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AMEN:

WIE DIE

LUFT ZUM ATMEN

Dein Weg ins Gebet und
in die Gemeinschaft mit Gott

Jill Weber

Aus dem kanadischen Englisch von Silke Gabrisch

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ISBN 978-3-417-27049-5 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2022 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Originally published in English under the title Even the Sparrow in the United Kingdom by Muddy Pearl in 2019.

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:

Weiter wurden verwendet:

Übersetzung: Silke Gabrisch

INHALT

Über die Autorin

Vorwort

Einführung

1 | Hören und folgen

2 | Berufung

3 | Okay, und jetzt?

4 | Umweg

5 | Wiederherstellung

6 | Schritt für Schritt

7 | Gefährliche Gebete

8 | Für-was-Bitterin?

9 | Unterbrechung

10 | Wenn der Friede weicht

11 | Der Tag, an dem Daisy starb

12 | Den Grund legen

13 | Prophetien

14 | Ein teures Ja

15 | Raben

16 | Leben im Nest

17 | Wenn der Pulli passt

18 | PresbyAngliBaptiKathoMatisch

19 | Der Sturm

20 | Sprich, Freund, und tritt ein

21 | Knistern

22 | Jedi

23 | Beten auf eigene Gefahr

24 | Pilgerreise

25 | Spaghetti

26 | Was hast du in deiner Hand?

27 | Wo ist mein Gebetstruck?

28 | Zauberer

29 | Mittagsdämon

30 | Leuchten

31 | Ich sehe dich

32 | Im Bauch des Fisches

33 | Äbtissin

34 | Barton Street

35 | Trostlosigkeit

36 | Das Leben ist kein Notfall

37 | Ein englischer Garten

38 | Kleines Boot

39 | Selbst der Spatz

40 | Sich selbst in der Geschichte wiederfinden

Literatur und Lesetipps

Dank

Anmerkungen

ÜBER DIE AUTORIN

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JILL WEBER ist Autorin, Sprecherin , Pionierin und Leiterin in der internationalen 24/7-Bewegung. 2001 gründete sie in Kanadas »Greater Ontario House of Prayer« (GOHOP) in einem kleinen Wohnwagen, das sie 17 Jahre lang leitete. Seit 2018 lebt Jill mit ihrer Familie in Guildford, UK, wo sie als »Director of Spiritual Formation« in der »Emmaus Road Church« wirkt.

www.jillweber.com

VORWORT

Stadtmissionarin. Gebetsheldin. Mystikerin. Aktivistin. Theologin. Mutter. Freundin. Ich könnte mit dieser Aufzählung noch weitermachen. Jill Weber hat viel Tiefe und Weite in ihr eines, wunderschönes Leben gepackt. Sie lebt es. Vielleicht ist es das, was ich an diesem Buch am meisten liebe.

Ich habe schon viel über Jill gehört. Von Freunden und Menschen, an denen sie in all den Jahren, die sie sich nun schon in das Reich Gottes investiert, Spuren hinterlassen hat. Eine kanadische Prophetin, Predigerin, Gebetskriegerin und Aktivistin. Immer wieder haben mich Menschen gefragt, ob ich eigentlich Jill kenne, und ich habe immer geantwortet, dass ich wünschte, das wäre der Fall. So wie die Menschen über sie sprachen, wollte ich sie unbedingt kennenlernen. Jahre später bekam ich eine Einladung, genau das zu tun  Jill kennenzulernen. Und nun bin ich faszinierter denn je. Jill hat eine angenehme Art, sie selbst zu sein. Sie fühlt sich wohl in ihrer Haut. Etwas von ihrer Gewissheit, dass Gott in jeder Phase des Lebens gegenwärtig ist, stimmt auch mich zuversichtlich. Jill bewirkt nicht, dass ich mehr wie sie sein möchte  sie bewirkt, dass ich mehr ich selbst sein will. Und das Geheimnis dahinter ist Jesus. Dessen sind Jill und ich sicher.

Viele Menschen können eloquent von Gott und ihren Gedanken über das geistliche Leben schwärmen, aber sie stellen sich nicht dem Morast und Moder ihres echten Lebens. Jill denkt nicht nur über Gott nach  sie erlebt ihn. Sie glaubt nicht nur an Jesus  sie folgt ihm nach. Für sie bedeutete das eine Abkehr vom Schema F. Jenseits der sozial aufsteigenden Massen hat sie sich ins Leben Christi hinabbegeben. Das hat ihr ermöglicht, sich auf ein risikoreiches, ungewöhnliches und wunderschönes Leben einzulassen, das von tiefen Beziehungen und Begegnungen mit Gott und anderen bereichert wird. Das Betrachten eines Lebens, das von Leid, Freude, Schmerz, Schönheit, Hoffnung, Wahrheit, Visionen, Gefühlen, Freunden, Ablehnung und Angst überquillt, erlaubt mir etwas. Es erlaubt mir, menschlich zu sein. Es erlaubt mir, ein Mensch zu sein, der einem lebendigen Gott begegnen kann. Es erlaubt mir, diesem lebendigen Gott im Alltäglichen zu begegnen  einem Gott, der im Hier und Jetzt gegenwärtig ist. Gegenwärtiger, als wir uns je vorzustellen wagen.

Ich weiß nicht, in welchem Lebensabschnitt Sie sich gerade befinden. Ich stelle mir junge Erwachsene vor, die lernen wollen, wie man betet. Dieses Buch wird euch helfen. Dieses Leben wird es euch vormachen. Ich sehe jemanden vor meinem inneren Auge, der schon länger im Dienst für Gott steht und mit tiefen Zweifeln und Ängsten kämpft, die ihn inmitten seiner Pflichten als Pastor immer wieder heimsuchen. Dieses Buch wird Ihnen helfen. Dieses Leben wird es Ihnen vormachen. Ich sehe Menschen, die Religion satthaben, die von Kirche, wie wir sie kennen, Abstand genommen haben und sich fragen, ob sie Gott wiederfinden können. Dieses Buch wird Ihnen helfen. Dieses Leben wird es Ihnen vormachen. Menschen jeder Couleur, Außenseiter und Anzugträger, Leiter und Teenager, Frauen und Männer, Ungläubige und Christen, werden in diesen Geschichten  in diesem Leben  eine Einladung finden, den Gott zu entdecken, der schon jetzt mit ihnen ist. Wenn man diesen gegenwärtigen Gott findet, wird man sein Leben verlieren.

Jill hilft uns zu verstehen, dass wir davor keine Angst haben müssen. Dieses Leben-Verlieren ist die beste Art und Weise  die einzige , um unser wahres Selbst zu finden. Nur so können wir uns in unserer eigenen Haut wohlfühlen, und zwar in jeder Phase unseres Lebens, weil wir wissen, dass die über 2000 Jahre alten Worte Jesu einen Bezug zu unserem hektischen und beunruhigenden Tempo, um mit dieser Welt Schritt zu halten, haben. Selbst der Spatz wird von einem liebenden Vater gefüttert, umsorgt, gehalten und versorgt. Wer das verstanden hat, kann loslassen und Gott das Ruder überlassen. Jill weiß das, lebt das und lädt Sie dazu ein, sich ihr anzuschließen.

Danielle Strickland
Referentin, Autorin und Fürsprecherin für soziale Gerechtigkeit

EINFÜHRUNG

Kürzlich starb eine meiner Freundinnen an einer Krankheit  eine junge Frau, die in den Anfängen unseres Gebetshauses den Lobpreis geleitet hatte. Rebekah war ein Singvogel, ein süßer Spatz, der sein Nest nah an den Altären Gottes gebaut hatte. Ihr plötzlicher Tod brachte uns alle ins Taumeln. Trauer ergriff mich zu unerwarteten Zeiten und an unerwarteten Orten und verwandelte mich mitten in Lebensmittelläden und auf Parkplätzen zu einem verquollenen Etwas. Da ich mittlerweile umgezogen bin und einen Ozean entfernt lebe, kann ich nicht an ihrer Trauerfeier teilnehmen. Stattdessen schicke ich meiner einstigen Lebensgemeinschaft eine kleine Beileidsbekundung.

Während ich überlege, was ich über Rebekahs Leben sagen möchte, denke ich an die vielen Male, die sie sich ans Klavier setzte, lächelte, über die Tasten strich und dann zu spielen und zu singen begann. Sie transportierte uns alle in eine andere Sphäre. Ich stelle fest, dass ich mich auf ein Bild im Buch der Offenbarung beziehe, das mir angemessen scheint: Rebekah war eine Tür zum Himmel und eine Stimme, die »Komm hier herauf« sagte (Offenbarung 4,1).

So sind unsere Geschichten. Türen zum Himmel. Orte des Verschmelzens, wo das Ewige ins Jetzt hineinbricht. Unsere Geschichten rufen uns nach oben, dazu, unseren Blick vom Boden unter unseren Füßen zu erheben und hinaus auf einen weiteren Horizont zu richten. Sie können uns und andere in eine andere Sphäre versetzen.

Jesus beherrschte die Kunst, geistliche Wahrheiten mit irdischen Dingen in Beziehung zu setzen und dabei durch gewöhnliche Geschichten über alltägliches Leben auf den Himmel hinzuweisen. Der Apostel Paulus forderte die noch jungen Gemeinden dazu auf, dasselbe zu tun, als er ihnen schrieb. Ihr seid ein Brief Christi, sagte er, »von uns geschrieben, aber nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes: nicht auf Steintafeln, sondern in die Herzen der Menschen« (2. Korinther 3,3). Geschichten haben Bedeutung. Meine Geschichte hat Bedeutung. Genau wie Rebekahs. Und Ihre.

Das hier ist meine Geschichte  zumindest ein Teil davon. Wie können Sie sich ihr nähern? Manche Leute sind Katzen-, andere Hundemenschen. Wenn man eine Katze füttert, gibt man das Essen in eine Schale und nach einer Weile schleicht die Samtpfote vorbei und beäugt es. Wird es für gut und fertig befunden, schlendert sie hinüber, genehmigt sich einen oder zwei Bissen und legt sich dann in die Sonne, um zu verdauen und zu dösen. Wenn man für ein paar Tage wegfährt, weiß man, dass man Futter in den Napf geben kann und die Katze nach und nach davon naschen wird, ganz nach Bedarf. Vollkommen anders ist es bei Hunden. Sie sind grundverschieden. Kaum hat man Futter in die Schüssel gegeben, kommen sie herbeigelaufen und verschlingen ihren Inhalt mit ein paar begeisterten Happsen. Lässt man einen Hund mit einer Schüssel Futter ein paar Tage allein, wird er schon mittags am Verhungern sein. Ich habe Menschen nie verstanden, die wie Katzen essen, und ich gehöre definitiv nicht zu ihnen. Wenn ich eine Freundin von mir besuche, sehe ich Woche für Woche dieselbe Pralinenschachtel in ihrem Regal. Man stelle sich das mal vor!

Auf ähnliche Weise sind manche Menschen »Katzenleser« und andere »Hundeleser«. Manche von Ihnen werden von diesem Buch kosten, innehalten, es beiseitelegen und darüber nachdenken. Vielleicht sogar ein bisschen schnurren. Andere werden es eilig und begeistert verschlingen. Keine der beiden Herangehensweisen ist falsch. Ich bin zuversichtlich, dass es beiden schmecken wird. Dennoch hoffe ich, dass die schnellen Esser für einen Nachschlag zurückkommen und etwas Zeit mit den Abschnitten zur Reflexion am Ende der Kapitel verbringen, die mit »Einladung« überschrieben sind. Sie sollen Ihnen dabei helfen, über Ihre eigene Geschichte nachzudenken  Ihr Leben und Ihre Reise mit Gott. Ich stelle Ihnen verschiedene Gebetsformen oder andere geistliche Übungen vor, die Ihnen vielleicht unbekannt, aber tief in der christlichen Tradition verwurzelt sind. Manche Einladungen sind sehr praktisch, während andere Ihnen helfen sollen, Ihren inneren Raum zu erforschen, und wieder andere, Ihre Beziehung zu Gott zu vertiefen.

Stellen Sie sich beim Lesen vor, ich sitze mit Ihnen in meinem Büro. Die Einrichtung ist einfach, schlicht, abgesehen von zwei Gemälden an den Wänden: Kopien von Rembrandts »Die Rückkehr des verlorenen Sohnes« und Klimts »Der Kuss«. Auf dem Bücherregal, inmitten verschiedener Bände, liegt ein kleines Vogelnest, das ich aus dem Garten gerettet habe  eine Webarbeit aus Ästen, Moos und Vogelgefieder. Sie sitzen in einem gemütlichen Sessel mit aufgeschütteltem Kissen und einer kleinen Häkeldecke für den Fall, dass Ihnen kalt wird. Wir halten beide ein warmes Getränk in der Hand. Ich bin der Typ Sojalatte, zuckerfrei mit Haselnussgeschmack, extra heiß. Vielleicht ist Ihnen Tee lieber? Ich entzünde die Kerze auf dem kleinen, runden Tisch, der zwischen uns steht  eine Erinnerung an die Gegenwart Jesu in unserer Mitte. Wir sitzen ein, zwei Minuten und trinken in kleinen Schlückchen. Wir atmen nur und lassen uns an dem stillen Ort unserer Seele nieder, um auf seine Einladung zu hören, wie auch immer sie heute für uns aussehen mag.

Dieses Buch hat 40 Kapitel (keine Sorge  sie sind kurz!), damit Sie es während der Passionszeit oder anderen Einkehrzeiten verwenden können, wenn Sie möchten. Ich bete dafür, dass Sie, während Sie diese Geschichte lesen und über Ihre eigene nachdenken, einen Blick auf Gottes Wirken erhaschen können und seine Stimme hören, die Sie zu ihm ruft.

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1

HÖREN UND FOLGEN

Meine Schafe hören auf meine Stimme; ich kenne sie, und sie folgen mir. Ich schenke ihnen das ewige Leben, und sie werden niemals umkommen. Niemand wird sie mir entreißen.

Johannes 10,27-28

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Es ist ein grauer, regnerischer Tag. Ich habe mich hinten in den Umzugslaster gekuschelt, den wir in einen fahrbaren Gebetsraum verwandelt haben. Abwartend. Diese Augenblicke mag ich am meisten. Wenn ich Raum für Gott mache. Ihn darum bitte, ihn zu füllen, wie immer er möchte.

Plötzlich springen vier junge Männer in den Laster, halb nackt und sternhagelvoll. Sie sind um die zwanzig  große, stramme Kerle. Tätowiert, wild dreinblickend und kämpferisch.

»Ich werd das so was von machen  ich werd beten!«, erklärt der eine. Später finde ich heraus, dass er als »Ratchet«  Knarre  bekannt ist. Mein Puls rast, während Adrenalin durch meinen Körper jagt. Meine erste Reaktion ist es, rüberzurutschen und mich auf meinen Rucksack zu setzen, in dem sich mein Portemonnaie und mein Handy befinden. Hoffentlich werde ich nicht ausgeraubt.

Mir ist bewusst, dass es hier vielleicht um Territorialfragen geht. Der Gebetstruck parkt in einer Gasse im Stadtzentrum. Wir stehen hinter dem Living Rock (dt. »Lebendiger Fels«), einem örtlichen Jugendzentrum. Die Teens tolerieren die Anwesenheit des Lasters beim Hintereingang, aber wann immer wir irgendein Hinweisschild vor dem Zentrum anbringen, wird es abgerissen oder zerstört. Das ist ihr Gebiet. Der Laster ist jedoch mein Zuständigkeitsbereich. Also eigentlich der von Gott, aber in diesem Augenblick bin ich diejenige, der er den Hut aufgesetzt hat.

»Also, meine Herren, ihr seid im Gebetstruck. Sollen wir beten?« Ich höre mich viel mutiger an, als ich mich fühle. Der Anführer schwankt hinüber auf die eine Seite des Lasters, schnappt sich einen der Filzstifte, die herumliegen, und schmiert das Erkennungszeichen seiner Gang schwungvoll an die Wand. Er tritt einen Schritt zurück, um sein Werk zu begutachten, und grinst seinen Kameraden zu. »Fantastisch«, sage ich. »Wir haben nette, alte Damen, die zum Beten in den Laster kommen. Jetzt werden sie für eure Gang beten!«

Ein anderer Junge schnappt sich einen Stift und schreibt den Namen seines Sohnes und von dessen Mutter auf. Wenig später sind sie alle am Kritzeln.

Außer einem.

Er ist noch jung, aber sein Gesicht weist bereits Spuren des Lebens auf der Straße auf. Pockennarbig, dreckig und stoppelig.

»Können Sie mir helfen, die hier zu lesen?«, fragt er und deutet auf die Gebete, die auf den Wänden des Trucks stehen.

Er buchstabiert die Wörter, die er kennt, und zusammen entziffern wir die tief empfundenen Botschaften.

»Mama, ich kann nicht aufhören, um dich zu weinen.«

»Ich liebe dich. Einfach. Das ist alles.«

»Betet für alle und alles.«

Am Ende ihres Besuchs sitzen die Jungs und ich im Kreis  mit geneigten Köpfen und geschlossenen Augen. Wir beten für zwei von ihnen, die unbedingt einen Rehaplatz wollen, aber bisher keinen bekommen haben. »Das Gras ist mir egal. Aber das harte Zeug bringt mich um  …«

Nach einem herzhaften »Amen« springen sie auf, verlassen den Wagen und rasen über den Parkplatz wie ein verspieltes Rudel Wölfe, heulend und kreischend. Ich atme erleichtert auf und schüttele die Anspannung ab. Das hätte böse ausgehen können. Richtig böse. Aber stattdessen ging es gut aus. Wie meine Freundin Sue mit ihrem britischen Akzent sagen würde: »Zutiefst gut.«

Am nächsten Morgen bin ich schon früh auf meinem Posten und Ratchet kommt mit schnellen Schritten auf mich zu  ich sitze vor dem Truck auf einem Gartenstuhl am Straßenrand. Er fläzt sich auf den Stuhl neben mich und wir schauen uns den Sonnenaufgang an, während er anfängt zu reden: »Ich hab früher in Toronto gelebt, aber viele meiner Freunde starben in Kämpfen zwischen den Gangs. Hey, willste mal meine Narben sehen?« Ich bin zunächst sprachlos, aber bevor ich antworten kann, zieht er schon sein Hemd hoch. »Hier hab ich ein Messer reingekriegt. Und hier, und hier. Und hier hat mich meine Freundin mit einem Schraubenzieher aufgespießt!«

Nachdem die Narben gebührend betrachtet und bewundert wurden, lehnt er sich wieder im Stuhl zurück. »Eigentlich würde ich gern Arzt werden«, sagt er. »Aber die Schule ist verdammt hart. Und Lehrer sind blöd!« Wir sitzen eine Weile schweigend da. Ich stelle Fragen. Er redet. Über alles und nichts. »Hey, willste ’n Lied hören? Hat ziemlich viele Schimpfwörter, aber ’ne echt krasse Message.«

Ratchet holt seinen iPod hervor und wirft mir einen der Ohrstöpsel zu. Er ist pink und mit Strasssteinchen besetzt  wie man sie im Billigladen kaufen kann. Den anderen steckt er sich ins Ohr und zusammen lauschen wir der Musik, bewegen uns ein bisschen zu ihrem Rhythmus, schauen der Stadt beim Erwachen zu.

Danach sehe ich Ratchet hin und wieder in der Gegend. Manchmal ignoriert er mich. Dann wieder, vor allem wenn er etwas angetrunken ist, läuft er zu mir her und verbeugt sich vor mir oder umarmt mich kurz. »Hey, da ist ja die Gebetsfrau!« Manchmal sehe ich ihn auch monatelang nicht. Ich frage mich, ob er im Gefängnis sitzt. Schließlich verschwindet er ganz  ist vielleicht aus der Stadt abgehauen. Hoffentlich nichts Schlimmeres.

Ich hätte niemals gedacht, dass mich meine berufliche Laufbahn zu einem Umzugslaster in einer Gasse im Stadtzentrum von Hamilton führen würde. Nicht jeder Teenager strebt an, mit betrunkenen Verbrechertypen in provisorischen städtischen Kirchenräumen herumzualbern.

Wie um alles in der Welt bin ich hier gelandet?

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Es ist bereits dunkel und ich bin 14 Jahre alt. Alleine wandere ich durch den Wald. Alles, was ich von meiner Umgebung erkennen kann, sind Baumsilhouetten  schweigende Wächter in der Dämmerung. Ich suche mir einen Baum aus und mache es mir zwischen seinen knorrigen Wurzeln bequem. »Geht allein nach draußen und betet«, hat unser Freizeitleiter gesagt. Ich weiß nicht so genau, was er meint. Oder besser: Ich weiß nicht so genau, wie ich seine Aufforderung umsetzen soll. Gebet ist wie eine von den Fremdsprachen für mich, die man nur in schlechten Kung-Fu- oder Godzilla-Filmen hört. Abgesehen vom Aufsagen des Vaterunsers in der Schule habe ich weder Erfahrungen mit dem Gebet gemacht noch selbst jemals eines gesprochen. Unsicher, was ich tun oder was ich sagen soll, beschließe ich, mich zuerst einmal vorzustellen. Ich schaue nach oben  denn schließlich befindet sich da ja Gott, oder? »Hi, ich bin Jill«, sage ich.

Es dauert Jahre, bevor ich in Worte fassen kann, was als Nächstes passiert  und noch länger, bevor ich es verstehe. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht einmal, ob ich es heute tue …

… mit einem Mal befinde ich mich nicht mehr allein unter diesem Baum. Seine Gegenwart ist unsichtbar, aber greifbar. Angenehm. Ich kann ihr Gewicht auf mir spüren. Körperlose, formlose Substanz. Sie wirkt eigentlich weder bösartig noch freundlich. Einfach … da. Jemand ist da.

Ich tue, was jeder vernünftige Teenager tut, wenn er unsichtbaren Wesen im Dunklen begegnet. Ich verziehe mich schleunigst in meine Hütte, aufgewühlt und mit vielen Fragen. Was. War. Das?

Am nächsten Tag wird uns auf der Freizeit das Evangelium erklärt  wer Jesus ist  und wir werden dazu eingeladen, ihm nachzufolgen.

Ich versuche bereits ungefähr ein Jahr lang herauszufinden, wer dieser Jesus-Typ ist, und zwar seit mein Vater begonnen hat, in die Kirche zu gehen. Er wurde Christ, nachdem er den Sinn des Lebens in Alltagspsychologie und transzendentaler Meditation gesucht hatte. Die Transaktionsanalyse1 ist damals groß in Mode, und Schlagworte wie »Ich bin okay, du bist okay«, »Erwachsenen-, Eltern- und Kind-Ich« und »innerer Antreiber« sind in aller Munde. Ich stelle mir Jesus daher irgendwie als mein Erwachsenen-Ich vor. Er soll mir dabei helfen, aufmerksam zuzuhören und reflektiert zu reden.

An jenem Tag finde ich heraus, dass der Jesus der Bibel ganz anders ist. Jetzt ist es eigentlich total einfach. Die einzige unsichtbare Person, die ich kenne (und das erst seit Kurzem), ist Gott. Und wenn Gott mich will  wie könnte ich da Nein sagen? Wenn der Schöpfer des Universums eine persönliche Einladung ausspricht, ist es ziemlich krass unhöflich, sie abzulehnen. Deshalb sage ich Ja zu der unsichtbaren Gegenwart. Ich sage Ja zu dem Versuch, Jesus lebenslang zu lieben, auf ihn zu hören und ihm zu folgen.

30 Jahre später …

»Und, was machst du so?« Es ist eine ganz normale Frage. Die Antwort bringt mich immer in Verlegenheit. Normalerweise halte ich inne, taxiere mein Gegenüber und überlege, welches die beste Art und Weise ist, dieses ungewöhnliche Leben, das ich führe, zu beschreiben. Manchmal sage ich, dass ich Stadtmissionarin oder Pastorin bin. Manchmal antworte ich, dass ich Gebetsmissionarin bin. Dann wieder, dass ich Äbtissin einer neuen klösterlichen Gemeinschaft bin oder eine Musikionarin. Alles stimmt.

Die tiefste Wahrheit?

Ich bin eine Liebende. Eine Zuhörerin und Nachfolgerin. Zumindest versuche ich, das zu sein.

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Ich bin neun und streife durch den Wald, dieses Mal nicht allein. Ich mochte Wandern schon immer. Wälder sind voller Schönheit und Geheimnis und mein Herz fühlt sich in ihnen zu Hause. Die Haut von Baumschatten gesprenkelt, begutachte ich die Steine, die aus dem Fluss herausragen. »Tritt da hin und da hin und da hin.« Meine Führerin dreht sich um und deutet auf die Reihe von sicheren Inseln. »Vorsicht, dieser hier ist ein bisschen rutschig.« Ich habe ein Auge auf meiner Führerin , das andere auf den Steinen. Ich zögere. Langsam und bedächtig sein bedeutet trockene Turnschuhe. »Wunderbar. Der noch und der, und jetzt nimm meine Hand. Du hast es geschafft!« Sie umarmt mich anerkennend und wir klettern gemeinsam die Uferböschung hoch.

Dem Anführer folgen. Ein Kinderspiel. Gespielt auf Wanderungen und in Schulhöfen.

»Kommando: Bimperle.«

»Kommando: Hoch!«

»Tief!  Halt, stopp! Ich habe nicht ›Kommando‹ gesagt!«

Doch wie bei den Kämpfen von Wolfswelpen ist unser Kinderspiel ein Übungsfeld und bereitet uns aufs Erwachsenenalter vor. Ich frage mich manchmal, ob wir nicht alles, was wir unbedingt über die Nachfolge Jesu wissen müssen, schon im Kindergarten lernen.

John Dawson ist einer der Mitbegründer von Jugend mit einer Mission, einer der größten Missionsorganisationen der Welt. Er ist weltweit tätig und immense Verantwortung lastet auf seinen Schultern. Auf einer Konferenz hörte ich ihn einmal etwas ganz wunderbar Befreiendes sagen: »Jeden Morgen klettere ich wie ein kleines Kind aus dem Bett.« Sein Erfolgsrezept, sein Schlüssel zu einem Lebensstil, der in einer komplexen Welt funktioniert? Kindliche Naivität.

»Meine Schafe hören meine Stimme«, sagte Jesus. »Ich kenne sie und sie folgen mir« (Johannes 10,27). Hören und folgen. Mehr muss ich nicht können. Letzen Endes bin ich von vielen Unwägbarkeiten umgeben. Mein Leben ist mir zu groß und ich weiß nicht, wie ich es steuern soll. Hören und Folgen sind schlussendlich die Trittsteine, die mich von dieser ersten Begegnung unter dem Baum zu einer Gasse voller Mülltonnen gebracht haben. Es war eine faszinierende (und manchmal gefährliche) Reise.

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EINLADUNG

Wie geht beten? Schnell verkomplizieren wir Gebet – wir wollen es »richtig« machen. Wir wollen, dass unsere Gebete effektiv sind. Ich werde oft gefragt, ob Gebet funktioniert. Ich stelle dann eine Gegenfrage: »Ein Gespräch mit deinem Mann oder deiner Familie – funktioniert das?«

Gebet ist kein Werkzeug oder ein mechanischer Prozess. Wir können die Effizienz nicht messen. Es ist keine Technik, die wir uns aneignen, damit wir die gewünschten Ergebnisse erhalten. Gebet ist schlicht und einfach: Gespräch und Gemeinschaft mit dem Gott, der uns mehr liebt, als wir je hoffen, und der uns näher ist, als wir uns je vorstellen könnten.

Die einzige Möglichkeit, beim Gebet zu versagen? Nicht zu beten.

Gebet ist einfach. Paradoxerweise ist es auch geheimnisvoll. Eines der wunderbaren Geheimnisse des Gebets ist, dass Gott der große Initiator ist. In 1. Johannes 4,19 heißt es: »Wir wollen lieben, weil er uns zuerst geliebt hat.« Und in Johannes 6,44 sagt Jesus: »Niemand kann zu mir kommen, wenn der Vater, der mich gesandt hat, ihn nicht zu mir zieht …«

Unser Interesse an Gott und unsere Sehnsucht nach ihm zeigen, dass er bereits in unserem Leben am Werk ist und uns zu sich zieht. Dass Sie dieses Buch gekauft und zu lesen begonnen haben, liegt darin begründet, dass Gott selbst Sie auf eine Reise eingeladen hat. Er hat Ihr Herz auf Pilgern eingestellt.

Nehmen Sie sich Zeit, um über die folgenden Fragen nachzudenken. Es ist hilfreich, wenn Sie Ihre Gedanken in einem Tagebuch niederschreiben.

Denken Sie an die letzten Tage zurück und bitten Sie Gott, Ihnen zu zeigen, wo er Sie gerade zu sich ziehen will. Wie könnte Gott den Kontakt und das Gespräch mit Ihnen initiiert haben? Manchmal ist es schlicht das, was wir »Alltagsgeschenke« nennen – allgemeine Zeichen seiner Güte für uns alle, wie der Sonnenaufgang jeden Tag. Oder gibt es Momente in Ihrem Tagesablauf, wo Gott vielleicht Ihre Aufmerksamkeit erregen möchte? Situationen? Gespräche? Ungewöhnliche Vorkommnisse?

Was würde passieren, wenn Sie sich in die Stille zurückziehen und eine Unterhaltung mit Gott beginnen würden? Wenn Sie noch nie mit ihm gesprochen haben, stellen Sie sich vor! Wenn es schon eine Weile her ist, wäre jetzt ein großartiger Moment, um wieder ins Gespräch mit ihm zu kommen.

Am Ende jeder Einladung finden Sie ein Gebet von mir, das Sie zu Ihrem eigenen machen können, wenn Sie möchten.

Jesus,

danke, dass du uns liebst – dass du uns schon immer liebst.

Danke, dass du uns auch gerade jetzt umwirbst – dass du uns zu Gemeinschaft und Gespräch einlädst. Danke für den Hunger und die Sehnsucht, die du in uns gelegt hast, und für die Wege, auf denen du uns zu dir ziehst.

Hilf uns, heute deine Gegenwart und dein Wirken in unserem Leben zu erkennen.

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2

BERUFUNG

Denn wir sind Gottes Schöpfung. Er hat uns in Christus Jesus neu geschaffen, damit wir die guten Taten ausführen, die er für unser Leben vorbereitet hat.

Epheser 2,10

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Ich liebe Tiere. Als Kind will ich Tierärztin werden. Es ist mein innigster Wunsch. Wir haben eine fröhliche, aber nicht sehr intelligente, gelbe Labradorhündin namens Brandy, die wir im selben Jahr anschaffen, in dem wir meinen kleinen Bruder bekommen. Mir ist Brandy lieber. Sie ist süßer und kuscheliger und schreit viel weniger.

Brandy soll nachts im Untergeschoss bleiben, aber ich kann den Gedanken, dass sie da unten ganz alleine ist, nicht ertragen. Sie ist einsam! Sie braucht mich! Ihre Kiste hat Welpen-, nicht Kleinkindgröße, deshalb hänge ich mich über eine Seitenwand, den Po in der Luft, die Decke über uns beide wie ein Zelt gebreitet. Wir sind versteckt und ich bin sicher, dass meine Übertretung nicht entdeckt werden wird. Meine Wange ist warm und es kitzelt, als der Welpe mich mit seiner Nase anstupst und sich an mich kuschelt. Wir atmen zusammen und seufzen zusammen.

Ich bin im Himmel und beschließe, dass Tiere mein Ding sind. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie meine Eltern herausfinden, wo ich bin, aber schon sehr bald werde ich aus dem Himmel geworfen und in mein einsames Bett zurückgeschickt.

Viele Jahre später nehme ich in der achten Klasse an einem speziellen Programm für begabte Kinder teil. Wir haben besondere Veranstaltungen außerhalb des Lehrplans und ich mache alles mit, was im Bereich Tiere und Tiermedizin angeboten wird. So kommt es, dass ich in einem Stall der University of Manitoba stehe. Meine Aufgabe? Eine Operation an einem lebenden Schwein durchführen. Mir wird gesagt, dass ich entweder einen Kaiserschnitt oder eine Ovarektomie durchführen werde – eine Geburt oder eine Sterilisation. Einen schlaffen Eierstock in der Hand zu halten, hat irgendwie nicht den gleichen Charme, wie Babys auf der Welt willkommen zu heißen, aber leider habe ich den falschen Zeitpunkt erwischt und keine Ferkel sind reif zum Pflücken.

Als ich über die Schwelle des Stalls schreite, kommt mir eine Welle warmer, übel riechender Luft entgegen. Der Gestank von Fäkalien, Stroh und warmem Schwein überrollt mich, verfängt sich in meinem Hals. Ich kann ihn auf meiner Zunge schmecken. Als Stadtkind habe ich bisher nur Schweine im Streichelzoo und als Illustrationen in einem meiner Lieblings-Kinderbücher gesehen, Schweinchen Wilbur und seine Freunde. Während ich mich nach Wilburs Cousin umblicke, mache ich große Augen, als ich etwas entdecke, das wie riesige, pinke Pferde aussieht. Pferde? Nein, Moment. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich in der Tat um Schweine, aber viel, viel größer, als ich sie mir vorgestellt habe.

Meine Patientin, die ich Wilma nenne, ist schon auf den provisorischen Operationstisch geschnallt. Aus einer Infusionsflasche tropft langsam ein Anästhetikum in einen Schlauch, der an ihrem Bein befestigt ist. Während ihre haarige Brust sich hebt und senkt, schlummert Wilma vor sich hin, und ich lege einen Ganzkörperoverall aus Papier, eine Maske und OP-Handschuhe an.

Der diensthabende Tierarzt zieht das Tablett mit Instrumenten heran. »Hier ist dein Skalpell.« Er legt es mir in die schweißigen Finger. »Ich habe die Schnittlinie auf die Flanke des Schweins gemalt, du musst also nur das Messer einführen und nach unten schneiden.« Ich lege meine flache linke Hand auf Wilmas Bauch, um uns beide zu stabilisieren, und mache den ersten Schnitt. Eigentlich gar nicht so anders, als Schinken zu schneiden, oder?

Nur dass Schinken nicht quiekt und tritt.

Wilma tritt mich am Oberschenkel und windet sich auf dem Tisch. Später entdecke ich, dass sie mich mit einem tellergroßen blauen Fleck geziert hat, der mich noch Wochen begleiten wird. Der Tierarzt stürzt zum Infusionsschlauch und ich humpele aus der Gefahrenzone. »Mist! Geben wir dem Narkosemittel noch etwas mehr Zeit zum Wirken.«

Schon bald beruhigt sich Wilma und ich piekse mit dem Skalpell in ihre Seite, um sicherzugehen, dass sie komplett betäubt ist. Keine Reaktion. »Alles klar, dann mal los.« Der Tierarzt geht in den Anleitemodus über und beginnt, mich mit Wilmas Innenleben vertraut zu machen. »Das sind die Därme. Ja, davon gibt’s ’ne Menge. Achte darauf, sie nicht mit dem Skalpell zu erwischen, sonst bringst du sie um.« Mehr Druck geht kaum!

Wir wühlen herum, bis wir die Gebärmutter finden, und folgen dann den Eileitern bis zu den Eierstöcken, die an ihren Enden baumeln. Meine Arme sind warm und nass. »Na also. Schneid sie einfach durch … Gut. Du hast es geschafft.« Die Organe rutschen aus meinen Händen in die bereitgestellte Metallschale. »Jetzt lass mich dir zeigen, wie man näht. Führ die Nadel hier ein und da durch und zieh dann. Und noch mal … Ein paar Mal noch … Gut. Fertig! Jetzt machen wir alles wieder zu. Pass auf den Darm auf!« Wir suchen uns den Weg aus Wilmas höhlenartigem Körper zurück und nähen ihn dabei zu.

Nachdem meine allererste Operation erfolgreich abgeschlossen ist, lasse ich eine eilose und dösende Wilma auf dem Tisch zurück und gehe in den Waschraum, um mich zu »ent-schweinen«. Ich ziehe meine Sachen aus und schrubbe, schrubbe, schrubbe, danke dem Tierarzt und gehe zum nächsten Teil meines Tags über.

Praktischerweise findet das jährliche Language Arts Festival auch an der University of Manitoba statt. Ich nehme in diesem Jahr daran teil und verbringe den Nachmittag damit, von einem Unterrichtsraum in den nächsten zu ziehen und Lyrik sowie Kurzgeschichten vorzutragen. Dabei gewinne ich das eine oder andere Abzeichen. Fühle mich zufrieden und dankbar. Welches Kind darf sonst schon am selben Tag morgens eine Operation an einem Schwein durchführen und nachmittags bei einem Lyrikwettbewerb mitmachen?

In den Unterrichtsräumen sind die Stühle um mich herum leer, aber das fällt mir nicht auf. Auf der Fahrt nach Hause mit den Klassenkameraden sind die Autofenster heruntergekurbelt, selbst auf der Autobahn, aber auch das nehme ich nicht wahr, während ich meinen Tagträumen von einer Zukunft als weltberühmter Tierärztin und Autorin nachhänge. So wie James Herriot, der britische Tierarzt und Autor der Bücher, die später zur Serie »Der Doktor und das liebe Vieh« wurden. Erst als ich nach Hause komme, wird mir bewusst, dass mein Leben vorbei ist. »Hey Mum!« Ich schlage die Eingangstür zu und ziehe meine Schuhe aus. »Cooler Tag!« Die Stimme meiner Mutter schwebt von der Küche durchs ganze Haus. »Jill, was um alles in der Welt hast du gemacht? Du stinkst!«

Ich erstarre. Ein großer Stein plumpst in die Tiefen meines Magens.

Ich stinke?

Während des Vormittags im Stall muss ich mich an den Gestank gewöhnt haben. Eine Wolke von Wilma und ihren Freunden ist mir den ganzen Tag wie die Zeichentrickfigur Pig Pen bei Charlie Brown gefolgt. Ich befand mich in seliger Unkenntnis über das Tiefdruckgebiet, das mich umgab. Stinke-Schweinchen-Jill, die in Universitäts-Unterrichtsräumen vorne steht und Lyrik vorliest. Stinke-Schweinchen-Jill in einer Wagenladung mit ihren Freunden. Ex-Freunden, vermutlich, nach heute.

Ich befinde mich in der Hölle und bin nicht mehr so sicher, ob Tiere mein Ding sind. Nach der längsten, schrubbeligsten Dusche der Geschichte beschließe ich, dass das Vernünftigste ist, mich für immer in meinem Zimmer zu verstecken und Homeschooling zu machen.

Es ist jedoch nicht der Stink-Vorfall, der meine kurze Karriere als Tierärztin beendet. Es war jene schicksalhafte Nacht unter dem Baum – die Nacht der unsichtbaren, aber unmissverständlichen Begegnung –, die die weitere Entwicklung meines Herzens und Lebens veränderte. Es sind diese Entscheidungen, die wir treffen – die schicksalhaften Jas. Nicht nur besondere Momente und Herzensregungen, sondern tatsächliche Vorgänge, die die Wirklichkeit neu formen und eine neue Zukunft entfalten.

Ich schleiche mich zurück zur Schule und werde Teil des Schülerbibelkreises. Nach der Bekehrung ist mein Ruf ruiniert. Er war bereits angeschlagen, war ich doch eine übergewichtige Klugscheißerin. Nun, da ich religiös geworden bin, nennen sie mich den langhaarigen Jesus Freak. Eins, zwei drei – vorbei: Ich bin offiziell kein Date-Material. Deshalb beschließe ich, dass ich gleich mit der Handvoll schrulliger Jünger abhängen kann, die sich am Mittwoch in der Mittagspause zum Beten treffen.

Da ist Patrick, schlank und androgyn. Eine Haarsträhne hängt ihm bis zum Kinn und verdeckt ein mit Lidstrich versehenes Auge. (Es waren die Tage von Boy George.) Es wird getuschelt, er sei bisexuell. Während der Gebetstreffen kritzelt und krakelt er in seinem großen, schwarzen Skizzenbuch herum. Schwarz und Lila sind die Farben seiner Wahl.

Dann ist da Andrew, der hart daran arbeitet, sich einen dünnen Schnurrbart und einen Kinnbart stehen zu lassen. Seine Gemeinde nennt sich The Church of God of Prophecy (Dt. »Die Gemeinde des Gottes der Prophetie«). Ernst und hingegeben kniet er vor seinem Stuhl und seine Gebete sind laut, inbrünstig und voller Wiederholungen. »Vater, wir lieben dich, Vater, und Vater, wir bitten, Vater, dass du die Schule segnest, Vater. Vater, bitte hilf uns allen bei den Prüfungen, Vater, wir segnen die Familien von allen, Vater …«

Und da ist Joel: umgänglich, intelligent und offen. Seine Kinderlähmung macht sein Grinsen und seinen linken Arm schief. Man kann seinen schlurfenden, schleppenden Gang schon von Weitem ausmachen. In einer Mittagspause fällt er die Treppe herunter und bleibt bewusstlos in einer Blutlache liegen. Wie Gaffer, die an einem Unfall auf der Autobahn vorbeikommen, umzingeln wir ihn neugierig, bis die Sanitäter ihn wachkriegen und wegbringen. Ein paar Tage später ist er zurück, torkelt durch die Schule und zeigt, wo er genäht wurde.

Die drei Musketiere brauchen einen Viehtreiber und, schwuppdiwupp, habe ich die Leitung. Was mir an biblischem Wissen fehlt, mache ich mit meiner Unternehmungslust, meinem Organisationstalent und meinen Keks-Backkünsten wett. Offenbar habe ich eine Begabung als Leiterin.

Als christliche Leiterin. Soll ich Pastorin werden? Pfarrerin Jill? Bäffchen und Talar eingeschlossen? Es wäre möglich.

Ich beginne meine Erkundungen damit, die Pastoren in meinem Leben mit derselben Neugier und Intensität zu beobachten, mit der wir Amöben unter dem Mikroskop im Biologieunterricht sezieren.

Da ist Reverend Ian, Pastor unserer Gemeinde und Vater von Drillingen. Ich kann mich lebhaft an eine seiner Sonntagspredigten erinnern (es muss wohl um Halloween herum gewesen sein). Die Drillinge sind damals drei und stellen identische Löwenkostüme zur Schau – mit allem, was dazugehört: bemähnten Kapuzen, angemalten Nasen und Schnurrhaaren. Der Kindergottesdienst muss etwas früher zu Ende gewesen sein, denn mitten in der Predigt werden die Löwen losgelassen. Fauchend und kichernd überrennen sie den Altar und gehen dann dazu über, ihren Vater zu erklettern, als wäre er ein ausladender Baum in der Serengeti. Ian versucht mutig, mit seiner Predigt weiterzumachen, aber die Wirkung seiner Worte wird durch das Schauspiel drei kleiner Löwen, die an seinem Talar baumeln, gedämpft.

Und dann ist da Reverend Frances, die Pfarrerin einer Gemeinde aus der Nachbarschaft, über die ich definitiv zu viel weiß. An einem ungewöhnlich feucht-heißen Tag besuche ich ihren Gottesdienst und habe die bedauerliche Gelegenheit, auf der Empore direkt neben der Kanzel zu sitzen. Als Frances ihre locker vom Talar bedeckten Arme am Ende zum Segen hebt, befinde ich mich zufälligerweise genau im richtigen Winkel, um zu sehen, dass sie sich für die … ähm … luftigere Variante darunter entschieden hat.

Frances hat trotz ihrer minimalistischen Kleidungstendenzen einen sehr guten Rat bezüglich einer Laufbahn im geistlichen Dienst. »Das Seminar wird dir ehrlich gesagt nichts Brauchbares beibringen.« Wir teilen uns gerade eine Pommes an der örtlichen Imbissbude. »An meinem ersten Sonntag in meinem neuen Pfarrbezirk musste ich ein Baby beerdigen. Ein Baby! Das kam in meiner theologischen Ausbildung nicht vor! Hier ist mein Rat für dich: Wenn du dich in den vollzeitlichen Dienst gerufen fühlst, lauf in die entgegengesetzte Richtung. Wenn du wirklich dort sein sollst, wirst du so oder so irgendwie dort landen.«

Ian hilft mir ebenfalls sehr, als ich ihn zu dem Thema befrage. »Unser Vorbild ist Jesus. Und Jesus hat dienende Leiterschaft vorgelebt. Wenn ich vor der Gemeinde stehe, stelle ich mich mir in ein Handtuch gehüllt vor, genau wie Jesus, als er seinen Jüngern die Füße wusch.«

»Und wenn man Pastoralassistentin ist?« Meiner Vorstellung nach fängt man klein an und arbeitet sich dann im Pfarrbetrieb hoch.

»Ach, wenn du Assistentin bist, bedeutet das nur, dass du ein kleineres Handtuch umhast.« Er grinst.

Meine Erkundung wird von dem Eignungstest befeuert, den wir bei der Berufsorientierung an der Schule machen. Viele Multiple-Choice-Fragen helfen uns, unsere Interessen und Begabungen herauszufinden. Die Antworten werden in den Computer getippt. Eingegeben und verarbeitet, spuckt das Orakel der Weisheit dann die Ergebnisse aus. Der Ausdruck ist auf Computerpapier der alten Art, ein langes, faltbares Blatt mit perforierten Rändern. Darauf befindet sich eine Liste mit den am besten zu uns passenden Berufen. Dieses Blatt Papier wird unser Berufsleben bestimmen.

Zwei Optionen konkurrieren ganz oben auf meinem Zettel miteinander: Pastorin und Gärtnerin. Was für eine komische, unwahrscheinliche Kombination, denke ich. Ich habe keine Ahnung, wie zutreffend die Vorhersage sein wird.

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EINLADUNG

In Epheser 2,10 heißt es: »Denn wir sind Gottes Schöpfung (oder: Werk). Er hat uns in Christus Jesus neu geschaffen, damit wir die guten Taten ausführen, die er für unser Leben vorbereitet hat.« Das griechische Wort für »Werk« lautet poiema. Davon leitet sich Poesie ab – wir sind Gottes Gedicht. Sein Kunstwerk. Sein Meisterstück. Wir sind auf erstaunliche, ausgezeichnete Weise gemacht, erklärt der Psalmist (Psalm 139,14).

Im Wort »Berufung« steckt »Ruf«. Gott ruft uns dazu, die Einzigartigkeit auszuleben, mit der er uns geschaffen und geformt hat. Er ruft uns auch dazu, seine Pläne und Ziele nicht nur für uns selbst zu leben, sondern für seine allumfassenden Pläne und Ziele für die gesamte Schöpfung.

Berufung hat mit Zuhören zu tun. Ich muss meinem Leben zuhören und versuchen zu verstehen, um was es wirklich geht.2

Nehmen Sie sich etwas Zeit, um Ihrem eigenen Leben zuzuhören. Erkunden Sie die Leidenschaften und Sehnsüchte Ihrer Kindheit, Ihre Eigenheiten und Persönlichkeit, Ihre Erfahrungen, gute wie schlechte. Vielleicht schreiben Sie es in Ihrem Tagebuch auf. Möglicherweise finden Sie es sogar hilfreich, Ihre Überlegungen zu malen, indem Sie Bilder oder Symbole verwenden. Wie könnten Ihre Leidenschaften, Ihre Persönlichkeit und Ihre Erfahrungen Ihren Ruf und Ihre Berufung prägen?

Alles in allem können Sie es folgendermaßen gut herausfinden: Die Art von Werk, zu dem Gott Sie normalerweise beruft, ist die Art von Werk, die Sie am meisten tun müssen und die die Welt am meisten braucht. Der Ort, an den Gott Sie ruft, ist der Ort, an dem Ihre größte Freude auf die größte Not der Welt trifft.3

Bei der vorigen Frage haben Sie Ihre Leidenschaften, Ihre Persönlichkeit, Ihre Erfahrungen identifiziert. Wo könnten diese Gaben auf die Nöte, die Sie um sich herum wahrnehmen, treffen?

Jesus,

ich bin so dankbar dafür, wie ich bin, wie du mich einzigartig gebildet und geschaffen hast. Deine Werke sind wunderbar.

Mach mich sensibel für deinen Ruf in meinem Leben und hilf mir, mutig zu reagieren, wenn du mich einlädst, dir zu folgen.

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3

OKAY, UND JETZT?

Lass mich schon am Morgen deine Gnade erfahren, denn ich vertraue auf dich. Zeige mir einen Weg, den ich gehen soll, denn ich habe dich darum gebeten.

Psalm 143,8

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Mit 19 beginnt meine Karriere als Berufschristin. »Welche Art von Arbeit willst du tun?«, fragt Reverend Ian. »Schreib einfach alles auf, schick es an unseren Gemeindebund und warte ab, ob sich irgendwelche Gemeinden für dich interessieren. Am besten lernt man, wenn man etwas praktisch tut.«

Meine Anzeige sieht wohl irgendwie so aus:

Stelle gesucht:

Begeisterte, naive und idealistische junge Erwachsene sucht Anstellung im Pastoralbereich, völlig jenseits ihres Könnens, ihrer Ausbildung und Fähigkeiten. Arbeite für Kost und Logis.

Eine mutige (oder gutgläubige) Gemeinde in Ottawa erkennt ein gutes Angebot, wenn es sich ihr bietet, und schnappt sich mich. Meine Stellenbezeichnung? Pastoralassistentin.

»Ich nenne dich so, damit du auch mal vorne die Gottesdienstleitung übernehmen kannst, ohne dass die Leute deshalb gleich mosern.« Reverend Gordon ist ein schlaksiger Niederländer mit einer nüchternen Art, die mit einer spitzbübischen Ader gepaart ist. Meine Hauptaufgabe ist es, Angebote für Jugendliche zu entwickeln. Reverend Gordon hat jede Menge zu tun, daher lässt er mir freie Hand, um zu experimentieren, kreativ zu sein und einfach mal zu machen.

Eine Familie aus der Gemeinde nimmt mich auf. Eine andere Familie stellt mir ein Auto zur Verfügung. Es ist eine echte Jugendleiterkarre, angemessen klapprig. Die Fenster haben sich im heruntergelassenen Zustand verklemmt, was ein wenig heikel im bitteren kanadischen Winter ist. Die Hintertüren sind zugeschweißt, sodass die Jugendlichen über den Beifahrersitz klettern müssen, um einzusteigen. Sie ist der Hit bei den Teens und ich nenne sie Bessie. Ich lerne viel in meinem sechsmonatigen Einsatz:

• Wenn man ein Gebet in Jesu Namen beendet, sagt man nicht »in Jesuses Namen«.

• Ein Erdnussbuttersandwich ist ein schlechter Ersatz für Abendmahloblaten. Wer hätte gedacht, dass bereits der Geruch jemanden ins Krankenhaus bringen könnte?

• Cola der Marke Jolt hat doppelt so viel Koffein wie normale Cola. Ein Sixpack bringt mich durch die meisten Wochenenden, aber bei Jugendfreizeiten mit Übernachtung brauche ich zwei davon. Ich ignoriere meine zuckenden Augenlider und zitternden Hände und schütte eine nach der anderen in mich hinein, damit ich energiegeladen, munter und vergnügt bin.

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