau doch wirklich heißes Wasser für die Badewanne erlauben, nein, sie hatte nicht vor, sich schuldig zu fühlen.
Im Salon bahnte sie sich einen Weg durch die Leute, um zu Jacki zu kommen, und erst als sie am Klavier stand, merkte sie, dass Alex ihr gefolgt war.
»Bald zünden wir die Feuerwerkskörper an«, sagte Alex.
»Haben Sie was getrunken? Gegessen? Sie wollen doch nicht schon gehen?«
Zwischen den einzelnen Wörtern machte sie kleine Atemzüge, ihre Stimme warf die Wörter in die Luft wie ein Jongleur seine Bälle, ihre aufgerichteten Brüste machten einen ganz nervös durch die ständige Bewegung der goldglitzernden Ringe. Lisi bedankte sich bei Frau Hornstick (»Nein, nein, nennen Sie mich doch Alex! Alle nennen mich Alex!«) und entschuldigte sich, dass sie gehen müsse, und während der ganzen Zeit spielte Jacki weiter, den Blick auf die Tasten gesenkt. Alex’ Hand lag auf seiner Schulter, und Lisi erinnerte sich jetzt, dass über Jacki geklatscht wurde, eine Bauingenieurin habe sich in ihn verliebt und ihm eine Wohnung in Siedlung G gekauft. Alex war sicher ein Dutzend Jahre älter als Jacki, und Lisi fragte sich, ob er noch andere ältere Freundinnen hatte. Sie nahm sich vor, darauf zu achten, in welcher Gesellschaft er sich herumtrieb.
»Soll ich Ihrem Mann Bescheid sagen, dass er reinkommt?«, fragte sie Alex.
»Er ist schon ein großer Junge. Wenn er will, kommt er einfach«, antwortete Alex. Sie hat recht, dachte Lisi. Wenn er beschlossen hat, die Party, die schließlich ihm zu Ehren stattfindet, damit zuzubringen, dass er an der Tür steht und die blöden Feuerwerkskörper in der Hand hält, so soll es ihm wohl bekommen, warum sollte ich mich da einmischen?
***
»Ist Ihre Frau Bauingenieurin?«, fragte sie Hornstick, als sie sich von ihm verabschiedete.
»Ja.«
Sein Gesichtsausdruck änderte sich nicht bei dieser Antwort, doch ihr war klar, dass er verstand, warum sie diese Frage gestellt hatte. Sie überlegte, warum seine Frau wohl die ganzen Jahre bei ihm geblieben war. Sie war schön und unternehmungslustig, hatte einen guten Beruf und war noch dazu die wohlhabende Tochter von Lubitsch Weine. Was band sie an ihn? Seine gesellschaftliche Stellung? Seine Klugheit? Die Gewöhnung?
Seine blonden, schon stark ergrauten Haare verliehen seinem Gesicht etwas Schmuddeliges, und seine Haut sah aus wie zerknittertes Zeitungspapier voller alter Teeflecken. Er versuchte nicht, sie zu beeindrucken, auch die übrigen Gäste nicht. Und obwohl die Party ihm zu Ehren stattfand, machte die Art, wie er an der Tür stand, die Feuerwerkskörper in der zusammengepressten Hand, den Eindruck, er isoliere sich, sondere sich ab, was nicht weniger arrogant wirkte als das viele Gold, das seine Frau ihm zu Ehren überall verteilt hatte.
»Haben Sie etwas getrunken? Haben Sie etwas gegessen?«
»Warum stehen Sie hier? Warum gehen Sie nicht hinein?«
»Sie haben recht. Kommen Sie, gehen wir hinein.«
»Ich gehe nach Hause.«
»Ohne Jacki Danzig?«
»Ich hatte einen langen Tag, und ich muss morgen sehr früh aufstehen.«
»Haben Sie das Haus gesehen? Den Swimmingpool?«
***
Er nahm sie am Ellenbogen, und sie ließ sich zu dem kleinen Flur neben dem Eingang führen, verließ sich auf ihre zehn Jahre bei der Lokalpresse, auf ihre Intuition – dieses besondere Gefühl, das ihr nun befahl: »Halt den Mund, Schätzchen, und bewege deine großen Plattfüße, möglicherweise bringt dir das vierhundert Wörter auf der letzten Seite ein.« Nach dem Garderoberaum und dem Fernsehzimmer und zwei Gästezimmern, dem Zimmer des Sohnes, der auf das Gymnasium ging, und dem Zimmer der Tochter, die noch in der Mittelstufe war, kamen sie zum Keller, der zum Swimmingpool führte. Ein auseinandergenommener Pingpongtisch, aufgerollte Gummischläuche, Badeschuhe in verschiedenen Größen, und links – die Tür zum Zimmer der Filipina, die jetzt oben zwischen den Gästen herumlief, ein herzförmiges weißes Schürzchen umgebunden.
Hornstick schloss hinter ihnen die Tür und stürzte sich auf sie. Sie sah die kleinen Schweißtropfen auf seiner Stirn und verstand, dass er beschlossen hatte, sich selbst ein Geschenk zu machen. Und als sie den ersten Schreck überwunden hatte, sah sie sich so, wie er sie sehen musste: eine große Kuh mit billigen Ohrringen, die Freundin des Klavierspielers, der meine Frau bumst, jetzt zahle ich es ihm heim. Sie zögerte, ob sie schreien sollte, Jackis Melodien drangen gedämpft und leise zu ihnen, wie ein Baldachin, der sich über ihre Köpfe spannte, und Lisi wusste, dass ihre Stimme, auch wenn sie schrie, nicht bis zum Garten dringen würde, und wenn sie sagen würde: »Herr Bezirksrichter, ich bin aber noch Jungfrau«, würde er vor Lachen ohnmächtig werden.
Sie schauten einander an, zwei geschlagene, müde Menschen, die in ihrem Leben zu viel gesehen hatten, um sich etwas von der Naivität zu erhalten, die der Mensch braucht. Eine ziemlich kleine Jeans hing über der Lehne des alten Sessels, und ein brauner Gürtel mit einer Metallschnalle, auf der ein Drache abgebildet war, lag zwischen Sitz und Lehne. Auf dem Tisch sah Lisi ein Päckchen Schmerztabletten, und in einem verstaubten Aschenbecher ein paar Perlen. Sie überlegte, was dieser kleinen Filipina wohl wehtat und ob sie hier einsam war, so weit weg von ihrer Heimat, und dass das eigentlich auch mal eine Reportage wert wäre. Der ehrenwerte Richter straffte seinen Körper, schob sich vorwärts, streckte die Hand in den Zwischenraum zwischen seinem Körper und der Tür, tastete nach dem Schlüssel und drehte ihn, als er ihn gefunden hatte, im Schloss um. Seine Augen waren auf Lisi geheftet, er war zu allem bereit. In der Luft hing ein muffiger Geruch nach Staub, geschlossenen Fenstern und fremdartigen Gewürzen. Die Bettwäsche war nicht ganz sauber, und Lisi fühlte, wie ihr übel wurde.
Es fehlten ihr die Voraussetzungen zum Vergleich, aber sie wusste, dass er wütend war. Wütend auf die Liebhaber seiner Frau und wütend, dass alle Leute darüber Bescheid wussten, sogar Lisette Badichi, die unter dem Namen Lisi die Bekloppte bekannt war, der Fußabstreifer vom örtlichen Käseblatt, und dass er seine Wut an ihr ausließ. Ein heftiger Schmerz schoss plötzlich durch ihren großen, schweren Körper, und sie dachte, sogar das hier habe ich bekommen wie andere Frauen die Rechnung im Supermarkt. Ihre Beine waren nass, und sie wartete darauf, dass er ihr den Rücken zukehrte, damit sie sich mit dem Leintuch der Filipina abtrocknen könnte. Aber er lag auf ihr, hatte die Augen mit der Hand bedeckt, und die Töne, die aus seiner Kehle kamen, klangen anders, als sie erwartet hatte, jedenfalls war alles anders, als sie es aus Filmen kannte. Das Kissen roch muffig, und sie überlegte, dass er bestimmt auch manchmal mit der Filipina hier lag, denn er hatte das Zimmer betreten, als wäre es sein eigenes. Auch Horn-horn-hornstig hat ein paar kleine Geheimnisse, nicht nur seine Frau.
***
»Warum hast du es mir nicht gesagt?«, fragte er.
Er hat Angst, dachte Lisi erstaunt, er hat Angst vor mir. »Bezirksrichter vergewaltigte Reporterin.« Ja, das wäre ein Knüller! Und es würde sogar für eine Prämie reichen. Sie fühlte sich großherzig und stark. Sie drückte ihn von ihrer Brust, schob seine Hand von seinen Augen und betrachtete seine blassen Wimpern und die faltigen Lider, die gelblichen Sommersprossen auf seinen Schultern und die Flecken auf der dünnen Haut und merkte sich genau, wie der Mann, der sie endlich von ihrer Jungfernschaft erlöst hatte, aussah, jedes Detail. Sie lächelte ihn an, strich ihm über die dünnen, feuchten Haare und flüsterte: »Du musst zurück zu deinen Gästen.«
»Was ist mit dir?«
»Ich bin in Ordnung.«
Er betrachtete sie, und sie wusste, dass er sie erst jetzt wirklich wahrnahm. Er schaute sie an, wie sie noch nie von einem Mann angeschaut worden war, und sie ließ zu, dass er ihre weiche Haut musterte, die braunen, ein wenig schräg stehenden Augen, die kurzen Schafslocken und die riesigen Plastikohrringe, die sie noch immer an den Ohren hatte und die das berufliche Markenzeichen von Lisi der Bekloppten waren. Sie fühlte, dass sie schön war. Dass ihre Haut glänzend und frisch war, und dass jetzt, im Liegen, auch ihre Brüste voll, anziehend und herzerfreuend aussahen.
»Das nächste Mal tut es nicht mehr weh«, sagte er.
»Ich weiß.«
»Wo wohnst du?«
»Ruf mich nicht an, Schätzchen. Du bist jetzt Bezirksrichter.«
Plötzlich fingen sie an zu lachen, und Lisi sah, wie er verstand, dass sie ihm keine Schwierigkeiten bereiten würde, wie ihn das beruhigte und wie ihm die Sache nun auch Spaß machte.
»Was macht dein Schwager?«, fragte sie ihn.
»Er ist Geschäftsmann. Weinhandel.«
»Mag er seine Arbeit nicht?«
»Nein.«
»Deine Schwägerin ist sauer auf dich.«
»Sie ist eifersüchtig auf ihre Schwester. Die Lubitschs haben beschlossen, alles auf ein Pferd zu setzen, auf mich nämlich.«
»Vielleicht weil dieses Pferd Rennen liebt?«
Er betrachtete sie erstaunt, dann beugte er sich vor und streichelte mit seinem Daumen die weiche Stelle zwischen ihrem Hals und ihren Brüsten, hob einen Ohrring an und berührte mit den Lippen ihre Halsbeuge zwischen Ohr und Haaren. Sie hörte, wie er schneller atmete, sein Appetit wurde wieder wach. Durch die Zimmerdecke drang eine Tangomelodie zu ihnen, und Lisi fragte sich, ob das Haus noch einen anderen Ausgang hatte, am Swimmingpool vorbei.
»Du bist ein tolles Mädchen, Lisi.«
»Sie sind auch in Ordnung, Herr Hornstick.«
***
Als sie zu Hause ankam, drehte sie im Badezimmer den Wasserhahn auf und setzte sich hin, um die zweihundert Wörter über die Party zu schreiben, die zu Ehren des neuen Bezirksrichters stattgefunden hatte. Sie vergaß auch nicht, Jacki Danzig zu erwähnen, außerdem das Klavier der Firma Israha, auf dem er immer spielte. Die Überschrift ihres Artikels lautete: »Ein Lokalheld«.
Es war drei Uhr nachmittags, und Regen klatschte an die großen Fenster. Lisi saß in der Redaktion und tippte ihren Bericht über die Militärkontrollstelle Erez. Es hätte eine gute Story werden können, wenn sie nicht bei ihrer Ankunft an der Militärkontrollstelle Erez einen Reporter und einen Fotografen des staatlichen Informationsbüros vorgefunden hätte, und – was noch schlimmer war – Beni Adolam, den Reporter der Post im Süden. Ihr Zeitplan war durcheinandergebracht, das war klar, aber sie hatte keine Wahl, sie musste der Geschichte nachgehen. Denn wenn sie nur in der Konkurrenzzeitung erschiene, dann würde Arieli, ihr Redakteur in Tel Aviv seine Drohung wahrmachen und Doron Cement nach Be’er Schewa schicken, um den Job als »unser Reporter im Süden« zu übernehmen.
***
Nach dem Besuch der Militärkontrollstelle Erez versammelten sie sich alle in der Polizeistation am Kikar Hamedina, und dort trafen sie den örtlichen Bezirksratsvorsitzenden des Gazastreifens und den Kommandanten des Bezirks Süden. Während sie die Zelle eines Häftlings betraten, eines Angehörigen der islamischen Jihad, hörten sie einen Hilferuf, der aus dem Funkgerät des Diensthabenden drang. Eine Frau war dabei, auf offenem Feld ein Kind zur Welt zu bringen. Lisi fragte, ob sie in dem Streifenwagen mitfahren dürfe, der die Frau ins Krankenhaus bringen sollte, und erhielt die Erlaubnis. Sie bemerkte das Zögern Beni Adolams. Was war wichtiger? Der Gefangene von der islamischen Jihad-Bewegung oder eine Geburt auf offenem Feld? Die Jihad-Bewegung siegte, und Lisi lief hinaus. Sie hoffte, den Polizisten und die Polizistin im Streifenwagen zum Reden zu bringen.
Auf dem Feld fanden sie drei erschrockene Kinder und eine Frau, die sich in Geburtswehen wand, und über ihnen zog ein schwarzer Rabe seine Kreise und krächzte. Es stellte sich heraus, dass dieser Rabe, der Issa hieß, bei der Familie aufgewachsen war, quasi als Kind des Hauses, und als es losgegangen und seine Herrin zu Boden gesunken war, war er nach Hause geflogen, hatte geschrien und mit den Flügeln geschlagen, bis die anderen ihn bemerkten und zum Feld liefen. Lisi wartete im Krankenhaus, zusammen mit dem aufgeregten Vater und drei Kindern, bis die Nachricht kam: »Ein Sohn!« Eine Überschrift für diese Story war ihr eingefallen, während sie auf einem Stuhl im Krankenhausflur saß: »Ein Rabe als Geburtshelfer«. Wir werden schon sehen, ob du was Besseres bieten kannst, Beni Adolam, dachte sie zufrieden.
Adolam studierte Orientalistik und Geschichte und verdiente sich seinen Lebensunterhalt, indem er für die Post im Süden schrieb. Lisi hatte ursprünglich gehofft, dass sein Studium einen beträchtlichen Teil seiner Zeit beanspruchen würde, doch zu ihrem Leidwesen hatte sich herausgestellt, dass er vom Zeitungsfieber angesteckt worden war. Be’er Schewa war ihm zu klein geworden, er hatte bereits begonnen, zur überregionalen Ausgabe der Post zu schielen. Er zögerte auch nicht, wegen eines aktuellen Berichts irgendwelche Vorlesungen über den großen Suleiman oder andere ehemalige Größen zu versäumen, genau wie sie es während ihres Studiums an derselben Fakultät getan hatte, damals, zu Beginn ihrer Karriere bei der Zeit im Süden. Bis er vor ungefähr einem Jahr auf der Bildfläche erschienen war, hatte sie keinerlei Konkurrenz gehabt. Die Post im Süden war ein ausgezeichnetes Handelsblatt gewesen, das ausführlich über die Bedeutung des Tourismus berichtete, der endlich auch Be’er Schewa erreicht hatte, über die Sparsamkeit besonderer Bewässerungsschläuche mit Löchern, die sich in den Ziergärten bewährt hatten, und über den neuesten Schrei bei Windeln für empfindliche Haut. Beni Adolam war die Antwort der Post im Süden auf Lisi Badichi, und seit er seine Arbeit aufgenommen hatte, verfolgte er sie schamlos und ohne Hemmungen. Wo immer Lisi hinkam, tauchte auch Beni Adolam auf, und die Leute gewöhnten sich daran, dass es zwei Reporter in Be’er Schewa gab: die bekannte Lisi Badichi und Beni Adolam, der aufsteigende Nachwuchs. Sie wusste, dass er das nie sagte – das hätte er sich nicht getraut –, aber er vermittelte den Leuten den Eindruck, als sei sie die Vergangenheit und er die Zukunft.
Das Ärgerlichste war, dass er sie dazu zwang, schwer zu arbeiten und immer auf dem Sprung zu sein. Es gab Orte, zu denen sie eigentlich nicht gehen wollte, Ereignisse, an denen sie nicht teilnehmen wollte, und trotzdem raffte sie sich schließlich auf und ging hin, ob sie Lust hatte oder nicht, weil eine einzige Sorge sie bewegte: Was ist, wenn sich herausstellt, dass Adolam dort war und ich nicht? Es war Dahan, der ihr erzählt hatte, dass Arieli erwog, Cement zu »unserem Reporter im Süden« zu machen, und es war auch Dahan, der sich die Mühe machte, ihr von jedem Werbeinserat zu berichten, das in der Post im Süden erschien, nicht aber in der Zeit im Süden, als trage sie – und nur sie – die Schuld daran.
Lisi schickte den Artikel nach Tel Aviv, stand auf, streckte sich, malte sich die Lippen an und hängte sich ihre große Schultertasche um. Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Es hatte aufgehört zu regnen, doch der Himmel war grau und deprimierend. Hinter der Tür hörte sie die Stimmen von Dahan und Schibolet, und sie fragte sich, ob er auch sie in die Liste seiner Eroberungen eintragen wollte. Lisi war müde und hungrig und sehnte sich danach, nach Hause zu fahren, ein Schaumbad zu nehmen und ins Bett zu gehen. In der letzten Nacht hatte sie nur zweieinhalb Stunden geschlafen, und den ganzen Tag über hatte sie den Gedanken an das, was ihr auf der Party passiert war, weggeschoben. Sie hatte den Bericht über das Fest im Hause Hornstick auf die zweite Seite platziert, unter ein Foto Hornsticks und seiner Frau. Im Hintergrund war ein Mann zu sehen, der aussah wie Baba Sali, der Wunderrabbi. Ein Teil des Berichts war nach Tel Aviv gegangen und dort in die überregionale Ausgabe der Zeit übernommen worden.
Lisis Rückenmuskeln schmerzten, und der Gedanke an ein heißes Bad erinnerte sie an das Heißwassergerät, das sie vorhatte zu kaufen. Sie beschloss, diesmal nicht aufzugeben, egal wie müde sie war, ein für alle Mal würde sie sich dieses Ding anschaffen.
»Habt ihr eine Ahnung, wo man einen Boiler fürs Badezimmer kauft?«, fragte sie Dahan und Schibolet.
Die beiden saßen auf dem großen Schreibtisch und tranken Kaffee aus Styroporbechern.
Schibolet war Dahans Neuerwerbung. Sie war eine Kibbuznikit, hatte die Militärzeit hinter sich und war in die Stadt gekommen, um Geld für eine Reise in den Fernen Osten zu verdienen. Sie wohnte in einer Wohngemeinschaft in der Nähe von Schekem, mit fünf anderen Kibbuznikim, die sich zu dem gleichen, gemeinsamen Ziel zusammengetan hatten – zwei Mädchen und ein Junge aus Sade Asanja und drei junge Männer aus dem Kibbuz Adra’i. Zur Überraschung aller war Schibolet eine gute Sekretärin. Sie konnte Schreibmaschine schreiben, den Fernschreiber und das Modem bedienen, sie führte die kleine Kasse genau und ordentlich, vergaß nicht, Nachrichten weiterzuleiten, und – was für eine Kibbuznikit von zwanzig, die die Welt erobern wollte, noch wichtiger war – sie war nicht beleidigt, wenn man sie bat, Kaffee zu kochen oder belegte Brote vom Kiosk zu holen.
»Du hast doch eine zentrale Warmwasserversorgung«, sagte Dahan.
»Die ist immer kaputt. Ich möchte einen eigenen Boiler. Manchmal funktioniert das Gerät nicht, manchmal sind die Rohre kaputt. Ich hab die Nase voll.«
»Man hat die Frau von diesem Richter umgebracht.«
»Von was für einem Richter? Was für eine Frau?«
»Sie haben es in den Nachrichten gebracht.«
»Was?«
»Die Frau von Hornstick. Erschossen. Irgendwann während der Party.«
»Wer hat sie erschossen?«
»Keine Ahnung. Das war alles, was sie gesagt haben. Man hat sie im Lauf der Party erschossen. Die Beerdigung war heute Nachmittag. Der Pathologe hat sie untersucht, die Polizei hat die Vermittlungen aufgenommen.«
Dahan blickte sie an, als warte er darauf dass sie ihm etwas mitteilte, was nicht in den Nachrichten gekommen war. Er besaß die aufrechte Haltung der erfolgreichen Männer, denen die Natur lediglich die Größe von einem Meter siebzig verliehen hat. Zwischen Nase und Mund hatte er Falten, die ihr bisher nicht aufgefallen waren. Vor einem Jahr war er in ein Villenviertel umgezogen und hatte seiner Frau eine Parfümerie gekauft. Die Tochter erhielt Klavierstunden und Ballettunterricht. Er arbeitete sich bergauf, seine Zeit ging bergab. Der Zusammenstoß war unvermeidbar.
***
Der Kragen ihres Regenmantels hatte sich unter dem Riemen ihrer Tasche verschoben und drückte sie auf der Schulter. Lisi stellte die Tasche auf den Boden und versuchte sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal Nachrichten gehört hatte. Als sie im Gaza-Streifen mit den Polizisten zu dem Feld gefahren war, vor einer Ewigkeit also, da hatten sie im Auto Nachrichten gehört. Aber es war nichts über einen Mord an Alexandra Hornstick gekommen. Wer hatte Alexandra Hornstick ermorden wollen?
»Geh nach Hause, Lisi. Es regnet, du hast schwer gearbeitet und bist um drei Uhr morgens aufgestanden.«
»Was soll ich machen?«
»Du bist ganz grau vor Müdigkeit, Lisi. Wir kümmern uns morgen um die Sache.«
Erst jetzt verstand sie, dass er über den Boiler gesprochen hatte.
»Kennst du jemanden, Schätzchen?«
Dahan zu fragen, ob er »jemanden kenne«, war, als frage man einen Arzt, ob er mal was von Grippe gehört hatte. Schlimmer: Es war fast eine Beleidigung. Dahan kannte persönlich jeden Händler und jeden Vertreter zwischen Aschdod und Eilat, und er wusste nicht nur für jedes Problem eine Lösung, sondern diese Lösung war auch immer um zehn Prozent billiger.
Das Telefon klingelte, Dahan nahm ab und sagte: »Ja, Doritchen.« Dann bedeckte er die Muschel mit der Hand. »Du kannst dich ja einstweilen mit kaltem Wasser waschen«, sagte er zu Lisi.
Lisi hatte Angst, sie könnte anfangen zu weinen, wenn sie nur den Mund aufmachte. Man bringt die Frau des Richters bei der Party um, die zu Ehren seiner Berufung gegeben wird, und Lisi Badichi, die auf dieser Party war, schickt der Redaktion einen Bericht – und über was? Ja, richtig, über ein weißes Klavier!
***
Sie verließ die Redaktion, bewegte ihre großen Flossen in Richtung Aufzug. Dahan hatte recht. Sie war müde. Sie überlegte, ob ihr Bericht überhaupt in der überregionalen Ausgabe erscheinen würde und ob es nicht vielleicht doch ein Fehler gewesen war, sich von Beni Adolam zu trennen. Erst als sie auf der Straße war, fiel ihr ein, dass ihr Auto vor der Stadtkommandantur stand, von dort war sie vor dem Morgengrauen, vor Hunderten von Jahren, aufgebrochen. Einen Moment erwog sie, ins Büro zurückzugehen und ein Taxi zu bestellen oder Dahan um Hilfe zu bitten. Die Gehsteige waren regennass und glänzten, und irgendeine gute Seele vom Elektrizitätswerk hatte die Straßenbeleuchtung eingeschaltet, obwohl es noch nicht dunkel wurde. Die Luft war klar und kühl. Lisi atmete tief ein und dehnte ihre Lunge. Autos fuhren an ihr vorbei, mit Standlicht, und sie sah düstere Leute in Wintermänteln, die sich beeilten, zwischen einem Regenschauer und dem nächsten irgendwohin zu gelangen. Lisi beschloss, zu Fuß zum Parkplatz zu gehen. Sie genoss das Laufen und den Anblick der Schaufenster. Die Stadt spannte ihre Muskeln, genau wie sie selbst.
Neben der Stadtkommandantur, zwischen dem Blumenladen und dem Café der jüdisch-christlichen Sekte befand sich der Laden von Tante Klara und Onkel Ja’akow. Kassetten, Plastikblumen, Glückwunschkarten, im Sommer Sonnenbrillen, im Winter Schirme, Gürtel, Ohrringe und vor allem – Onkel Ja’akow, das ganze Jahr über im dreiteiligen Anzug und mit Bowler, und Tante Klara, eine ehemalige Opernsängerin aus Ägypten. Sie waren Experten, was die Opern von Gilbert und Sullivan betraf und das in einer Stadt, in der die wenigsten Einwohner überhaupt wussten, dass es ein Weltereignis wie Gilbert und Sullivan überhaupt gab. Vor langer Zeit war Onkel Ja’akow, der damals noch Jacques hieß, Pianist im Opernorchester von Alexandria gewesen, und Tante Klara, die damals Claire hieß, war Sängerin im Chor. Während der Proben hatte sie einen Monat lang den schönen Kopf des Pianisten unten im Orchestergraben gesehen und sein Spiel aus dem aller anderen Orchestermitglieder herausgehört. Hinter den Kulissen erzählte man sich, er sei der Geliebte der Primaballerina Elfrida Kirilowa, der ägyptischen Isadora Duncan. Man sagte, er habe sie verzaubert, sodass sie erschauere, wenn er nur in ihrer Nähe sei, und dass man in der Direktion überlege, ihn zu entlassen. Als Claire ihn schließlich vor einer der Proben traf und herausfand, dass er fast ein Zwerg war, störte sie das nicht, ebensowenig wie es Ja’akowtschik störte, dass Claire einmal ein Mann namens Menasche gewesen war. Sie verliebten sich ineinander. Elfrida drohte, Claire und Jacques umzubringen – das erzählte man sich wenigstens innerhalb der Familie, und den beiden blieb nichts anderes übrig, als von Alexandria nach Be’er Schewa zu fliehen.
Tante Klara zog Lisi all ihren übrigen Neffen und Nichten vor. Sie verwöhnte sie mit Geschenken und Schmeicheleien, und ihre Prophezeiungen einer großen Zukunft erfüllten sich, als Lisi – nachdem sie ein Studium an der Universität von Be’er Schewa vorzeitig abgebrochen hatte – Journalistin wurde. Die Tatsache, dass Lisi keinerlei Diplom besaß, störte Tante Klara nicht. Sie fragte Lisi, was sie von der neuen Frisur Königin Fabiolas hielt und ob Rainier nach dem Tod der armen Grace ihrer Meinung nach noch einmal heiraten solle. Lisi überlegte sich ihre Antworten ernsthaft und versuchte, ihre gute Tante nicht zu enttäuschen.
Im Laden waren keine Kunden. Onkel Ja’akow schlummerte hinter der Kasse, und Tante Klara saß in der Türöffnung und legte auf dem Klapptisch eine Patience, mit gebeugtem Rücken und hängenden Schultern, die graue Katze auf dem Schoß. Der verstaubte Plattenspieler dudelte heiser irgendeine Arie aus einer Oper, die Lisi nicht kannte. Einzelne Regentropfen fielen vom Asbestdach in ihren Kragen.
»Ist was passiert, Lisi?«, rief Tante Klara mit ihrer tiefen Altstimme. »Arieli! Was hat er diesmal gemacht?«
Lisi sagte, sie sei müde. Sie habe ihr Auto auf dem nahen Parkplatz stehen, weil sie ohnehin hier vorbeimusste, habe sie beschlossen, schnell noch eine Kassette für ihr Aufnahmegerät zu kaufen.
»Irgendein Mann im Spiel, Lisi?«
»Es gibt keinen.«
»Ich habe gerade hintereinander ein Herz und ein Kleeblatt gezogen und sofort an dich gedacht, Lisi«, sagte Tante Klara und blickte besorgt zu Ja’akow hinüber. Hatten die Karten sie betrogen? Tante Klara hing, seit Lisi achtzehn geworden war, irgendwelchen fixen Ideen nach, was mögliche Liebesromanzen ihrer Nichte betraf. Lisi hatte ihr allerdings nie etwas vorgemacht. Tante Klara verfolgte sie mit kleinen Ratschlägen, mit Geheimnissen von Frau zu Frau. »Chanel Nr. 5!«, flüsterte sie nun, als ginge es um ein gefährliches Gift. »Hast du welches?«
»Nein, Tante Klara.«
»Ich besorge es dir.«
»Nein, nicht nötig.«
Und dann brach alles aus ihr heraus, Namen und Ereignisse sprudelten über ihre Lippen, und Klara und Ja’akow hörten mit aufgerissenen Augen zu. Lisi wusste, dass die beiden später, wenn sie gegangen war, alles wieder und wieder miteinander besprechen würden, wahrscheinlich bis sie sich das nächste Mal trafen. Lisi war ihre Verbindung zu einer wunderbaren Welt der Fantasie, nach der sich ihre Seelen sehnten und die sie die engen Grenzen ihres eigenen Daseins vergessen ließ. Eine überirdische Welt für den, der sie sah, und wer sie nicht sah, dem konnte man sie auch nicht erklären.
Diesmal hätte Lisi allerdings einen realen Rat brauchen können. In ihrem Kleiderschrank lag eine Packung Antibabypillen, die sie vor drei Jahren gekauft hatte. Sollte sie sie nehmen? Oder in den Mülleimer werfen? Hatte sie sich in einer Nacht in eine gierige Frau verwandelt, in deren Bett Männer herumzappelten wie Fische in einem Netz? Merkte man ihr eine Veränderung an? Sollte sie zu einem Gynäkologen gehen? Sich mit ihren Schwestern beraten? Die Müdigkeit, die sie empfand, war sie möglicherweise das erste Zeichen einer Schwangerschaft?
Lisi verabschiedete sich von Tante Klara und Onkel Ja’akow versprach, sich gerade zu halten, tief zu atmen, ihre Haut mit Kamillekompressen zu pflegen, vor dem Frühstück Tee aus japanischer Kamille zu trinken und sich gleich morgen Chanel Nr. 5 zu besorgen.
***
Sie hörte ihren Pieper, noch bevor sie am Parkplatz ankam. Sie konnte den Ton ihres eigenen Piepers von dem anderer Leute genau unterscheiden. Als sie sich mit der Redaktion in Tel Aviv in Verbindung setzte, hörte sie die verärgerte Stimme Arielis.
»Wo stecken Sie nur, Badichi? Schon seit einer Stunde suchen wir Sie!«
»Ich komme aus der Redaktion.«
»Wozu hat man Ihnen einen Pieper gegeben, wenn Sie ihn nicht benutzen?«
»Ich bin um drei Uhr morgens aufgestanden. Ich bin zur Militärkontrollstelle Erez gefahren. Ich habe einen Bericht geschickt.«
Arieli setzte sich nur mit ihr in Verbindung, wenn er wütend auf sie war. Nie im Leben sagte er ihr ein freundliches Wort. Auch wenn er ihr eine Prämie schickte, lobte er ihre Arbeit nicht. Das Knistern, das aus dem Telefon kam, war wie der Weg, der zum Schafott führte.
»Wo sind Sie?«
»Am kleinen Kiosk neben dem Parkplatz. Ich habe vor, nach fünfzehn Stunden Arbeit nach Hause zu fahren.«
»Und Ihr Bericht über Hornstick?«
Lisi schwieg. Sie betrachtete das Telefon, als habe es sich in den Rachen eines wilden Tieres verwandelt, das sie mit seinen scharfen Zähnen zu zerreißen drohte.
»Badichi!«
»Ja?«
»Sie waren bei der Party?«
»Ja.«
»Hornsticks Frau ist während der Party ermordet worden.«
»Ja, ich habe es gehört.«
»Die Beerdigung war heute Nachmittag, und Sie schicken mir einen Artikel über einen Klavierspieler und das kalte Büfett. Die Frau des Bezirksrichters wird während einer Party in ihrem eigenen Haus ermordet, meine Reporterin befindet sich am Ort des Geschehens und liefert mir einen Bericht über belegte Schnittchen. Ich werde Cement schicken.«
***
Zeit im Süden,
»Sind Sie sicher, dass Sie zurechtkommen?«
»Ja.«
Fast wäre Lisi vor dem Telefon auf die Knie gefallen.
»Ich habe Ihnen eine Prämie für den ›Raben als Geburtshelfer‹ geschickt.«
»Danke.«
»Das war, noch bevor ich von dem Mord erfahren habe.«
Plötzlich war das Gerät still. Der Parkplatz war leer und dunkel, es begann wieder zu regnen. Lisi fühlte sich einsam wie schon lange nicht mehr.