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Janja Topić

Malo Selo

Kriminalroman

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Osijek im März

05:45 Uhr. Das Handy klingelte Ivan aus dem Schlaf. Verdammt, wer rief schon so früh an? Verschlafen meldete er sich. Es war sein Chef, Ante.

»Habe ich dich etwa geweckt?« Die Antwort wartete er nicht ab. »Komm so schnell wie möglich ins Büro. Wir haben einen Notfall. Ich erwarte dich.«

Ivan konnte nicht antworten, da Ante schon aufgelegt hatte. Typisch Ante, kein »Guten Morgen«. Ivan schaute auf die Uhr. Verdammt, viel zu früh, und dann noch ein Notfall. Der Tag konnte nicht gut werden.

Eine gute Stunde später saß er seinem Chef gegenüber. Er hatte es gerade noch geschafft, sich einen Kaffee zu holen.

»Es wurde eine Leiche gefunden. Männlich. Im Dorf Andrijance. Du weißt, wo das ist?« Das war keine rhetorische Frage. Ivan schwieg und wartete ab, was ihm Ante noch erzählen würde.

»Der Fall ist etwas heikel.« Ante schwieg für einen kurzen Moment. »Man hat dort eine männliche Leiche gefunden. Erschossen. Liegt tot in irgendeinem Garten.« Ante schwieg wieder für einen kurzen Moment, bevor er weitersprach. »Das Dorf liegt zwischen Osijek und Vukovar, direkt am Fluß. Und damals, also 1991, war es zwischen der Front. Und vor dem Krieg hatten die dort einen Dorfvorsteher. Einen Serben. Der lebte bis zum Krieg mit seinem Sohn dort. Dann verschwand er 1991 spurlos. Viele dachten, er wäre ab, rüber nach Serbien. Man hat nie wieder was von ihm gehört. Und nun ist sein Sohn nach über zwanzig Jahren aufgetaucht. Es handelt sich bei ihm um den Toten.«

»Was wollte er dort? Hat er vielleicht nach seinem Vater gesucht?« fragte Ivan.

»Das wissen wir nicht. Nur, daß der Sohn jetzt tot im Garten liegt. Der Fall könnte sich schlecht entwickeln. Bei der heutigen Lage. Deshalb möchte ich, daß du hingehst. Schau es dir an, rede mit den Leuten. Irgend jemand hat etwas gesehen, weiß etwas. Und nimm den Neuen mit. Er war Jahrgangsbester und soll gut sein. Dabei kann er gleich praktische Erfahrungen sammeln. Und Ivan, du berichtest nur direkt an mich. Je weniger davon wissen, desto besser.«

»Verdammt. Das könnte beschissen werden. Wenn was an die Presse durchsickert. Die warten nur auf solche Geschichten.«

Ante nickte. »Deshalb möchte ich, daß du hinfährst. Wenn hier jemand ermitteln kann, dann du. Ich verlasse mich auf dich.«

Ivan ging nach dem Gespräch in sein Büro. Kurz darauf klopfte es an der Tür. Ein junger, etwas schlaksig wirkender Mann stand im Türrahmen. Es war der Neue, Ivica Dragić.

»Komm herein und mach die Tür hinter dir zu«, sagte Ivan. Er sah, daß der Neue zwei Kaffeebecher in der Hand hielt. Das ist schon mal ein Pluspunkt, dachte sich Ivan und klärte Ivica kurz über den Fall auf.

Kurz darauf saßen sie im Auto. Ivica fuhr konzentriert und redete nicht viel. Das gefiel Ivan. Ein weiterer Pluspunkt.

»Eine männliche Leiche, erschossen, sagst du?« fragte Ivica.

Ivan nickte. »Bestimmt ist schon Tomislav dort und untersucht die Leiche.«

Tomislav Ivćić war der zuständige Gerichtsmediziner.

»Brr, und das bei dieser Kälte da draußen, ist sicher nicht angenehm.«

»Das ist es nie.«

Wie aufs Wort setzte leichter Schneefall ein. Ivica fuhr konzentriert weiter. Nach einer knappen halben Stunde fuhren sie in das Dorf. Zuerst sahen sie eine schöne alte Kirche, die der Mittelpunkt des Dorfes war. Gegenüber befand sich ein kleiner Park. Es standen ein paar kahle Bäume dort, und in der Mitte befand sich ein Denkmal.

Ivica fuhr die Straße weiter runter, das Navi lotste ihn. Auf den ersten Blick sah Ivan, daß das Dorf sehr klein und übersichtlich war.

Am Ende der Straße bogen sie links ab. Schon von weitem konnten sie zwei Polizeifahrzeuge sehen. Davor hatten sich einige Menschen versammelt. Ihnen schien die beißende Kälte nichts anzuhaben. Dann sah Ivan einen roten, alten Golf. Er wußte, ohne das Kennzeichen gesehen zu haben, daß dieser Tomislav gehörte. Gut, dann war Toma, wie er gerufen wurde, schon da.

Ivica parkte das Auto seitlich am Straßenrand, und sie stiegen aus. Gleich darauf kam ein Polizist auf sie zu.

»Sie können hier nicht parken. Und ich möchte Sie bitten, wieder zu gehen.«

Ivan wies sich aus.

»Oh, Entschuldigung. Nur hier lauern schon einige Nachbarn herum, um zu hören, was passiert ist.«

»Kein Problem. Wo müssen wir hin?« fragte ihn Ivan.

»Hier durch das Tor«, der Polizist zeigte auf das geöffnete Tor, »und dann durch den Hof. Hinten zum Stall, da vorbei und durch ein weiteres Tor, was in den Garten führt. Dort liegt auch der Tote. Tomislav Ivćić schaut ihn sich schon an.«

»Danke«, sagte Ivan und ging voran. Ivica folgte ihm schweigend.

Sie durchquerten den Hof, ohne sich groß umzuschauen. Das konnten sie noch später tun. Als sie im Garten ankamen, sahen sie schon Tomislav, der gebeugt über der Leiche stand.

»Guten Morgen, oder wie man es auch nimmt«, rief ihnen Toma zu. Angekommen reichten sie sich die Hände.

»Du bist der Neue?« fragte Tomislav Ivica. Dieser stellte sich gleich vor.

»Was haben wir hier?« fragte Ivan.

»Nun, wie ihr seht, eine männliche Leiche. Ich schätze mal Anfang vierzig. Erschossen.« Er zeigte auf die Brust des Toten. »Hier ist der Einschuß. Aber mehr weiß ich erst, wenn ich ihn auf dem Tisch liegen habe.«

Ivan und Ivica schauten sich den Toten an.

»Wegen der Kälte kann ich dir noch nicht genau sagen, wie lange er hier schon liegt. Wenn ich tippen müßte, dann so seit Mitternacht.«

»Wurde er hier erschossen?«

»Ja, die Leiche wurde nicht bewegt.«

Ivan schaute sich um. »Wer wohnt hier und hat ihn gefunden?«

»Es war der Besitzer. Der fand ihn und hat gleich die Polizei gerufen.«

»Wo ist er jetzt?«

»Deine Kollegen haben ihn ins Haus geschickt. Damit er hier keine Spuren zertrampelt.«

»Hast du bei der Leiche Papiere oder ein Handy gefunden, das ihn ausweist?«

»Nein, weder noch. Aber der Besitzer hat ihn auch so erkannt. Das kann er dir dann selbst erzählen.«

Ivan nickte Ivica zu. »Wir gehen hinein und reden mit ihm. Lassen wir Toma seine Arbeit tun.«

»Ich bin fast fertig und lasse ihn dann abtransportieren. Werde ihn mir gleich noch heute anschauen und melde mich dann bei dir«, sagte Toma und wandte sich wieder der Leiche zu.

»Wer hat denn heute kein Handy?« fragte Ivica.

»Ich kenne niemanden, der keins hat.«

»Glaubst du, der Mörder hat es genommen?« fragte Ivica.

»Gut möglich«, kam es von Ivan.

Sie gingen zurück in den Hof und schauten sich um. Der Hof war groß, links stand ein großer Traktor, gegenüber befand sich der Kuhstall, wo man die Kühe hörte. Gegenüber stand ein großes, zweistöckiges Haus. Daneben, typisch slawonisch, das Sommerhaus, wo Licht durch das Fenster schien.

»Woher kommst du eigentlich?« fragte Ivan Ivica.

»Aus der Nähe von Mostar. Meine Eltern flohen mit mir und meinen Geschwistern während des Krieges erst nach Zagreb, danach kamen wir nach Osijek. Meine Tante wohnt hier. Und du?«

»Ich bin gebürtiger Osijeker.« Ivan sah sich um. »Ich war hier noch nie. Du hast das Dorf gleich gefunden.«

»Google macht es möglich.« Ivica grinste.

Der Neue gefiel Ivan.

»Ich bin ein Stadtmensch, habe aber Freunde, die hier auf dem Land leben. Die habe ich oft besucht. Ich war zwar vorher noch nicht hier, aber gehört habe ich schon von diesem Dorf.«

Ivan wollte ihm antworten, doch da ging die Tür auf und ein Mann trat heraus.

»Sind Sie von der Polizei?« rief er ihnen zu.

Ivan ging mit Ivica auf den Mann zu, und sie stellten sich vor.

»Ich bin Andrija Lukić.«

Sie reichten sich die Hände.

»Sie haben die Leiche gefunden?« fragte Ivan.

»Ja, aber laßt uns reingehen. Draußen ist es saukalt. Ich habe meiner Frau gesagt, sie soll schon mal Kaffee aufsetzen.« Andrija drehte sich um und ging ins Sommerhaus.

Sie traten in eine große, geräumige Wohnküche ein. Andrijas Frau stand mit dem Rücken zu ihnen am Herd und setzte gerade Wasser zum Kochen auf.

»Meine Frau Ivona«, stellte sie Andrija vor. Ivona drehte sich kurz um und nickte ihnen zu.

Sie nahmen am großen Tisch Platz.

Andrija begann gleich zu erzählen. »Ich bin heute morgen um kurz nach halb fünf Uhr raus und ließ meinen Hund los. Dieser sprang sofort auf und begann wie wild zu kläffen. Dann rannte er nach hinten in den Garten. Ich dachte noch, was hat der dumme Köter nur und bin ihm nach. Dann sah ich von weitem, daß was auf dem Boden liegt, dort unter dem Walnußbaum. Erst dachte ich, jemand hat dort seinen Müll abgelegt, denn drumherum ist ja alles frei, nichts ist eingezäunt.«

Ivona servierte einen Mokkakaffee. Ivan registrierte den erstaunten Blick bei Ivica.

»Wir trinken nur diesen Kaffee, aber wenn du willst, kocht dir meine Frau auch gerne einen Nescafé«, sagte Andrija zu Ivica.

Ivica war verwirrt. »Nein, schon gut, ich nehme diesen. Danke.«

»Kommt es oft vor, daß jemand Müll in deinem Garten ablegt?« fragte Ivan.

Sie wechselten zum Du.

»Nein, noch nie. Nur, wer rechnet damit, einen Toten in seinem Garten zu finden?«

Auch wieder wahr. Ivan nahm einen Schluck Kaffee. Er war gut, nicht zu süß, nicht zu bitter. Meine Gott, dachte er, wie lange war es her, daß er einen Mokka getrunken hatte.

Andrija sprach weiter. »Ich ging also darauf zu und sah sofort, daß da ein Mann lag. Tot.«

»Hast du ihn angefasst?« fragte Ivan.

Andrija schaute kurz weg. »Nun ja, ja das habe ich. Ich fühlte nach seinem Puls, aber da war keiner. Er war schon kalt.«

Ivan nahm noch einen Schluck Kaffee. Laß ihn reden, dachte er sich.

»Ich bin dann ins Haus und habe die Polizei angerufen.«

»Du weißt, um wen es sich bei dem Toten handelt?« fragte Ivan.

Andrija nickte. »Ja, ich habe ihn gleich erkannt. Obwohl ich ihn seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen habe. Das ist Zlatko. Zlatko Stojanović. Er hat hier früher gelebt, zusammen mit seinem Vater.«

»Mit früher meinst du vor dem Krieg?« warf Ivan ein.

»Genau. Zlatko ging vor dem Krieg zur Armee, also zum Wehrdienst hatten sie ihn eingezogen. Dann kam der Krieg.« Auch Andrija nahm einen Schluck Kaffee.

»Er kam nie wieder. Bis heute.«

»Er lebte hier mit seinem Vater«, sagte Ivan. »Wo ist sein Vater?«

Andrija schaute beide an. »Er ist verschwunden. Weg. Keiner hat ihn mehr seit 1991 mehr gesehen.«

»Seit wann genau?«

»Das war im November.«

»Und ihr habt nichts mehr von ihm gehört?«

»Nein.« Mehr sagte Andrija nicht.

Ivan dachte kurz nach. »Und hast du heute nacht etwas gehört? Etwas Ungewöhnliches?« fragte er weiter.

»Es war eine stürmische Nacht, da war es sehr laut und ungemütlich. Ivona und ich sind schon früh zu Bett gegangen. Wir haben nichts gehört. Oder Ivona?«

»Ich habe etwas gehört«, sagte Ivona, die noch immer am Herd stand.

Alle drei sahen zu ihr hin.

»Was genau hast du gehört?« fragte Ivan.

»Einen lauten Knall.« Sie sah ihren Mann an. »Wir lagen im Bett, und Andrija schlief schon. Durch den Sturm fiel es mir sehr schwer, einzuschlafen. Ich lag lange wach. Plötzlich hörte ich einen lauten Knall und schreckte hoch. Danach hörte ich nichts mehr.«

»Wie hörte sich der Knall an? Wie ein Schuß?«

»Ich weiß es nicht.« Sie zögerte kurz. »Vielleicht. Es hörte sich so an, als ob ein Ziegel vom Dach runtergefallen wäre.«

»Hast du vielleicht dabei auf die Uhr geschaut? Weißt du, wie spät es war?«

Ivona verneinte. »Ich weiß nur, daß kurz vorher die Kirchenuhr schlug. Aber wie spät es war«, sie schüttelte den Kopf, »kann ich nicht sagen.«

Ivan wandte sich wieder Andrija zu.

»Ich habe tief und fest geschlafen. Ich habe nichts gehört.«

Ivan überlegte kurz. »Zlatkos Vater ist verschwunden, sagst du. Weißt du, wohin?«

»Ich weiß nicht, wohin er gegangen ist. Denke mal, daß er wohl rüber nach Serbien ist. Er ist ja von dort.«

»Und du hast nie wieder etwas von ihm gehört?«

Andrija schüttelte den Kopf. »Als der Krieg ausbrach, war ich ein Teenager. Meine Mutter ist mit mir und meinem Bruder geflohen, während mein Vater mit den anderen Männern aus dem Dorf hiergeblieben sind. Wir kamen erst nach dem Krieg zurück. Es sind fast alle wieder zurückgekommen. Na ja, ein paar sind weitergezogen, Zagreb, Deutschland, einer ist sogar nach Kanada ausgewandert. Aber weder Zlatko noch sein Vater kamen wieder hierher. Mehr weiß ich nicht.«

»Und was erzählt man sich im Dorf darüber?« fragte Ivan.

»Mal dies, mal das.« Andrija dachte kurz nach. »Als wir zurückkamen, gab es Gerüchte. Aber niemand wußte was genaueres. Die sind bestimmt rüber nach Serbien abgehauen, also zumindest der Alte. Und Zlatko, keine Ahnung, wo er nach dem Wehrdienst hingegangen ist. Hierher kam er nicht.«

Ivan stand auf. »Danke für den Kaffee. Es wird ein Kollege vorbeikommen, um die Aussagen aufzunehmen. Und wir werden uns bestimmt nochmal sprechen. Kannst du mir sagen, wer euer Bürgermeister ist, und wo ich ihn finde?«

Andrija lachte kurz auf. »Wir haben keinen. Dafür ist unser Dorf zu klein. Aber wir haben einen selbsternannten Dorfvorsteher, Branko Filjić. Und einen Dorfpfarrer.« Andrija grinste. »So wie ich ihn kenne, wird er schon draußen stehen und auf euch warten. Schließlich nimmt er sich und seine Stellung für das Dorf sehr ernst. Und wenn es einen Toten gibt, ermordet, da muß er hier auftauchen, um die Lage zu inspizieren.«

»Andrija, bitte«, kam es von Ivona.

»Was denn? Ein Toter im Dorf, das hatten wir noch nie. Branko wird sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen.«

Auch Ivica stand auf.

»Sag mal«, setzte Ivan an, »wer wohnt hier noch in eurer Nachbarschaft?«

»Gehen wir raus«, sagte Andrija, »dann zeige ich es euch.«

Sie bedankten sich nochmal bei Ivona für den Kaffee und gingen mit Andrija hinaus, wo die Kälte sie empfing.

Als sie vor dem Toreingang standen, drehte sich Andrija um.

»Hier links wohnt die Familie Bendić. Drei Generationen in einem Haushalt.« Er zeigte mit der Hand auf das Haus.

Zwischen beiden Häuser verlief ein langer Holzzaun. Ein großer Garten lag zwischen den Häusern. Ivica machte sich Notizen.

»Gegenüber«, Andrija drehte sich um, »wohnt im ersten Haus die Familie Tomić und daneben die Familie Galjić. Die anderen zwei Häuser stehen leer, weil die Familien in Deutschland leben. Die kommen nur in den Ferien her, und momentan ist keiner da. Braucht ihr trotzdem die Namen?« fragte er.

»Gib sie uns bitte«, sagte Ivan und drehte sich zu Ivica um. »Wir prüfen es sicherheitshalber.«

Neben Andrijas Haus standen noch drei weitere Häuser. Auch diese Bewohner lebten im Ausland. Mehr Häuser gab es nicht in der Straße, dafür viele Bäume und zwischendrin Felder.

»Es ist eine kleine Straße«, sagte Andrija. »Und ein kleines Dorf. Jeder kennt hier jeden.«

»Wo hat Zlatko mit seinem Vater gewohnt?« fragte Ivan.

»Im Zentrum stand sein Haus.«

»Stand?« fragte Ivica. »Wurde es abgerissen?«

»Nein, nein«, beeilte sich Andrija, »es wurde nur alles umgebaut. Heute ist die Post dort untergebracht. Und es gibt zwei Büros, für unseren Dorfvorsteher.« Andrija zuckte mit den Achseln. »Es war Brankos Idee.«

»Danke«, sagte Ivan. »Eine Frage noch«, er schaute Andrija an. »Wie hieß Zlatkos Vater?«

»Er hieß Jovan, aber so hat ihn eigentlich keiner genannt.«

Ivan schaute erstaunt, was Andrija nicht entging.

»Er hatte einen Spitznamen.« Ein kleines Grinsen huschte über Andrijas Gesicht. »Er war der ›Rote Baron‹.«

Kurz darauf standen sie wieder im Garten, ohne Andrija. Die Leiche wurde gerade abtransportiert.

»Ich melde mich dann«, rief ihnen Toma zu und verschwand durch das Tor.

Ivan schaute sich um. »Jeder kann ungehindert herkommen. Kein Zaun, nichts.«

Der Garten war weitläufig, die Erde vom Schnee leicht bedeckt. Einige Bäume standen da. Zum Dorf gewandt sah er hinten die ersten Häuser, dahinter ragte die Kirchturmspitze hervor. Viel Land zwischen den Häusern. Auch nebenan, zum nächsten Nachbar. Es war eine stürmische Nacht gewesen, dachte sich Ivan. Wer hatte, wenn überhaupt, etwas mitbekommen?

»Der ›Rote Baron‹«, begann Ivica, »eine Anspielung, daß er Kommunist war.«

Ivan nickte. »So waren die Zeiten damals. Alle waren sie Kommunisten, denn sonst hätten sie den Job gar nicht erst bekommen. Wir müssen herausbekommen, wohin er damals gegangen ist und wo er heute lebt.« Wenn er noch lebt, dachte er sich.

»Warum hast du nach dem Bürgermeister gefragt?« fragte ihn Ivica.

»Wenn jemand Bescheid über das Dorf weiß, dann der Bürgermeister.«

»Den sie nicht haben.«

»Ja, dafür einen Dorfvorsteher.«

»Der das Dorf als sein Eigentum betrachtet«, antwortete Ivica.

»Das glaube ich eher weniger«, sagte Ivan. »Ich denke, er sieht es als seine Verantwortung und Pflicht an, daß alles im Dorf seine Ordnung hat. Jemand muß sich ja darum kümmern. Sonst setzt man ihnen einen Unbekannten aus einem anderen Ort vor die Nase, der die Menschen hier weder kennt noch versteht.«

»Und einen Pfarrer haben sie«, sagte Ivica. »Ich meine«, beeilte er sich zu sagen, »so ein kleines Dorf. Hätte mich nicht gewundert, wenn sie keine Kirche hätten, und zu der Nachbargemeinde gehören würden«.

»Eins ist sicher«, sagte Ivan, »egal wie klein ein Dorf auch sein mag, eine Kirche wird es immer geben. Und«, er schaute Ivica an, »eine Dorfkneipe.«

Ivica grinste.

Kurz darauf standen sie vor dem Tor, und sahen, wie Toma mit seinem Golf davonfuhr. Da fiel ihnen ein Mann auf, der in der kleinen Menschenmenge stand und die Hand hob.

»Das wird wohl Branko sein«, sagte Ivan. »Laß uns zunächst mit ihm reden. Danach«, er schaute rüber zu den Häusern, »nehmen wir uns die Nachbarn vor.«

»Ob sie heute nacht was gehört haben.«

Ivan nickte. »Das oder was auch immer.«

»Vielleicht ist jemandem schon vorher was aufgefallen«, sagte Ivica.

»Genau«, sagte Ivan und beide gingen auf Branko zu.

Es war tatsächlich Branko, der die Hand gehoben hatte. Sie stellten sich einander kurz vor und beschlossen dann in seinem Büro weiterzusprechen. Dort würde sie keiner hören und warm war es auch.

Nun saßen sie zu dritt in seinem Büro.

»Darf ich euch einen Kaffee anbieten?« fragte Branko.

Beide winkten ab.

»Danke, wir haben gerade einen bei Andrija getrunken«, sagte Ivan. »Erzähl uns was über das Dorf.« Er sah Branko an, »und über dich und deine Funktion hier im Dorf.«

Branko verstand und nickte. »Ich bin hier der Dorfvorsteher. Legal gewählt.« Branko grinste und machte mit beiden Händen Anführungszeichen in der Luft. Dann wurde er wieder ernst.

Ivan blieb ruhig, während Ivica sich Notizen machte.

»Unser Dorf ist sehr schön. Klein aber fein. Nun, jetzt im März ist alles kahl. Aber im Frühling und im Sommer ist es hier sehr schön.« Branko schien leicht nervös zu sein.

»Was kannst du mir über die Dorfbewohner sagen?«

Man merkte Branko an, daß er lieber über den Toten reden wollte. Ivan würde noch danach fragen, jedoch wollte er sich zunächst ein Bild über das Dorf machen.

Branko dachte kurz nach, bevor er sprach.

»Nicht viel. Wir sind unbescholtene Bürger. Die meisten betreiben Landwirtschaft und Viehzucht. Und das schon in mehreren Generationen. Einige arbeiten in der Stadt. Wir kommen hier alle gut miteinander aus. Einen Ermordeten hatten wir hier noch nie.« Branko schaute Ivan an. »Stimmt es, daß es sich bei dem Toten um Zlatko Stojanović handelt?« Die Neugier konnte Branko kaum zügeln.

»Berichte mir noch bitte etwas mehr von eurem kleinen Dorf.« Ivan ging auf seine Frage bewusst nicht ein. Branko schaute etwas verdutzt, sammelte sich jedoch schnell wieder.

»Unser Dorf gibt es schon seit hundertfünfzig Jahren. Zurzeit leben hier knapp zweihundertfünfzig Einwohner, mehr alte als junge. Das Dorf habt ihr ja gesehen, eine Hauptstraße, ein paar Nebenstraßen. Es ist nicht besonders groß.«

»Ihr habt eine sehr schöne Kirche«, sagte Ivan.

»Ja, das haben wir. Auch sie ist alt. Wir haben sie erst vor ein paar Jahren restauriert.« Branko schien stolz darauf zu sein.

Ivan nickte ihm zu. Sprich weiter, wollte er damit andeuten. Und Branko tat es.

»Wir haben einen kleinen Lebensmittelladen, einen Friedhof, der außerhalb des Dorfes liegt. Und eine Dorfkneipe.«

Auf Ivicas Gesicht huschte ein kleines Lächeln.

Branko machte eine kleine Pause. »Andrijance ist sehr überschaubar. Wir haben keinen Doktor und keine Grundschule. Wenn wir was Größeres brauchen, fahren wir nach Osijek, Vinkovci oder Vukovar. Je nachdem.«

»Und wer lebt hier alles?« kam es von Ivica.

»Hauptsächlich Alteingesessene, unsere Šokci. Familie Bendić gehört dazu. Das sind ja die direkten Nachbarn von Andrija. Dann sind ein paar Familien nach dem Krieg hergezogen, aus Bosnien. Wir leben hier alle friedlich miteinander. Helfen uns gegenseitig: in der Schlachtsaison, wenn wir unseren Šljivovic brennen oder auch bei der Ernte. Bei Hochzeiten und anderen Festen. Wie gesagt, jeder kennt hier jeden.«

»Leben hier auch Serben?« fragte Ivan. Er hatte den Eindruck, daß Branko ihm etwas verschwieg.

»Nein, wir haben hier keine Serben.«

»Und Zlatko und sein Vater?« fragte Ivan.

»Ach die«, kam es von Branko, »die lebten hier vor dem Krieg. Aber sie waren keine Einheimischen. Ich meine«, beeilte er sich zu sagen, »die kamen irgendwann in den Siebzigern her.«

»Es wäre viel einfacher, wenn du uns alles sagst, was du weißt«, setzte Ivan nochmal an.

Branko schwieg für einen kurzen Moment.

»Ihr werdet es sowieso erfahren. Dann besser von mir, denn ich werde euch nicht anlügen.« Er hielt kurz inne. »Meine Familie lebt hier schon seit mehreren Generationen, wie die meisten anderen auch. Wir haben immer in Frieden miteinander gelebt. Und haben alles, also fast alles, immer selbst entschieden. Geregelt. Und danach gelebt. Ich meine, wir sind ein kleines Dorf. Es war uns egal, was die Partei damals in Beograd beschlossen hatte, denn das hat uns nie groß interessiert. Wir haben nämlich immer unser eigenes Ding gemacht. Friedlich, versteht sich.« Branko holte kurz Luft. »Na ja, dann kam es in den Siebzigern zu dem ›kroatischen Frühling‹. Das ging nicht spurlos an uns vorbei, wir haben das mitbekommen. Nun«, er machte eine kurze Pause, »als es vorbei war, kamen zwei Dorfbewohner ins Gefängnis. Man hat ihnen unterstellt, sie wären bei einigen politischen Aktionen aktiv beteiligt gewesen, was lächerlich ist. Sie waren nie politisch aktiv. Tja, einer von ihnen war damals unser Dorfvorsteher. Der andere war sein Vertreter und bester Freund. Danach hatten wir keinen mehr und durften auch keinen neuen stellen. Dafür hat man uns aus Beograd dann einen strammen Kommunisten geschickt.«

Branko schaute beide an.

»Der sollte«, und Branko machte wieder mit beiden Händen Anführungszeichen, »auf uns ›bösen Kroaten‹ aufpassen. Daß wir nicht wieder was Dummes anstellen. Und das war damals Jovan Stojanović. Er kam mit seinem Sohn Zlatko an. Der war damals noch ein kleiner Junge.«

»Wie habt ihr es aufgenommen?« fragte Ivan.

»Wir waren natürlich geschockt. Unsere zwei Männer waren im Gefängnis, deren Familien wurden zwangsenteignet und mußten dann noch das Dorf verlassen.«

Branko schaute Ivan direkt ins Gesicht. »Und dann schickt uns die Partei einen Fremden hierher ins Dorf, der weder uns noch unsere Lebenskultur kannte. Zudem ein Serbe und Kommunist, das hatten wir vorher noch nie hier im Dorf.«

»Gab es vorher keine Serben hier im Dorf?« fragte Ivica.

»Nie«, antwortete Branko.

»Und keiner war damals in der Partei? Nicht mal der Dorfvorsteher?«

»Hört mal«, wandte sich Branko Ivica zu. »Mit der Politik hatte hier niemand was zu tun. Weder war jemand in der Partei noch sonst irgendwie politisch aktiv. Wir haben immer unseren Dorfvorsteher selbst ausgesucht, der sich um die Belange im Dorf gekümmert hat. Und mehr brauchten wir auch nicht.«

»Das änderte sich dann, als Jovan kam«, fügte Ivica zu.

»Ja. Wir waren alle sehr mißtrauisch. Es hat auch Jahre gedauert, bis wir uns an ihn gewöhnt hatten.«

»Du sagst, er kam mit seinem Sohn?« fragte Ivan. »Und seine Frau?«

»Er hatte keine. Also, es waren nur er und der Kleine. Und wo die Mutter des Kleinen geblieben ist, keine Ahnung. Es hat keiner gefragt.«

»Und er lebte hier?« Ivan zeigte auf den Raum.

»Oh, hier ist er erst später eingezogen. Nachdem Zlatko zu JNA eingezogen wurde. Vorher lebte er im Haus der Familie Tomić.«

»Das sind doch Andrijas Nachbarn«, sagte Ivica.

»Genau. Denn der alte Tomić war damals unser Dorfvorsteher, der ja ins Gefängnis kam. Und als seine Familie weg war, sind Jovan und sein Sohn Zlatko in sein Haus gezogen.«

»Mit ›weg‹ meinst du …«, begann Ivica.

»Nun ja, sie wurden ja zwangsenteignet, der Vater war im Gefängnis. Die Frau mußte dann mit den Kindern gehen, das Dorf verlassen.« Branko nahm noch einen Schluck Kaffee und erzählte weiter. »Sie hatten Verwandte in Slavonski Brod, dort blieben sie für eine Weile. Später sind sie dann weiter nach Deutschland gezogen. Als der Vater dann aus dem Gefängnis kam, ist er gleich zu ihnen nach Deutschland gegangen. Hierher konnte er ja schlecht zurückkommen. Er ist mittlerweile verstorben, genau wie seine Frau. Aber sein Sohn kam wieder hierher zurück und hat sein Elternhaus und das Land zurückbekommen.«

»Wann war das?« fragte Ivica.

»Nach dem Krieg«, antwortete Branko.

»Ein schlimmes Schicksal für die Familie. Das kam nicht gut bei euch an«, sagte Ivan.

»Nein, bei keinem. Und als dann Jovan hier auftauchte … wie gesagt, es hat Jahre gedauert, bis wir mit ihm warm wurden.«

»Wie kam es?« fragte Ivan.

»Über Zlatko«, antwortete ihm Branko prompt. »Er ging mit den anderen Kindern in die Schule, spielte mit ihnen Fußball, was Kinder eben so machen. Und Jovan war ja sein Vater, der auch dann bei einem Fußballspiel dabei war. Wie das eben so ist.«

Ivan dachte kurz nach.

»Wie hat er sein Amt ausgeführt?«

»Er schaute immer mißtrauisch«, Branko lachte kurz auf, »wenn wir sonntags in die Kirche gingen. Oh ja, wir gingen, immer! Das haben wir uns nicht nehmen lassen. Und wehe, er hätte was gesagt.«

Branko stand auf und nahm sich noch einen Kaffee. »Ansonsten war er oft unterwegs, aber wo und mit wem er sich traf, kann ich dir nicht sagen. Einige haben ihn oft in Osijek gesehen. Und was sein Amt anging, er hat uns weitestgehend in Ruhe gelassen. Wir haben unser Leben gelebt, so wie immer. Irgendwann war er mal beim Schnapsbrennen dabei, dann beim Schlachtfest. Er war glücklich, wenn er eine Flasche Schnaps und einen Schinken bekam, und wir hatten unsere Ruhe.«

»Hatte er mal Besuch von außerhalb?« fragte Ivan.

»Nie. Also nicht hier im Dorf. Vielleicht ist er rüber nach Serbien gefahren, und hat sich dort mit jemanden getroffen. Aber hier ins Dorf ist nie jemand gekommen. Das hätten wir gewußt.«

Ja, das denke ich mir, dachte sich Ivan, sprach es jedoch nicht aus. »Und er blieb bis zum Krieg. Er ist vorher nicht gegangen?«

»Er blieb mit uns Männern bis zum Fall Vukovars. Danach haben wir alle das Dorf verlassen. Auch Jovan. Seitdem hat ihn keiner mehr gesehen.«

»Ist er nicht mit euch zusammen gegangen?«

»Damals war hier der Teufel los«, sagte Branko. »Die Frauen und Kinder haben das Dorf schon zu Beginn des Krieges verlassen. Und nur wir, also die Männer, sind geblieben. Wir haben eine Bürgerwehr aufgestellt. Dann fiel Vukovar, und wir rechneten damit, daß jederzeit die Serben hier einfallen würden. Also beschlossen wir, das Dorf aufzugeben und sind gegangen. Das war damals sehr hektisch.«

»Aber er war doch ein Serbe«, warf Ivica ein. »Hätte er nicht vorher das Dorf verlassen müssen?«

»Nun ja«, setzte Branko an. »Ihr müßt wissen, er war Kommunist durch und durch. Und es hat ihm nicht gefallen, was die in Beograd beschlossen hatten. Da sagte er zumindest immer.« Branko nahm einen weiteren Schluck Kaffee. »Er sah unser Dorf irgendwie als sein eigenes an. Und wollte seinen Beitrag dazu leisten. Weißt du«, er wandte sich Ivica zu, »nicht alle Serben waren damals radikale Spinner, die uns umbringen wollten.«

Ivan schwieg, was Ivica auffiel.

»Wann seid ihr zurückgekommen?«

»Das war nach dem Krieg. Zuerst kamen ein paar Männer her. Um zu schauen, wie der Zustand des Dorfes war.«

»Die Serben waren nicht hier gewesen«, warf Ivica ein.

»Nein, kein einziger. Es war alles so, wie wir es damals verlassen hatten. Danach erst kamen wieder einige Familien zurück. Später dann eigentlich alle.«

»Und Jovan war nicht darunter?« fragte Ivan Branko.

»Nein. Er kam nicht wieder her. Und ehrlich gesagt, ist es auch besser so. Welche Zukunft hätte er denn hier gehabt?«

Sie wollten gerade aufstehen, als Branko wieder zu erzählen begann.

»Eins noch. Wir hatten damals einen Zahnarzt, der hier lebte. Mit dem war Jovan befreundet. Er hieß Filip Đukić. Auch er kam nach den Krieg nicht zurück«, Branko machte eine Pause. »Er verschwand damals.«

»Vielleicht ist er nach Zagreb oder ins Ausland gegangen«, warf Ivica ein.

»Das glaube ich nicht«, sagte Branko, »denn er hatte eine Tochter. Und sie lebt heute hier in unserem Dorf.«

»Wo genau wohnt sie?« fragte Ivan.

»Im Nachbarhaus von Andrija. Sie hat den einzigen Sohn vom alten Bendić geheiratet. Wäre Filip noch am Leben, wäre er heute hier im Dorf. Schließlich lebt sein einziges Kind hier. Deshalb glauben alle, daß er tot ist.«

Sie verabschiedeten sich von Branko und gingen. Die Kälte hatte zugenommen.