Arezu Weitholz ist seit den Neunzigerjahren eine enge Freundin der Familie Grönemeyer. Sie lernte Herbert durch Interviews kennen und wurde gebeten, bei der Platte Bleibt alles anders erstmals mit ihm zusammenzuarbeiten. Seit dem Album Mensch fungiert sie bei seinen Texten als Dramaturgin, verbale Anspielstation und wortfeile Gegenüberin und Ergänzerin. Arezu Weitholz selber ist eine renommierte Journalistin und Autorin mehrerer Gedichtbände und Romane; ihr Buch Beinahe Alaska wurde 2022 mit dem Hans-Fallada-Preis ausgezeichnet.
Herb, sagt Alex. Immer nur Herb.
Mit Illustrationen von Katrin Funcke
und Skizzen von Arezu Weitholz
Verlag Antje Kunstmann
Die Menschen von Zu Mensch
Prolog
Das Lied Mensch – ein Intro
Erinnern wir uns – und wie es zu diesem Buch kam
Warum London?
Neuronenknoten – über London im Jahr 2000
Wie alles beginnt – über Anfänge
Hier will ich einen Kakao trinken – über Räume
Der Krautrock-Kompensator – über Grönland und NEU!
Der Klang der Stadt – übers Ausgehen und die Größe der Welt
Das begehbare Moodboard – eine Tapete aus Ideen und das Sandkorn-Prinzip
Essen und Mensch – übers Kochen und ein Rezept
Der Durchbruch – Lichteinfälle
Die Mayfair Machine – über das Grundgefühl und den Weg eines Liedes
Über Schlüssel-Songs – und wie sich Herbert und Alex kennenlernten
Das Mayfair Studio
Das machen wir hier so – über Pedals und das Kratzen im Getriebe
Was ein Theater – über Ideen
Die Musik bewohnen – über das gemeinsame Drauflosspielen
Haste Töne
Zum Meer I – Die Zäsur
Eine Frage der Form – über Harmonien
Die Rede – über Heimat und über Sprache
Was ist richtig?
Das Mensch-Video I
Zum Meer II – der Fanfarenmoment
Ich wäre gern ein Dabbeldab – über Bananentexte
Das mit dem Momentan – der erste Text
Zum Meer III – Birdy bekommt einen Text
Alles kommt zusammen – über das Mixen und den Mut des Behauptens
Wenn ich das singe, reimt sich das
Der allerletzte Tag und das Artwork
Abschiede, und woraus ein Mensch besteht
Reklame
Mensch ist in der Welt, und was Reihenfolgen sagen
Hier in Primrose Hill und dort im Stadion
Proben
Das erste Konzert – und wie sich das alles anfühlt
Die Open-Air-Vorbereitung und die kleine Bärenkunde
Die Unterwelt und die Open-Air-Tour
Es gibt Essen
Spielfreude
Die Wärme
Epilog – das Mensch-Video II
Schlagwortlexikon
Index
DIE KINDER Herberts Kinder
ALLI MCINNES ist eine Freundin und Musikerin mit eigener Band
ANTON CORBIJN ist Fotograf, Filmemacher und ein guter Freund, der ganz in der Nähe lebt
RENE RENNER ist im Jahr 2000 Geschäftsführer von Herberts Plattenfirma Grönland Records
NORBY heißt eigentlich
NORBERT HAMM und spielt Bass in Herberts Band
JAKOB HANSONIS spielt Gitarre in Herberts Band
ALEX SILVA ist der Co-Produzent des Albums, er und Herbert lernen sich in diesen Jahren erst richtig groß kennen
JOHN HUDSON führt mit seiner Frau Kate das Mayfair Studio und ist ein begehrter Mixer
SYLVIA KOLLEK ist die Chefin von Herberts Plattenfirma, Capitol Records, die zur EMI gehört
STEPHAN ZOBELEY spielt Gitarre in Herberts Band
BIRGIT MENGE ist eine Freundin der Familie und kümmert sich auch um die Kinder
MICHAEL ROTHER ist Musiker und die eine Hälfte der deutschen Gruppe NEU!
DOMINIC BOUFFARD, Freund von ALLI MCINNES, ebenfalls Musiker mit eigener Band
ULI heißt eigentlich ULRICH STEIN, ist Filmemacher und der älteste Freund aus Herberts Tagen beim Theater
JUTTA LANDKOTSCH übernimmt mit ihrem Partner Oliver Bürkel für die Tournee das Catering
GÜNTER JÄCKLE ist Lichtdesigner und entwickelt gemeinsam mit Fritze Krauch die Bühne
FRITZE heißt eigentlich FRIEDERIKE KRAUCH und designt die Bühnen der Mensch-Tour
ALFRED KRITZER spielt die Keyboards, singt live zweite Stimme und arrangiert auch die Streicher
DODO NKISHI ist Schlagzeuger und spielte damals bei der Gruppe Mouse on Mars
FLORIS VAN HEST ist der Chef der Streicher, die live mit auf Tour gehen
NICK INGMAN, Streicher-Arrangeur, arbeitet seit Bleibt alles anders mit Herbert zusammen
ANDI ZABEL ist Herberts Backliner und hat mit Herbert auf der Bühne den heißen Draht
ARMIN RÜHL spielt Schlagzeug in Herberts Band
WALTER SCHÖNAUER ist Art-Direktor und entwirft das Artwork, das vieles beeinflussen wird
CLAUDIA KALOFF ist Herberts langjährige Vertreterin
FRANK BENDER ist damals in der Promotionabteilung der EMI zuständig für die Abteilung Print
ANDY REITZ ist Head of Radiopromotion bei der EMI, also Radiochef
KERSTIN LEIPOLD setzt die textilen Vorstellungen von Lichtdesignern um
AXEL KOCH, Bärendompteur, setzt Deko und Bühnenaufbauten um
DIRK BECKER ist Tourneeplaner und Freund. Er arbeitet seit vielen Jahren mit Herbert zusammen
HARALD BULLERJAHN unterstützt Herbert seit den frühen Achtzigerjahren als Tourmanager und Vertrauensmann
UWE FREYER ist der Tourmanager für die Band
INGO MERTENS passt auf Herbert auf
STEPHAN JAUCH ist bei der Mensch-Tour unter anderem auch fürs Fahren zuständig
AREZU WEITHOLZ lebt im Jahr 2000 in London und schreibt als freie Korrespondentin für deutsche Printmedien
Ein Junge sitzt in den Dünen und schaut aufs Meer. Er ist fünf und wie jedes Jahr mit seinen Eltern und seinen zwei älteren Brüdern zur Sommerfrische auf Walcheren, einer Landzunge am äußersten Ende von Holland.
Jedes Mal, wenn die Familie in den Urlaub fährt, wird im Auto gesungen. Er liebt das. Er schrubbt bereits tierisch gut auf seiner Ukulele und singt alles, was sich singen lässt. Lieder aus der Mundorgel und was so im Radio läuft. Er hat noch keinen Klavierunterricht wie seine Brüder. Von einer Gitarre träumt er nur. Doch in diesem Moment denkt er nicht an Musik. Er sitzt da und schaut. Da hinten liegt Großbritannien. Am Horizont sieht er Containerschiffe. Er weiß, sie sind unterwegs von Rotterdam nach Southampton. Viele fahren sogar noch weiter. Nach Amerika. Nach Kanada. Nach Südamerika. Es macht ihn froh, sie zu sehen. Er weiß auch nicht, warum.
Aufbruch
Etwas bricht auf. Jemand macht sich auf eine Reise, gerät in Bewegung. Ein Los. Ein Auf. Ein Neubeginn. Dinge, die einen am Aufbruch hindern: Zweifel. Mutlosigkeit. Falsches Schuhwerk.
Das Schöne bei einem Lied ist, dass man es nicht sehen kann. Es umgibt einen, aber man hört es nur. Hat es ein Gesicht? Einen Eingang, so wie ein Haus eine Tür? Woher stammt es? Wie ist es in die Welt gekommen? Das Lied, um das es hier geht, hat viele Anfänge. Es ist zusammengeflogen, aus Ideen und Eindrücken, aus Zufällen und Pausen, aus Gefühlen und Ahnungen, aus Erinnerung und Energie.
Da wäre zum Beispiel eine Melodie. Finger spielen auf einem Klavier. Etwas Verhaltenes, Ahnungsvolles. In e-Moll. Augen schauen auf die Finger. Plötzlich wechselt die Stimmung, es klingt leichter, hoffnungsfroher, die Tonart hat sich verändert. Es ist D-Dur.
Da wäre eine Bassgitarre. Alex spielt Bass, um seine Finger aufzuwärmen. Halt, ruft eine Stimme aus der anderen Ecke des winzigen Studios. Spiel das noch mal. Aber spiel mal: duba duba diba duba.
Da wäre der Groove. Eine Band in einem Tonstudio.
Wir hören Reggae. Köpfe nicken.
Da wäre der Hintergrund. Eine Möwe schreit.
Wo sind wir?
Da wäre der Gesang. Walkin down on a reason, we can getin right. Walkin down on a reason, babe, see the water rise.
Da wäre eine Seemannsorgel. Wie kommt die denn hierher? Ist da ein Vergnügungspark am Meer? Hören wir die Specials*?
Da wären Textzeilen. Über und über beschriebene Seiten Papier liegen auf einem Schreibtisch in einer leeren Wohnung. Draußen rauschen Bäume und der Londoner Stadtverkehr.
Da wäre die Erinnerung. Ein Junge sitzt am Strand in Walcheren.
Da wäre der Aufbruch. Ein Kopf hebt sich.
Das Lied Mensch erscheint am 5. August 2002 als CD in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Noch bevor die Single in den Läden steht, läuft sie bereits seit Wochen überall im Radio. Mitte August kennt fast jeder in Deutschland das Lied oder Zeilen daraus. Lautet die berühmteste »Nach der Ebbe kommt die Flut«? Aber welche Flut? Oder ist es die Zeile »Es ist okay«. Aber was wäre okay? Nein, die berühmteste Zeile lautet: »Du fehlst.« Aber wer fehlt?
Das Lied, das sich bereits Wochen vorher selbst auf die Reise gemacht hat, wird von vielen auch im Zusammenhang mit einer Sache erinnert: dem Wetter Anfang August. Im Sommer 2002 sorgen Regenfälle in Deutschland, Tschechien und Polen für noch nie da gewesene Pegelstände der Flüsse und Binnengewässer. Es hört einfach nicht auf zu regnen. Es schüttet. Dämme brechen. Es kommt zur Katastrophe, zur Jahrhundertflut. Allein im Erzgebirge fallen an einem Tag örtlich 300 Liter Regen pro Quadratmeter. Dutzende Dörfer in Ostdeutschland werden überflutet, die Elbe verwandelt sich in einen reißenden Strom, auch die Dresdner Semperoper steht unter Wasser. Hilfe kommt in den Osten – aus dem Westen. Es gibt Spendenaufrufe. Menschen fahren spontan in die Dörfer, um zu helfen. Man sieht Bilder von Menschenketten. Von Sandsäcken auf Dämmen. Und im Radio und im Fernsehen läuft zu diesen Bildern immer wieder ein Lied: Mensch.
Aber warum? Trifft die Melodie einen Nerv, oder ist es der Text? Liegt es vielleicht an der Zeile »Weil er mitfühlt, weil er kämpft«? Oder an »Weil er lacht, weil er lebt«? Sicher ist nur: Dieses Lied, das von überallher zusammengeflogen ist, breitet sich nun, im August 2002, wieder aus. Dieses Buch erzählt die Geschichte dieses Liedes und des gleichnamigen Albums.
*Erklärungen ab Seite 192
Im Mai 2021 kommt die Idee auf, ob man nicht ein Buch über die Entstehung des Albums Mensch machen sollte. »Wieso nicht eine Graphic Novel?«, findet Alex. »Sprich doch mal mit den anderen und schau, ob da genug interessantes Material zusammenkommt«, sagt Herbert. »Du warst ja dabei. Du bist quasi Zeitzeugin.«
Ich beginne zu telefonieren. Eins ist schnell klar: Es gibt so gut wie keine Fotos. Die Jahre um 2000 waren die letzten einer seltsam unsichtbaren Epoche. Wir hatten Handys, aber keine Smartphones. Es gab Internet, aber keine Clouds, kein Social Media. Herbert schickte Faxe. Wir schrieben auf Papier. Wir lasen Zeitung. Wir benutzten Stadtpläne, fragten nach dem Weg, und wenn eine spannende Serie (wie etwa 24) ins Fernsehen kam, warteten wir eine Woche auf die nächste Folge. Die Welt war langsamer, geheimnisvoller, kompakter – und man selbst war es vielleicht auch.
Dazu kommt: Die Erinnerung spielt Streiche. Eine Person sagt, wir saßen im Pub, eine andere sagt, wir waren in der Küche. Einer meint, er hat das allein gemacht, jemand anders weiß, der war gar nicht dabei. Einer sagt gar nichts. Und eine sechste Person will unbedingt auch was sagen, vertut sich aber mit den Jahren.
Sie hatten zwei Meerschweinchen.
— BIRGIT
Sie hatten Fische.
— ALLI
Sie hatten einen Hasen.
— ALEX
Die Engländer waren alle sehr nett.
— ANTON
Teilweise waren sie echt respektlos.
— RENE
Bei Herbert mussten wir immer im Presswerk anrufen. Er war mit allem zu spät.
— SYLVIA
Na ja, zu spät…
— HERBERT
Wer sagt, dass es manchmal sehr eng wurde?
— WALTER
Ich erinnere mich an nicht mehr viel.
— STEPHAN
Wie hieß noch mal die Band, die wir immer gehört haben?
— ALEX
Er hat eigentlich nur TripHop gehört.
— RENE
The Strokes!
— ALEX
Wir sind jeden Morgen über den Abbey-Road-Zebrastreifen gegangen, weil wir dachten, das bringt vielleicht Glück.
— NORBY
Waren wir nicht bei so einer ausgestorbenen Kirmes am Meer?
— JAKOB
Das war in Rockfield, 1998. Da hat es nur geregnet.
— NORBY
Wir haben die ganze Nacht durchgemixt.
— ALEX
Sie sind auf den Sofas eingeschlafen.
— JOHN
Herbert konnte extrem gut kochen.
— ALLE
Und dann gibt es noch die, die sich genauer erinnern. An zahlreiche handbeschriebene Seiten von Herbert. Hurra. Die in den Papierkorb gewandert sind. Nein! An das Archiv, das leider beim Umzug vernichtet wurde. In der Firma geblieben ist. In Kisten steckt, an die man jetzt aber leider nicht rankommt.
Wieder telefonieren wir, inzwischen ist es Anfang Juni. Die anderen erinnern sich, sage ich. Spitze, erwidert Herbert. Ja, aber jeder erinnert sich an etwas anderes. Aha, sagt er. Und du, frage ich. Woran erinnerst du dich eigentlich? Das ist ja das Problem, sagt er. So spontan erst mal an NICHTS!
2001 lebte ich als Journalistin in London und recherchierte für einen Artikel zum Thema »Erinnern und Vergessen«. Ich fand heraus, warum zwei, die das Gleiche erleben, hinterher unterschiedliche Geschichten erzählen: Erinnerungen sind eine Art sich langsam entwickelnder Skulptur. Jeder Mensch ist Bildhauer seiner eigenen, einzigartigen Vergangenheit. Es war ein Rätsel, was genau im Gehirn vor sich geht, wenn wir wahrnehmen, wenn wir erinnern, wenn wir vergessen. Man wusste nur, Stress und Depressionen machen vergesslich.
Erinnert er sich deswegen an nichts? Oder liegt es daran, dass er sich so gern und vollständig in der Gegenwart aufhält? Oder war am Ende der Erfolg zu groß?
A — War das vielleicht alles zu viel?
H — Jetzt mach aber kein Buch, in dem wir uns abfeiern.
A — Nein, mach ich nicht.
H — Du sollst nicht die Welt erklären.
A — Nein, tu ich nicht.
Aber wir, die 2002, 2003, 2004 auf den Konzerten waren, erinnern uns an die Begeisterung, den nicht enden wollenden Applaus. An die vielen, vielen Menschen – und an noch etwas.
Ohne einen »sense of loss« kannst du diese Zeit nicht beschreiben. — ANTON
Man kann nicht über das Album Mensch erzählen, ohne die Vorgeschichte zu erinnern. Ohne Fragen zu stellen. Warum befürchtete Herbert 1998, nie wieder Musik schreiben zu können? Warum dauerte es vier Jahre, bis das Album fertig war? Warum denken heute noch so viele, Mensch sei traurig, wenn es doch eine heitere Platte ist?
»Bleibt alles anders war das wirklich traurige Album«, sagt er, darauf angesprochen. »Mensch war der Versuch, Neuland zu gewinnen. Bei Mensch fing der Schleier an, sich zu lüften.« Welcher Schleier? »Der über allem lag.«
London, 1998. Wir treffen uns in einem Hotel in London, dem Langham oder dem Landmark, ich verwechsle das immer. Ich erinnere ein helles Foyer mit hohen Decken, eine Freitreppe führt nach oben in eine Art Lounge mit einem braun-schwarz gemusterten Achzigerjahre-Teppich. Ich weiß noch, dass ich dachte, schick hier.
Er spielt mir seine neue Platte vor. Sie heißt Bleibt alles anders. Ich bin die erste Journalistin, die die Lieder hört, weil ich ein Interview mit ihm führe, das später an Radiosender und Printmedien verschickt werden soll. Wir hören Schmetterlinge im Eis, wir hören Stand der Dinge, wir hören Bleibt alles anders. Später sprechen wir über Musik und Fußball und Drum’n’Bass, und noch viel später über Liebeskummer, Horoskope und warum Klavierspielen tröstet. Was ich nicht weiß, was kaum jemand in Deutschland weiß, ist, wie viel Wahrheit in der Platte steckt. Im selben Jahr stirbt seine Frau, nur wenige Tage nach seinem Bruder. Erst kurz vorher war die Familie nach London umgezogen.
Man kann es niemandem erzählen, weil die Worte nicht gut sind.
»Im Nachhinein wundere ich mich darüber, dass wir geblieben sind«, sagt Herbert. »Der normale Impuls nach so einer Sache wäre gewesen, wieder nach Hause zu gehen. Zurück nach Deutschland.« Tut er aber nicht. Die Familie bleibt in London. Warum?
1998 ist er dreiundvierzig, alleinerziehender Vater. Die Kinder sind neun und elf Jahre alt. Sie sind gerade auf eine neue Schule gekommen und leben nun in einer Stadt, in der sie keine Verwandten haben, kein soziales Netz, ihre Muttersprache umgibt sie nicht. Der neue Alltag muss ihnen fremd, im besten Falle seltsam vorkommen. Doch auf der anderen Seite ist es überhaupt nicht verwunderlich, dass sie bleiben. Es ist verständlich.
Der Umzug nach London war ein Lebenstraum. »Wir hatten immer davon geträumt, dort zu leben. Wir liebten das Tempo, das Punkige, das Unsortierte, den Gesamtgroove. Die wilde Vegetation, die Gärten, die Parks.«
Dazu kommt eine Anonymität, die die Familie in Deutschland seit Herberts Erfolg in den Achtzigerjahren kaum mehr kennt. Keiner weiß, wer sie sind. Dennoch hatte er Bedenken gehabt: »Ich bin mit großen Sorgen dorthin. Ob die Gesundheitsversorgung ausreicht. Aber während ich mich um ihre Gesundheit sorgte, hat sie – still wie sie war – über ganz andere Dinge nachgedacht.«
Warum also bleiben sie? »Ich kann es nicht erklären«, sagt er. »Mein erster Gedanke war: In Berlin bin ich sicherer. Mein zweiter war: Warum wollten wir unbedingt hier wohnen? Das will ich erst mal rausfinden.«
Zeitgeist
Was einst in der Luft lag. Eine Mischung aus Themen, Instinkten, Klängen, Mode, Politik, Musik und Sehnsüchten. Eine Art Lebensgefühl.
Wer im Jahr 2000 nach London kommt, landet in Gatwick, Luton, Stanstead, City Airport oder Heathrow. Aus Hamburg legt die DFDS-Englandfähre in Harwich an, mit dem Auto fährt man die A12 bis zur M25, der Ringroad, die dauernd verstopft ist. Bereits in den äußersten Außenbezirken gibt es Häuser aus dem 19. Jahrhundert, und man kann sich gut vorstellen, wie riesenhaft die Fläche Londons schon immer war. Aus der Luft sieht es nachts aus, als würde ein gigantischer Nervenknoten auf dem südwestlichen Teil der Insel wachsen.
London ist für mich die Straße, in der wir leben. Jeder kennt jeden. Es ist wie auf dem Dorf. Da ist die Blumenfrau, die meine Tochter so gernhat, der Friseur mit seinem Riesenschlüsselbund für die Apartments, die er vermietet. Der Newsagent mit seinem Zeitungsladen, der mir die Zeitung besorgt. Die Jungs vom marokkanischen Cornershop. Die beiden Brüder aus Zypern, denen wenigstens vier Läden an der Straße gehören. Das Café gegenüber, wo ich jeden Morgen meinen Kaffee hole. Der Friseur hat uns mal mit zu einem Fußballspiel vom FC Chelsea genommen. Die Blumenfrau hat ein Auge auf die Kinder. Jeder in der Straße zeigt Mitgefühl. Dabei kennen sie uns gar nicht. – HERBERT
Jahrhunderte, Nationen, Religionen und Geschäftigkeit mischen sich in London zu einem vielstimmigen dauernden Brummen und Summen. Im Stadtgebiet und den Außenbezirken leben an die 12 Millionen Menschen. Leise ist es nirgends, und selten sieht man in der hell erleuchteten Metropole nachts einen Stern am Himmel. In Bussen und der U-Bahn vollzieht sich ein stilles Ballett der Millionen. Die Menschen schieben sich hinein, sie schieben sich hinaus. Dauernd entschuldigen sie sich, selbst wenn es dafür keinen Grund gibt – anders geht es nicht.
Die Ansprüche der Kinder vitalisieren mich. Sie gehen mit einer anderen Dynamik in den Tag. Sie haben ihre Art der Bewältigung, und sie erleben viel Neues. Das hilft. Ich hatte zuvor in britischen Tonstudios gearbeitet, aber merke jeden Tag, dass ich vom Alltag in England keine Ahnung hatte. Die Stadt zwingt mich dazu, ständig etwas zu entdecken. – HERBERT
Nachdem zu Beginn des Millenniums die Welt nicht zum Stillstand kam – man befürchtete damals, dass im Moment des Datumwechsels von 1999 auf 2000 der Y2K Bug weltweit Netzwerke lahmlegen würde –, weiß keiner so genau, was dieses neue Jahrtausend sein soll. Noch nicht mal, wie die Epoche heißen wird – doch schon bald entscheidet sich, wir leben nicht mehr in den Neunzigern, sondern in den Nullern.
London ist wie ein Schmetterlingskäfig. Die ganze Zeit flattern Sachen um dich herum. Alles geschieht schnell, von der Sprache, vom Kopf her, vom Reagieren, und es ist unglaublich multikulturell. Ich lerne eine Menge netter Leute kennen, es ist eine flirrende Gesellschaft. Ich kann gar nicht anders, als zu reagieren. – HERBERT
Herbert trainiert drei Mal die Woche im Park Primrose Hill. Er läuft mit Eddie, einem Sportlehrer aus Jamaika. Seine Kinder gehen in London zur Schule, morgens weckt er sie mit Musik, macht Frühstück (Porridge mit Kakao) und fährt sie dorthin.
Ich bin sofort in die englische Sprache eingestiegen, in die Kultur. Mein Englisch war schon gut, aber nicht besonders entwickelt. Ich will im Spiel bleiben. Ich muss. – HERBERT
Der Stadtplan A—Z, ohne den niemand auf die Straße geht, ist ein Ringbuch mit Seiten über Seiten winziger verkreuzter und verknoteter bunter Linien und Straßennamen. Um 23 Uhr machen die Pubs zu, Sperrstunde. 3,30 DM sind 1 Pfund. Noch umweht der Geist von New Labour die Regierung von Tony Blair, der noch keine Truppen in den Irak entsandt hat, um an der Seite von George Bush nach nicht vorhandenen Massenvernichtungswaffen zu suchen. Der parteilose Bürgermeister Ken Livingstone ist ebenfalls noch beliebt, denn er hat noch keine CCTV-Kameras installieren lassen.
Im Moment spreche ich nur mit den Kindern und mit Birgit Deutsch. Deutsch ist meine innere Heimat, mein Rückzugsort. Mein Zuhause. Mir fehlen die Gespräche mit meiner Frau. Wir waren Weltmeister im Unterhalten. – HERBERT
Die Steuerbehörde akzeptiert seltsam ausgefüllte Formulare. Da es keine Meldepflicht gibt, kann man ein Konto mit der Strom- oder der Wasserrechnung eröffnen. Autofahren macht Spaß, vor allem auf den Schleichwegen der Nebenstraßen mit den zahllosen »schlafenden Polizisten« (Fahrbahnschwellen). Radfahren ist etwas für Leute mit Todessehnsucht.
Die englische Sprache hilft mir. Ich muss mich nicht auf meine Kultur beziehen. Ich bin auf null gestellt. Nur wenn ich will, hole ich mein Deutschsein hervor. Ich kann entdecken. Erforschen. Verrückt sein. Ich nehme täglich auf, was mir die Stadt bietet: Liebenswürdigkeit. Unperfektes. Freundschaft. Licht. Ich treffe ungewöhnliche, sehr reizende, herzliche Menschen.
– HERBERT
Lärm, Dreck und Gestank sind so allgegenwärtig wie der Luxus hinter den Türen der Residenzen am Eaton Square. U-Bahnfahren strengt an. Immer hat man abends schmutzige Hände. Die Themse teilt die Stadt. Die aus dem Norden treffen sich selten mit denen aus dem Süden. Die Postleitzahlen, eine Kombination aus Buchstaben und Zahlen, verraten mehr über den Status einer Person als seine Kleidung.
Für mich ist alles neu, und das stützt mich: die entspannte Leichtigkeit, mit der die Leute hier herzlich sind. Die Menschen hier sind einfach nur da und sagen: »Hello.« – HERBERT
Es gibt drei relevante Tageszeitungen, den Independent, den Guardian, die Times. Die Wochenendausgaben der drei sind zusammen kiloschwer. In der U-Bahn liegen umsonst die Metro aus und ab 16 Uhr nachmittags der Evening Standard. Sushi ist unerschwinglich, dafür gibt es fabelhafte indische Currys, Pizzaläden und die sogenannten Greasy Spoons (Zum fettigen Löffel), wo die Leute aus dem Viertel und Bauarbeiter frühmorgens ihr Full English Breakfast verspeisen.
In vielen Apartments hat man im Bad noch die Wahl zwischen Erfrieren und Verbrühen. Post kommt irgendwo an. In manchen Gebäuden muss der Strom mit einem Ladestäbchen am nächsten Kiosk gekauft werden. Leute, die genauso gute Jobs haben wie die Kollegen in Deutschland, leben aus Kostengründen in WGs, man trifft sich im Park zum Picknick, zu Hause zum Kochen, und obwohl es so viele andere gibt, die schöner, reicher, erfolgreicher sind als man selbst, ist man irgendwie zufrieden.
Neulich bin ich zurück nach Deutschland geflogen. Ich stand am Flughafen und dachte: Was gucken mich die Leute so an? Und dann fiel mir ein: »Ach, ja. Klar. Ich bin’s.« – HERBERT
Musikalisch entspringen aus dem Schmelztiegel der Stadt zahllose Stile. Die Independent-Radiosender spielen hauptsächlich Reggae, Dub, Drum’n’Bass und Garage. Warp Records eröffnet 2000 den ersten Online-Shop für elektronische Frickelmusik, Craig Davids Album macht den Begriff Two-Step bekannt, und der Mainstream-Erfolg von David Gray führt zu einem Boom handgemachter und im eigenen Zuhause produzierter Neo-Folk-Popmusik. Pure Shores von All Saints und Overload von den Sugababes dominieren die Radioprogramme von XFM und Radio 1. Musikfans feiern das Album Kid A von Radiohead*, das Nigel Godrich in den Mayfair Studios produziert, genau ein Stockwerk unter dem Raum, in dem zwei Jahre später Mensch entsteht.
Wenn ich morgens am Flügel sitze und die Kinder wecke, spiele ich irgendwelche Melodien oder lege eine CD ein. Ein Kind sagt: Schreib mal was Lustiges. Aber wenn ich schreibe, ist das ruhig, balladesk, zaghaft. – HERBERT
Anderthalb Jahre nichts. Es geht einfach nicht. Ein paar Minuten am Klavier. Es geht nicht.
»Du darfst nicht aufhören zu singen«, sagt ihm seine Tochter 1998. Was sie damit meint: Er soll leben. Sie wünscht sich Normalität, und dass es trotzdem weiter so ist wie früher. Aber wie? Wie soll jemand Musik machen, wenn er trauert?
Es habe eben nicht geklungen in ihm, sagt Herbert. Er habe sich damals natürlich gefragt, warum. War es die Trauer, oder hatte er die Musik auch noch verloren?
»Musik schreiben ist für mich die Gelegenheit, aus der Melancholie herauszukommen, selbst wenn ich ein ganz trauriges Lied spiele. Es ist die Kraft, die mich motiviert zu leben. Dafür ist Musik für mich da. Die löst was. Die setzt bei mir was frei, eine Lebenslust, eine Lebensfreude. Nur, wenn die nicht vorhanden ist, kann sie auch nicht freigesetzt werden«, sagt Herbert.
Damit also die Musik wieder zu ihm findet, oder er zur Musik, muss zuerst die Lebensfreude zurückkehren. Aber wie? Womit fängt alles an? Mit einem Gedanken? Einer Erinnerung? Einem Gefühl?
Er war auf der Suche nach allem, was positiv war im Leben. Musik, Bücher, Kunst, Artikel, Ideen. Menschen.
— ALEX
Jeden Morgen kam er vorbei und wir haben ein bisschen geplaudert. Ich habe ihm immer die Süddeutsche Zeitung besorgt.
— NEWSAGENT
Er hat sich große Mühe mit den Kindern gegeben. Er fragte sich: Wie werden sie groß? Was werden sie für ein Bild vom Leben haben?
— ANTON
Wir hatten keine Ahnung, wer er war. Für uns war er London-Herbert. Wir konnten in Hampstead Heath abhängen. Es gab einen guten, warmen Kreis um ihn.
— ALLI
Da war auf einmal diese kleine Familie, und alle Menschen in der Straße waren ihr unglaublich zugetan.
— ALEX
Das Mädchen wollte unbedingt ein Hausschwein. Sie ist von Laden zu Laden und hat uns allen erzählt, dass ihr Vater ihr keins kaufen will. Irgendwann haben wir ihr ein riesengroßes Stoffschwein besorgt.
— BLUMENFRAU
Ich bin ja großer Chelsea-Fan und der Junge war es auch. Einmal nahm ich sie mit zum Spiel, was ihnen, glaube ich, sehr gefallen hat.
— FRISEUR
Gianfranco Zola hat das 1:0 geschossen.
— SOHN