Theaterstudien
Band 1
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Umschlagabbildung. Ausschnitt aus dem Gemälde Squelette arrêtant masques
(1891) von James Ensor. Der Dank für die freundliche Genehmigung zum Ab
druck geht an die Phoebus Foundation, Antwerpen,
https://phoebusfoundation.org.
Verlagslabor, Bonn 2022
Dr. Rolf Lohse
Maxstraße 38, D-53111 Bonn
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 978-3-7562-6040-9
www.verlagslabor.de
Einleitung
Annika Mayer
Zeitgenössische französischsprachige Erzähldramaturgien (1980-2000)
Marco Antonio Cristalli
Die Figur der Klytämnestra bei Marguerite Yourcenar und Valeria Parrella
Julia Krumrei
Die tragischen Heldinnen und Helden des Dias Gomes. Eine Analyse de rDramen O Pagador de Promessas und O Santo Inquérito
Anna-Lena Glesinski
Ra xeka hai tsatyo thutsi – La isla de los perros (2003): kulturelle, sprachliche und soziale Anerkennung im zeitgenössischen mexikanischen Drama
Florian Lützelberger
„Hay muchas maneras de estar muerto“ – Metatheatralität, Intertextualität, memoria histórica und Universalität im Teatro Fronterizo am Beispiel von Sanchis Sinisterras ¡Ay, Carmela! (1986/87)
Marie Jacquier
Auto(r)fiktion intermedial: Jean-Luc Lagarces Juste la fin du monde (1990) und die filmische Adaption durch Xavier Dolan (2016)
Kirsten von Hagen
„J’ai le papier mais pas de stylo“ – Zur Aktualität der Inszenierung von Telefonanrufen auf der Theaterbühne
Sabine Heymann
Kassengift? Die prekäre Situation der italienischen Gegenwartsdramatik – Aspekte einer unendlichen Geschichte
Rolf Lohse
Komödie, Tragödie & Co im 21. Jahrhundert – fokale und transitorische Gattungen des Theaters in der Romania
Autorinnen und Autoren
Namen-, Begriff- und Sachregister
Christiane Müller-Lüneschloß und Rolf Lohse
Theater ist ein Raum, in dem spielende Individuen oder ein spielendes Kollektiv Handlungen und Situationen vorführen, die zentrale, aber auch marginale Anliegen des zuschauenden Kollektivs adressieren. Die aktuellen Dramen jeder Epoche verhandeln individuelle Befindlichkeiten, die Suche nach intersubjektiven Werten und geistigen Horizonten, verkünden politische, soziale, wirtschaftliche und religiöse Überzeugungen und stellen die Konflikte zwischen diesen dar, seien sie real oder imaginär, brandaktuell oder latent, utopisch oder dystopisch. (Vgl. jüngst Cao Kefei u.a. 2017) Die kollektive Dimension des Theaters ist aus dem öffentlichen Bewusstsein nicht mehr wegzudenken. Sie hat ihre Wirksamkeit immer wieder unter Beweis gestellt und dürfte dies auch weiterhin tun. Denn im Theater steht – im Gegensatz zu schriftsprachlichen, audiovisuellen sowie elektronischen Ästhetiken und Unterhaltungsangeboten – die menschliche Präsenz im Mittelpunkt. Der Reiz einer Aufführung liegt in der Unmittelbarkeit und in der Nähe des Geschehens zum Zuschauer.
Der vorliegende Sammelband präsentiert die Beiträge der Sektion 6 des XXXVI. Deutschen Romanistentags an der Universität Kassel, 29.09.-2.10.2019. Thematisch waren Tagung und Sektion durch das im Tagungsmotto „Wiederaufbau, Rekonstruktion, Erneuerung“ und besonders die im Untertitel evozierte dynamische Beziehung von „Wiederaufbau, Rekonstruktion und Erneuerung“ verknüpft. Das dem Motto implizit zugrunde gelegte Spannungsfeld von Zerfall und Neubeginn kann beim Nachdenken über Ort und Stellenwert des aktuellen Theaters in den romanischsprachigen Kulturen für jeden Aspekt der dramatischen Kunst, für Spielweisen, Figurengestaltung, literarische Formen und Gattungen fruchtbar gemacht werden. Der Titel der Sektion signalisiert einen Wechsel, der sich als Verfall der Relevanz bestehender Formen zeigt, gleichzeitig aber auch in neuen und ungewohnten Formen – historisch ein immer wieder feststellbarer Vorgang. Jenseits der Archetypen Tragödie und Komödie werden kontinuierlich neue dramatische Gattungen entwickelt, neue Theaterästhetiken, ungewohnte Spielformen, und es wurde besonders in den letzten 100 Jahren eine große Bandbreite an Performativität entfesselt. Das Spannungsfeld von Dekonstruktion und Rekonstruktion zählt, auch wenn dies paradox anmuten mag, zu den fraglosen Kontinuitäten der Dramen- und Theatergeschichte. Das Theater als gesellschaftliches und ästhetisches Reflexionsmedium, das der Selbstvergewisserung dient sowie als komplexe Form von Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung, antwortet beständig auf zeitgenössische Bedürfnisse und baut unablässig das Gefüge von historischen und zeitgenössischen Gattungen um.
Die Sektion richtet den Blick auf das Theater der Romania. Aus dem weiten Spektrum von mehr als zwei Dutzend Nationalliteraturen werden einige wenige, bedeutsame Fallstudien zum Theater vorgelegt, an denen sich Einsichten in den Wandlungsprozeß gewinnen lassen. Die Diskussion konzentrierte sich auf das zeitgenössische Theater, denn allein seit dem Ende der Sechziger Jahre ist das Material überaus reichhaltig. Die Bestandsaufnahme, die der vorliegende Band vorlegt, soll dazu beitragen, bisherige Perspektivierungen zu ergänzen und zu schärfen, und richtet sich auf Transformationsprozesse, über die auch weiterhin noch zu handeln sein wird. Der Fokus der Beiträge liegt jeweils auf Einzelnen oder Gruppen von Stücken sowie Autorinnen und Autoren, an denen sich Entwicklungstendenzen des Theaters beobachten lassen, die auf der Ebene von Schreib- und Darstellungsweisen liegen, die sehr unterschiedlich artikuliert sein können, bis hin zu Fragen der Relevanz von Gattungen. Immer geht es um die Frage, auf welche Weise Kollektive und Individuen Konflikte dramatisch gestalten.
Drama ist immer auch Aufführung, an deren Analyse die Theaterwissenschaft interessiert ist. Inszenierungsanalyse und Textanalyse gehen jedoch unterschiedliche Wege. Der Bezug all dessen, was auf der Bühne geschieht, auf den Text unterstreicht, wie relevant die textkritische und philologische Analyse dieser Basis ist. Den Philologien kommt dabei neben der Theaterwissenschaft, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts herausgebildet hat, eine wichtige Rolle zu. Denn die auf den Dramentext fokussierende hermeneutische Analyse zielt darauf ab, vor einer inszenatorischen Interpretation zunächst einmal den gegebenen Bedeutungshorizont zu erschließen. Denn erst in dieser Perspektive ist es sinnvoll, über Fragen wie Texttreue und die Relevanz von Entscheidungen der Regie zu diskutieren. Ohne eine solche Analyse läuft die Inszenierungsanalyse Gefahr, das dem Theater eigene sprachliche, kulturelle, referentielle Potential zu verfehlen. Der Text, der auch spontan während einer Vorstellung entstehen kann, ist nicht als Kriterium normativer Objektivierung zu verstehen, sondern als eine sinnkonstituierende und -kondensierende Referenz, die die jeweiligen inszenatorischen Entscheidungen begründet und plausibilisiert.
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Der Beitrag von Annika Mayer „Zeitgenössische französischsprachige Erzähldramaturgien (1980-2000)“ bietet eine aus aktuellen Theatertexten heraus entwickelte Systematik theaterspezifischer Erzählverfahren. Zahlreiche Autorinnen und Autoren halten gegenüber dem Paradigma des postdramatischen Theaters am Sprechtext fest und reaktivieren eine traditionelle Praxis, in der bereits Erzählpassagen in den Dramentext eingelassen sind. Statt diese der Handlung jedoch unterzuordnen, heben sie diese in Umfang und Bedeutung so deutlich an, daß die narrative Prägung im innovativen und explorativen Formenpluralismus der Gegenwartsdramaturgie als Merkmal deutlich hervorsticht. Mayer akzentuiert Azamas Beobachtung „Nous sommes passés d’un théâtre [...] du ‚faire‘ à un théâtre du ‚dire‘.“ (Azama 2004, 19) damit neu. Sie zeigt, wie das Erzählen Dialog und Handlung transformiert und neue Formen szenischen Handelns ausbildet. Analog zu der von Lyotard in La condition postmoderne (1979) entwickelten These, die großen Erzählungen werden durch „petit(s) récit(s)“ ersetzt, wird auch die Erzählung im Theatertext zu Fragmenten und Mikroerzählungen atomisiert. Erzählformen des Alltags, wie z.B. der Lebenslauf, werden zum Material formalästhetischer und kritisch-reflexiver Spiele, etwa bei Noëlle Renaude oder Valère Novarina.
Die fragmentierende Arbeit an großen Mythen ist eine Konstante der Literatur im 20. Jahrhundert. Diese tangiert über Dramatisierungen epischen Materials immer auch das Theater. In dem Beitrag „Die Figur der Klytämnestra bei Marguerite Yourcenar und Valeria Parrella“ bearbeitet Marco Antonio Cristalli zwei zentrale Aspekte des zeitgenössischen Theaters: zum einen die Dramatisierung von Prosatexten, hier am Beispiel von Marguerite Yourcenars Prosatext Clytemnestre ou le crime, der als Dramentext Verbreitung gefunden hat, zum anderen das Umschreiben bekannter Mythen durch Adaptionen. Valeria Parrellas Adaptation von Yourcenars Text mit dem Titel Io Clitemnestra. Il verdetto macht die Möglichkeiten der intertextuellen und internationalen Verknüpfung textlicher Bezugnahmen erkennbar. In ihrer „Mafia-Orestie“ wird Klytämnestra zur Projektionsfläche für die Darstellung der Frau im Verbrechermilieu Neapels. Beide, Yourcenar und Parrella, nehmen ironische Aktualisierungen des klassischen Stoffs vor und machen die Figur zur Projektions- und Reflexionsfläche für aktuelle Anliegen, wie Emanzipation und Mafia-Problematik, zu der sich im heutigen Italien tragisch verlaufende Dramen mehren.
Das postkoloniale Theater nutzt die Subversion von Mythen und die Gewinnung von narrativer Kleinteiligkeit auf seine Weise. In ihrem Beitrag „Die tragischen Heldinnen und Helden des Dias Gomes. Eine Analyse der Dramen O Pagador de Promessas und O Santo Inquérito“ führt Julia Krumrei ein in das Werk von Dias Gomes, das seit 1937 entsteht. Gomes gehört einer Generation von Autoren des jüngeren brasilianischen Theaters an, die sich losmachen von Themen und Formen der ehemaligen Kolonialmacht und auf die Darstellung von zeitgenössischen Sensibilitäten und Mentalitäten zielen. O pagador de Promessas wird als eine „tragedy of the common man“ (Arthur Miller) und als modernes Märtyrer-Drama interpretiert.
In ihrem Beitrag „Ra xeka hai tsatyo thutsi – La isla de los perros (2003): kulturelle, sprachliche und soziale Anerkennung im zeitgenössischen mexikanischen Drama“ stellt Anna-Lena Glesinski die identitätsstiftende und identitätssichernde Funktion von Theatertexen des indigenen Theaters in Mexiko heraus. In der kulturellen Sphäre Mexikos, die von ‚Sprachpluralismus‘ geprägt ist, hat sich gegenüber dem dominierenden spanischsprachigen Theater eines in indigenen Sprachen etabliert, dem es zentral um die Suche der indigenen Bevölkerung nach Anerkennung geht. Das Stück Ra xeka hai tsatyo thutsi – La isla de los perros (2003) von Leonarda Contreras Cortés wird als Beispiel für ein Theaterschaffen vorgestellt, dem es um die eigene Sprache, aber auch um die Darstellung der eigenen Kultur und Weltsicht geht – Volkstheater und soziales Drama in einem.
Diese Suche nach einer eigenen Sprache kennzeichnet auch Stücke des europäischen Theaters, die sich gegen Denktabus und Wahrnehmungsblockagen richten. In seinem Beitrag „,Hay muchas maneras de estar muerto‘ – Metatheatralität, Intertextualität, memoria histórica und Universalität im Teatro Fronterizo am Beispiel von Sanchis Sinisterras ¡Ay, Carmela! (1986/87)“ interpretiert Florian Lützelberger den erfolgreichen Zweiakter ¡Ay, Carmela! als ein exemplarisches Drama des spanischen Theaters der Postmoderne, in dem auf markante Weise ein befreiender Umgang mit der Memoria eingeleitet wird, die im nachfranquistischen Spanien teils noch bis heute unter Denktabus fällt.
Technische Attraktionen, die seit dem 19. Jahrhundert mit dem Theater um Zuschauer konkurrieren, die Dioramen und Panoramen, der Film sowie später das Video, führten zu grundlegenden Infragestellungen, aber auch Bereicherungen des Theaters, zur medialen Ausdifferenzierung und zur Neuerfindung von Gattungen und Darstellungsformen. Gefilmtes Theater und der fiktionale Spielfilm zeigen plakativ, daß dramatische Handlungen spielerisch leicht das Medium wechseln können. Der Film ist bis heute vom Theater geprägt und wird ständig vom Theater herausgefordert, wie Marie Jacquier in ihrem Beitrag „Auto(r)fiktion intermedial: Jean-Luc Lagarces Juste la fin du monde (1990) und die filmische Adaption durch Xavier Dolan (2016)“ zeigt. Sie geht den Veränderungen nach, die die ursprünglich als Romangattung eingeführte autofiction bei ihrem Transfer ins Drama und in die Verfilmung solcher dramatischer Texte erfährt. Das Theater des 1995 verstorbenen Autors Jean-Luc Lagarce läßt sich in seiner Positionierung zwischen Autobiographie und Fiktion als dramatische Autorfiktion charakterisieren. In seinen Theaterstücken nutzt Lagarce immer wieder den Wechsel zwischen Fragmenten des Gedankenstroms der Hauptfigur und Dialogen mit weiteren Figuren. Die Verfilmung durch den Québecer Filmregisseur Xavier Dolan (J’AI TUÉ MA MÈRE 2009) bringt diese Dynamik kongenial ins Filmbild. Der Beitrag von Marie Jacquier geht u.a. der Frage nach, ob die Umakzentuierung im Drama von der ‚Handlung‘ zum ‚Erzählen‘ als Indienstnahme der Auto(r)fiktion in dramatischen Schreibweisen verstanden werden kann.
Das Theater als Kunst der Aufführung in praesentia tritt mit seinen apparativen Konkurrenten in Dialog und eignet sich deren szenische Darstellungsmöglichkeiten an: Überblendung, Schnitt, Über- und Untertitel und weitere Mittel verarbeitet es auf seine Weise zu dramatischen und inszenatorischen Neuerungen. Es dramatisiert Romane und Filme und entfaltet eine ausdifferenzierte Intermedialität. Große Wirkungen auf das Theater gehen bisweilen von technischen Erfindungen, wie dem Telefon, aus. Dieser Apparat veränderte nicht nur die Wirklichkeit, sondern auch die fiktionalen Welten. Es entstanden neue Theatergattungen, wie das „Telefondrama“, dem der Beitrag „,J’ai le papier mais pas de stylo‘ – Zur Aktualität der Inszenierung von Telefonanrufen auf der Theaterbühne“ gewidmet ist. Kirsten von Hagen zeigt, daß das Theater bis in die Gegenwart die je dominanten Kommunikationsmedien zur Anreicherung, Plausibilisierung sowie Intrigengestaltung von Theaterstücken nutzt. Das Telefon wird bald nach seiner Erfindung (1861) und seiner Präsentation auf der Pariser Weltausstellung 1878 zu einem multifunktionalen Ausstattungselement im französischen Theater: Telefondialoge erweitern die mit dem Bühnengeschehen verknüpften Räume erheblich. Das Telefon gestattet die Inszenierung von Kommunikation und eröffnet so neue Handlungsverläufe. Es ersetzt Teichoskopie und Botenbericht. Damit stößt es neue Formen der Inszenierung an, wie man sie vom Film als Split-Screen kennt. Seit dem 19. Jahrhundert werden die dramatischen Einsatzmöglichkeiten des Telefons erkundet. Es wird zum bevorzugten Medium von Lüge, Spiel und Maskerade und nimmt bisweilen die Rolle eines leibhaftigen Mitspielers ein.
Die gegenwärtige Lage des Theaters in Italien nimmt Sabine Heymann in ihrem Beitrag „Kassengift? Die prekäre Situation der italienischen Gegenwartsdramatik – Aspekte einer unendlichen Geschichte“ aus der Sicht des aufgeführten Repertoires in den Blick. Heymann stellt die Entwicklung des italienischen Gegenwartstheaters seit den 1980er Jahren vor und weist auf Besonderheiten der institutionellen Situation in Italien hin: Einer Riege altgedienter Autoren, die als Publikumsgaranten gelten – Carlo Goldoni, Luigi Pirandello, Eduardo de Filippo, Dario Fo und Franca Rame –, stehen zahlreiche zeitgenössische Autoren gegenüber, die in der Regel im aktuellen Theaterbetrieb kein Auskommen finden – selbst international renommierte italienische Gegenwartsautoren wie Stefano Massini (*1975). Der Mangel an Finanzierung verbannt italienische Gegenwartsdramatiker in die Marginalität und dazu, für Funk und Fernsehen zu arbeiten. Es bestehen wenige feste Theater, wie das Piccolo Teatro und die großen nationalen Bühnen, die häufig auf beliebte Schauspieler als Publikumsgaranten setzen. Daneben besteht das „teatro girovago“ als Tourneetheater fort. Im Rahmen dieses Tourneetheaters kommen neue Stücke zwar zur Aufführung, finden jedoch selten den Weg ins etablierte Repertoire.
In dem Beitrag „Komödie, Tragödie & Co im 21. Jahrhundert – fokale und transitorische Gattungen des Theaters in der Romania“ diskutiert Rolf Lohse anhand aktueller italienischer Theaterstücke die Frage nach der heutigen Relevanz traditioneller Gattungsbegriffe. Es zeigt sich, daß traditionelle Gattungseinteilungen bis heute relevant sind. Am Beispiel des gestreamten Videosketchs IL MONTATORE GELOSONE (2017) von Maccio Capotonda wird aufgezeigt, wie die Selbstreflexivität als zentrales metatheatralisches Moderniätssignal ohne Reibungsverluste in die rezentesten televisiven Gattungen transferiert werden kann.
Die Dramengeschichte wird von einer Geschichte der Dramentheorie begleitet, ergänzt und in Frage gestellt. Die Spannungsverhältnisse zwischen bestehenden Positionen und neuen Ansätzen hat beispielhaft Profitlich (1997) erläutert. Die Theorie des Dramas wird immer wieder Revisionen unterworfen, dabei dürfte der beständige Wandel Ausdruck einer bestehenden Vielstimmigkeit sein. Daß das vielpolige Spannungsfeld um das Theater bis auf den heutigen Tag unvermindert fortbesteht, kann kaum verwundern – insbesondere in Gesellschaften, die von hoher sozialer Dynamik geprägt sind und die dem Theater den Freiraum bieten, die eigenen Ausdrucksmöglichkeiten sowie seine gesellschaftliche Relevanz immer neu zu erkunden. Es lohnt sich daher, aktuelle Theatertendenzen zu dokumentieren und zu analysieren.
Literatur
Azama, Michel. De Godot à Zucco. Anthologie des auteurs dramatiques de langue française, 1950-2000. 1. Continuité et renouvellements. Paris: Éditions Théâtrales, 2004
Cao Kefei, Sabine Heymann und Christoph Lepschy. „Begrenzte Spielräume“. Zeitgenössisches Theater in China. Hg. v. Cao Kefei, Sabine Heymann und Christoph Lepschy. Berlin: Alexander Verlag, 2017. 11-17
Profitlich, Ulrich. „Geschichte der Komödie. Zu Problemen einer Gattungsgeschichte“. Zeitschrift für deutsche Philologie 116 (1997). 172-208.
Annika Mayer
Erzählungen sind seit jeher in Dramentexte eingelassen. Neu sind Stellenwert und Ausdehnung, die zeitgenössische Theaterautor_innen dem Erzählen einräumen. Einschließlich noch der späten Texte von Samuel Beckett und Marguerite Duras knüpfen Autoren wie Eugène Durif, Patrick Kermann, Bernard- Marie Koltès, Jean-Luc Lagarce, Philippe Minyana, Valère Novarina, Noelle Renaude, Marie Redonnet, Daniel Danis und Wajdi Mouawad an avantgardistische Theatertexte an, die die Dramatik nicht nur auf die anderen Künste und Medien hin öffnen, sondern auch die literarischen Gattungsgrenzen verflüssigen. Dramatische Handlung und dramatischer Dialog weichen mehrfachen und langen Erzählpassagen, werden von ihnen überlagert und unterwandert; unterschiedliche Erzählverfahren und Erzählanordnungen erweitern und erneuern die Dramaturgien. Es entstehen zeitgenössische Erzähldramaturgien, die der Einordnung in ein postdramatisches Paradigma insofern entgegenlaufen, als in ihnen der Sprechtext wieder das Zentralelement bildet, was mit einer neuen Text(q)ualität einhergeht.1 Es stellt sich die Frage, ob sich die narrative Prägung nicht sogar als ein ästhetisches Bestimmungsmerkmal der vielfältigen französischsprachigen Theatertexte zwischen 1980 und 2000 herausstellen lässt. Dazu werden hier übergreifende Formen, Funktionen und Bedeutungen des Erzählens aus zeitgenössischen Theatertexten herausgearbeitet und erstmals systematisiert.
1. Erzählen im Theatertext
Das Verhältnis zwischen Erzählen und Theater wird bis dato vor allem aufführungsbezogen untersucht. Die Forschung bleibt dabei nicht selten dem Handlungsplot als gemeinsames bzw. übertragbares Merkmal von Theater und Roman verhaftet. So verzeichnet Patrice Pavis anhand von aktuellen Bühnenwerken des Festival Avignon 2010 einen „retour de la narration“ und beschränkt sich dabei auf die strukturalistischen Erzähltextkategorien von „récit et discours“ (Geschichte und Erzählweise). (Pavis 2016, 235) Spezifische Ausformungen des zeitgenössischen (szenischen) Erzählens bleiben außer Acht oder gelten unter einer postdramatischen Perspektive der Erzählperformance. (Vgl. z.B. Hennaut 2016) Dafür anführen lassen sich: das „teatro narrazione“,2 mediengestützte Erzählanordnungen, (vgl. Finter 2014) aber auch narrative Bühnensettings mit Alltagsexpert_innen.3
Ein Blick in die französischsprachigen zeitgenössischen Theatertexte seit den 1980er Jahren macht jedoch deutlich, dass auch diese längst vom Erzählen geprägt und ästhetisch und dramaturgisch neu zu bestimmen sind. In Studien zum zeitgenössischen Theatertext wird bereits ein „théâtre-récit“ angekündigt.4 Zur Untersuchung dieses generischen Hybrides liegen intergenerische Forschungsansätze vor, die in avantgardistischen und zeitgenössischen Theatertexten (Pinget, Ionesco, Duras, Beckett, Koltès) Verfahren der „romanisation“ und „epicisation“ feststellen.5 Der narrative Modus wird dabei als Import aus dem Roman betrachtet, der seine Theaterspezifik erst durch die szenische Ausrichtung erhalte. (Vgl. Engelberts 2001, 13) Nicht nur wird so vom Roman aus auf Theatertexte geschaut, auch stellt sich die Frage, ob Forscher_innen mit konventionellen Gattungskategorien den zeitgenössischen Theatertexten gerecht werden.6 Letzteres erfordert einen Überblick über zeitgenössische Theatertexte, bei dem deren spezifische Formen und Funktionen des Erzählens herausgearbeitet werden. Dramaturgische Überlegungen zum Verhältnis zwischen Erzählen und Handlung bilden hierzu die Grundlage.
1.1 Erzählen als szenisches Handeln
In der klassischen Dramaturgie gelten Erzählungen als Ausnahmemomente.7 Für Prolog, Epilog und Botenbericht wird demnach eine angemessene Kurzweiligkeit gefordert. (Vgl. Hédelin 1971, 269) Ihre Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit untersteht der präsentischen Handlung auf der Bühne, liefern sie doch die nötigen Informationen (außerszenischen Geschehens) zum Verständnis des dargestellten Handlungsstranges. (Vgl. Hédelin 1971, 274) Spätestens mit den Dramaturgien der ersten (Artaud, Maeterlinck) sowie der zweiten Theateravantgarde (Beckett, Ionesco, Genet) werden Erzählpassagen nicht nur ausgebaut und mit neuen Funktionen versehen, sondern häufen sich und wachsen zu Erzählmonologen heran. Solche erzähldominierten Theatertexte brechen mit dem plotgestützten Drama insofern, als dass sie eingeschränkte oder anders geartete Handlungskonzepte erkunden. Die Befragung der Handlungsfähigkeit des Menschen begünstigt die Einlassung von Erzählpassagen und setzt sich bis in die Gegenwartsdramaturgie fort. Dass das dialogische Handeln, welches im konventionellen Drama das Geschehen kausallogisch vorantreibt, zugunsten eines von ihr losgelösten und für sich stehenden Redens unterlaufen wird, ist bereits von Michel Azama konstatiert worden: „Nous sommes passés d’un théâtre de l’action, du ‚faire‘ à un théâtre du ‚dire‘.“ (Azama 2004, 19) Wenn also feststellbar ist, dass es Theatertexte gibt, in denen Erzählungen nicht nur vorkommen, sondern in denen Erzählen als die zentrale Form der Auseinandersetzung mit dem Selbst und der Welt hervorsticht, ließe sich Erzählen als ein eigenständiges szenisches Handeln begreifen, das die zeitgenössischen Dramaturgien maßgeblich bestimmt. Die These von der Verschiebung eines Handlungstheaters zu einem Sprechtheater lässt sich weiter zuspitzen: Es findet eine Verschiebung von einem handlungsgestützten Theater zu einem Theater des Erzählens statt. Dieses Erzählen untersteht nicht mehr der Handlung, sondern wird autonom und damit zu einer zeitgenössischen Form szenischen Handelns.
1.2 Erzähldramaturgie als Anordnung von Erzähltext
In der Dramenforschung liegen bereits Studien zu Erzähltendenzen im Theatertext vor: zu Formen des Monologes, des Chores und der Adressierung. (Vgl. Heulot-Petit 2011 sowie Fix u. Despierres 2010) Auch erste zeitliche Aspekte, wie Rückblenden oder Spiele mit grammatischen Tempi, wurden bereits eruiert.8 Werden spezifische Erzählverfahren als konstituierende Elemente zeitgenössischer Dramaturgien noch verkannt, hängt dies an einem verengten Dramaturgieverständnis.
Wird der Dramaturgiebegriff enggeführt auf die Kunst der Handlungsorganisation über die inneren Strukturprinzipien „intrigue“, Aktanten und Konflikte, hält er avantgardistischen und zeitgenössischen Theatertexten, in denen sich die Konzeptionen von Handlung, Dialog und Figur lösen, nicht mehr stand.9 Die Dualität des Begriffes – einmal bezogen auf den Text als Aufgabenbereich des_r Dramatikers_in, einmal auf die Aufführung als dem des_r Dramaturgen_in – weist darauf hin,10 dass in Theatertexten bereits ein Aufführungspotenzial angelegt ist. Es ist die Dramaturgie, die die Textvorlage mit den Bedingungen einer möglichen Aufführung verbindet. (Vgl. Rykner 2010, 43) Zum einen verweist die Dramaturgie eines Theatertextes implizit oder explizit, positiv oder negativ auf ein jeweils geltendes Bühnendispositiv; zum anderen enthält sie den Entwurf vorstellbarer Möglichkeiten der Ausbreitung von Text und nonverbalen Zeichen in Zeit und Raum einer Aufführung und der Gestaltung der Publikumsverhältnisse. In diesem Sinne lässt sich zeitgenössische Dramaturgie verstehen als die Kunst der Komposition eines Textes, der für einen Theaterkontext geschrieben ist und einen ‚szenischen Horizont‘ aufweist. Dabei enthalten die Weisen des stimmlichen, gestischen und medialen szenischen Arrangements Offenheiten, Spielräume, Leerstellen und Brüche zwischen Text und Bühne. (Rykner 2010, 44) Wenn im Folgenden also von Anordnungen gesprochen wird, so sind damit keine starren, abgeschlossenen Systeme gemeint, sondern zeitliche, räumliche, sprachliche und nichtsprachliche, mediale und szenische Verhältnisse.11
Aus einem solchen Dramaturgieverständnis heraus lassen sich fünf Ebenen und Dimensionen unterteilen, anhand derer erzähldramaturgische Aspekte systematisiert werden können, wohlwissend, dass diese ineinandergreifen. Auf der Ebene des Sprechtextes (2.) lassen sich erstens die Erzählformen innerhalb einer Erzählsequenz (2.1.) und zweitens die Dimensionen des Erzählaktes (Mitteilung, Ausrichtung) (2.2.) untersuchen. Auf der gesamtdramaturgischen Ebene (3.) lässt sich unterteilen in die Komposition von Erzählsequenzen (3.1.) und die szenische Erzählanordnung (3.2.). Hinzu kommt eine fünfte Untersuchungskategorie: die Reflexion des Erzählens auf der Metaebene (4.).
2. Erzählverfahren – Ebene: Sprechtext
Im zeitgenössischen Theatertext weicht die Erzählung eines einheitlichen, linear und kausal dargestellten Gesamtgeschehens vielfachen kleinen Erzählungen oder -variationen, Erzählweisen, Stimmen und Perspektiven.12 Damit klingt die These vom Ende der Meistererzählungen an. An die Stelle der großen Erzählungen der Moderne und ihren Errungenschaften wie dialektisches Denken, Sinnhermeneutik, Fortschritt und Emanzipation des Subjektes erhalten vielfache, kleine Erzählungen Einzug. (Vgl. Lyotard 1979, 7) An die Stelle einer vereinheitlichenden Erzählung treten voneinander gelöste Erzählelemente – bisweilen in kleinste sprachliche Bedeutungseinheiten zerlegt. (Vgl. Lyotard 1979, 8, 98) Dies entspricht den zeitgenössischen Theatertexten, in denen nicht mehr die Makroebene des Plots im Vordergrund steht, sondern Mikroerzählungen, d.h. verschiedenartige, perspektivierte, kleine Erzählsequenzen von lebensweltlicher Erfahrung, Situationen des Verhaltens und Wahrnehmens. Dadurch erhält der Erzählakt und die Art und Weise des Erzählens eine neue Gewichtung.
2.1 Erzählformen innerhalb der Erzählsequenz
Nicht nur werden lineare und kausale Strukturen auf der Makroebene der zeitgenössischen Theatertexte obsolet, dies trifft auch auf die Mikroebene der textlichen Organisation innerhalb der Erzählsequenz zu. Zeitliche Verschachte-lungen, Wiederholungen und Achronologien sowie lückenhafte Erzählweisen, die sich bereits in den Theatertexten von Beckett und Duras finden, werden insbesondere in solchen zeitgenössischen Theatertexten fortgeführt, die sich mit Erinnerungsrekonstruktionen auseinandersetzen, z.B. bei Patrick Kermann und Jean-Luc Lagarce. Durch anekdotisches Erzählen, unlogische Satzfolgen und Widersprüchlichkeiten wird das Erzählen unzuverlässig. In der Akkumulation von Erzählinformation und Formen des Aufzählens, Reihens, Abschweifens, Ausuferns und Wucherns gehen Theaterautor_innen wie Valère Novarina deutlich weiter als die Avantgardist_innen, was sich mitunter niederschlägt in unerschöpflichen Listen von Namen, Orten oder Dingen und überdimensionierten Textlängen. Auch in der Arbeit an kleinsten sprachlichen Einheiten reizt Novarina die Grenzen aus, indem er das Standardfranzösisch durch alternative Endungen oder Wortstämme aus Dialekten und Fremdsprachen überformt und dabei eine philosophische und humorvolle Dimension erreicht. Insgesamt dominieren Tempi der Vergangenheit und rückwärtsgewandte, rekapitulierende Erzählweisen, Stimmwechsel sowie direkte und indirekte Redewiedergabe innerhalb einer Erzählsequenz. Es zeichnet sich ein dezentriertes, verzweigtes Erzählen ab, mit Anzeichen einer logozentrismuskritischen Reflexion.
2.2 Dimensionen des Erzählhandelns im Theatertext
Wenn sich im zeitgenössischen Theatertext das Erzählen verselbständigt, lösen sich konventionelle Muster des Erzählaktes. Drei Analysekategorien erscheinen als hilfreich: die Ausrichtung der Rede (Monolog, Dialog), die Erzählinstanz (dramatisches Ich vs. Vermittlerfigur) und der Mitteilungsfokus (Geschehensdarstellung, Selbstdarstellung). Dabei können typischerweise monologische Erzählelemente, wie z.B. der innere Monolog, dialogisch sowie umgekehrt typischerweise dialogische Erzählelemente, wie z.B. der Botenbericht, monologisch unterwandert sein. Eine deutliche Tendenz zur Monologisierung zeigt sich demnach nicht nur in rein monologischen Theatertexten, sondern auch innerhalb ansonsten dialogisch aufgebauter Texte. Auch das Phänomen des Quasimonologs, der einwegigen Rede in einer Dialogsituation erscheint häufiger in zeitgenössischen Theatertexten. Nicht notwendigerweise ist dies an eine_n stumme_n oder verweigernde_n Dialogpartner_in geknüpft,13 sondern besteht in einem Erzählmodus, der keinen Raum für Antworten vorsieht und so einen Dialog zu einem Pseudodialog macht, wie in Combat de nègres et de chiens. (Koltès 1989) In Quai Ouest baut Koltès auch zwei Soliloge innerhalb eines dialoggestützten Theatertextes ein, die er explizit nicht als Figurenrede für die Bühne vorsieht, sondern als eigenständige Textpassagen für die Lektüre. (Koltès 1985, 105) Monologische Erzähldramaturgien setzen indes auf dialogische Versatzstücke. So markiert das „tu“ im Selbstgespräch des monologischen Textes La nuit juste avant les forêts von Bernard-Marie Koltès eine Adressierung, wenn auch an eine offen bleibende, vage Instanz, die den Fluchtpunkt einer urbanen Suchbewegung des monologischen Ichs bildet und zum Medium der Selbstkonstruktion wird. (Koltès 1988) Eine völlig andere, mehrstimmige und verschachtelte monologische Erzähldramaturgie bildet Valère Novarinas Discours aux animaux, der direkte wie indirekte Redewiedergaben miteinschließt. (Novarina 1987) Die titelgebende Adressierung an die Tiere ersetzt den zwischenmenschlichen Dialog und überlagert sich zugleich mit einer Ansprache an das Publikum (als mögliche Tiere). In beiden Fällen wird aus der Figur jeweils eine reine Erzählinstanz. Bereits Samuel Beckett benennt die Redeinstanz in seinem Erzählmonolog Solo konsequenterweise „récitant“. (Beckett 1982, 29)
Zeitgenössische Erzähldramaturgien zeigen häufig eine vermittlungsgestützte Rede auf: Eine Vermittlungsinstanz leitet durch den Text, moderiert und kommentiert wie der Talkshow Moderator in Philippe Minyanas Inventaire oder der vielseitige Fremdenführer in Patrick Kermanns De quelques choses vues la nuit. (Minyana 2012; Kermann 1992)
Folgende Tabelle bietet eine Übersicht über die Dimensionen des Erzählhandelns im zeitgenössischen Theatertext.
Beim dialogischen Erzählmodus liegt der Fokus des Erzählhandelns tendenziell auf der Geschehenspräsentation. Dem einzelnen Bericht kommt dabei die Bedeutung einer Zeug_innenschaft zu. Mikroerzählungen ermöglichen multiperspektivische und ergänzende Rekapitulationen von vergangenem Geschehen, wie die der Widergänger in Daniel Danis, Cendre de cailloux (2006), die auf ein Gewaltgeschehen zurückblicken. Der einseitige und der monologische Modus tendieren zur Selbstpräsentation der erzählenden Instanz, bei ersterem wird die Situierung, Selbstkonstitution, Rechtferigung fokussiert, bei zweiterem eineVeräußerung von Gedanken, falls gerichtet, dann an eine abwesende oder abstrakte Instanz.
In Patrick Kermanns The Great Disaster wie auch in Marie Redonnets Mobie Diq überlagert sich der figurenbezogene mit dem gesellschaftlichen Einschnitt. Beide Autor_innen greifen auf das Motiv des Schiffsunglückes zurück und schaffen eine sinnbildliche Dramaturgie nach dem Untergang, die für das Scheitern individueller Lebensentwürfe sowie kollektiver Fortschrittsvisionen steht.
3. Erzählanordnungen – Ebene: Dramaturgie
Zeitgenössische Dramaturgien verbinden unterschiedliche, wechselseitig verschachtelte Textschichten. Dennoch lassen sich spezifische Verhältnisse zwischen den einzelnen Erzählsequenzen ausmachen.
3.1 Verhältnisse zwischen Erzählsequenzen
Es lässt sich eine deutliche Tendenz zur Mehrstimmigkeit und Enthierarchisierung von Redeanteilen feststellen. Entweder die Erzählsequenzen entsprechen sich und bilden Erzählvarianten aus, ergänzen oder aber widersprechen sich und machen die Unvereinbarkeit der Perspektiven deutlich. In jedem der Fälle wird die Komplexität der Verhältnisse und die Herausforderung ihrer Erzählbarkeit aufgezeigt. Jean-Luc Lagarce lässt in J’étais dans la maison et j’attendais que la pluie vienne beispielsweise drei Frauen die Geschichte des abwesenden, bzw. im Krankenbett liegenden, zurückgekehrten Sohnes via rückwärtsgwandte Erzählungen rekonstruieren. (Lagarce 2007) Dabei entsteht eine Multiperspektivität, die auch Widersprüche und Leerstellen heraushebt.
Liegt eine zentrale Vermittlungsinstanz vor, ist daran zumeist eine anordnende Funktion geknüpft, die einen Rhythmus, eine Reihe, einen zyklischen (wiederkehrenden) Verlauf erkennen lässt. In diesem Fall lässt sich von einer „rhapsodischen“ Instanz sprechen, die die Redeanteile und nicht selten heterogenes Textmaterial organisiert.14 Doch selbst in Theatertexten ohne Vermittlungsinstanz sind Verhältnisse zwischen narrativen (und nichtnarrativen) Sequenzen bestimmbar. Dies sind vor allem nebenordnende, serielle, alternierende und überkreuzte Weisen der Anordnung, so ist die Dramaturgie in Noëlle Renaudes Blanche, Aurore, Céleste durch eine monologisch erzählte Reihung partnerschaftlicher Begegnungen bestimmt. (Renaude 1994) In Eugène Durifs Conversations sur la montagne – typografisch kaum zu unterscheiden von einem Erzähltext – erzählt ein Ich-Erzähler von den Begegnungen und Gesprächen mit „Stotter“. In diese Rahmenerzählung eingelassen sind alternierende Redeabschnitte, die sich wie zwei Monologe kreuzen. (Durif 1989) Es kommt auch zum Durchspielen von vorwärtsgerichteten Geschehensvarian-ten, wie im Falle der mal ermutigenden, mal dystopischen Lebensentwürfe in Mobie Diq oder der Visionen der futuristischen Radiostimme in Carthage, encore von Lagarce. (Redonnet 1982, Lagarce 2000, 53) In einigen Theatertexten, insbesondere bei Koltès und Danis finden sich auch Erzählsequenzen außerhalb des Sprechtextes mit rahmender oder atmosphärischer Funktion.
Die Rede in zeitgenössischen Gegenwartsdramaturgien ist vor allem nach formalästhetischen Prinzipien verfasst und gleicht einer Komposition von Motiven, Stimmen und Klangereignissen. So erhalten manche Theatertexte Partiturcharakter.15 Autor_innen wie Patrick Kermann unterstreichen mit dem Untertitel „Oratorio“, dass eine musikalische Anordnung von Stimmen vorliegt, die von einer übergreifenden Erzählinstanz zusammengehalten wird. (Kermann 1999)
3.2 Szenische Erzählanordnungen
Auch wenn in zeitgenössischen Theatertexten die Bühnenanweisungen karg ausfallen oder ausgelassen werden, liegen Anordnungen mit deutlich szenischem Potenzial vor. Es lassen sich räumliche, mediale, objektgestützte oder situationsgestützte Erzählanordnungen festmachen, die häufig kombiniert auftreten. Beispiele für eine räumliche Bühnenanordnung bilden Patrick Kermanns La mastication des morts und Noëlle Renaudes Les Cendres et Lampions, die beide die Gräber auf einem Friedhof als Anordnung nutzen, um die Stimmen der Toten Lebensgeschichten erzählen zu lassen. (Kermann 1999, Renaude 1994) Bei Kermann kreuzen sich die Erzählungen und fördern ein dunkles Dorfgeheimnis zu Tage. Mediale Erzählanordnungen finden sich bereits in avantgardistischen Theatertexten. Referenzcharakter hat hier Samuel Becketts La dernière bande, in dem ein Tonband zum Einsatz kommt, welches zeitliche Vor- und Rücksprünge und Überlagerungen einer Stimme in verschiedenen Altersabschnitten ermöglicht. (Beckett 1959) Margerite Duras nutzt in Savannah Bay eine Schallplatte als Klangteppich für Erinnerungsfragmente. (Duras 1983) In Wajdi Mouawads Incendies bilden Spuren, wie ein Testament oder Fotos, Ausgangspunkte für die genealogische Reise eines Zwillingsgeschwisterpaares in die Vergangenheit ihrer Mutter. (Mouawad 2009) Als eine objektgestützte Erzählanordnung lässt sich Philippe Minyanas Dramaturgie von Inventaires einordnen, die wie eine Talkshow aufgebaut ist: präsentiert und angetrieben von einem Moderator erzählen drei Frauen ausgehend von einem Gegenstand (Kleid, Lampenschirm, Schüssel) aus ihrem Leben. (Minyana 2012) Eine andere auftretende Form der Erzählanordnung ist die der szenisch entworfenen Grenzsituation, z.B. der Panne, des Unfalls oder eines Unglücks, die zur Lagebestimmung und situativen Orientierung eine Rekapitulation davorliegender Geschehnisse in Gang setzt, wie die Autopanne in den Dünen in Marie Redonnets Seaside. (Redonnet 1992) Zeitgenössische Erzähldramaturgien setzen häufig nach der Katastrophe an, das heißt nach einem Einschnitt, der bestimmend für ein individuelles oder ein kollektives Schicksal ist. In Patrick Kermanns The Great Disaster wie auch in Marie Redonnets Mobie Diq überlagert sich der figurenbezogene mit dem gesellschaftlichen Einschnitt. Beide Autor_innen greifen auf das Motiv des Schiffsunglückes zurück und schaffen eine sinnbildliche Dramaturgie nach dem Untergang, die für das Scheitern individueller Lebensentwürfe sowie kollektiver Fortschrittsvisionen steht.
4. Reflexion von Erzählen – Ebene: die Metaebene
In zeitgenössischen Theatertexten wird Erzählen implizit oder explizit reflektiert. Es lassen sich drei Reflexionsfiguren feststellen. Erstens Formen des Zitierens, Aushöhlens und Überformens von konventionellen narrativen Geschehensdarstellungen im Theater wie Prolog, Botenbericht, Epilog; zweitens das generelle, explizite kritische Befragen oder Kommentieren von kohärentem Erzählen und drittens Spiele mit der Ich- oder der Lebenserzählung.
4.1 Ausgehöhlter Botenbericht und metanarrative Kommentierung
Patrick Kermanns De quelques choses vues la nuit deutet bereits im Titel das Berichten von gesehenem Geschehen an. Unter den Dialogen und Monologen, die durch eine Vermittlerstimme aneinandergereiht werden, findet sich auch ein fragmentarischer, repetitiver Monolog eines ‚Zeugen der Katastrophe‘.
[...] pas vu pas vu / oh que si oh que si / a vu a vu / bien vu / tout / et même le reste / tout / a vu / balivernes balivernes ont dit / mais moi oh que si si / tout a vu tout / pas balivernes moi [...] là-bas a vu moi là-bas. (Kermann 2012, 29-31)
Der Autor lässt die Stimme auf Augenzeugenschaft insistieren, das Zeugnis, d.h. das „Was“ des Berichtes, bleibt eine Leerstelle. Kermann zitiert den Botenbericht als Möglichkeit, szenisch undarstellbares Geschehen durch das Mittel der Erzählung darzustellen und höhlt ihn zugleich aus. Die Möglichkeit des Berichtens angesichts der Katastrophen des 20. Jahrhunderts wird literarisch in Frage gestellt. Das Erzählen generell wird explizit im Sprechtext der Vermittlerstimme angezweifelt:
venez je vous conterai des choses qui vous divertiront / de votre pesanteur / oh ce n’est pas une histoire / le temps des fables est hélas révolu / nos écrivains n’en ont plus le goût / comment en écrire après la tragédie qui c’est déroulée ici. (Kermann 2012, 64)
In ironischem Unterton wird der Unterhaltungsaspekt des Geschichtenerzählens besprochen sowie auf das Ende der großen Erzählungen verwiesen. Es handelt sich um einen ironischen metanarrativen Kommentar auch deshalb, weil Kermanns Theatertext von Erzählpassagen durchdrungen ist. Der Autor verweigert die eine geschlossene Erzählung und legt stattdessen eine in sich vielfältige und komplexe Erzähldramaturgie vor.
4.2 Spiele mit der Lebenserzählung
Im Zuge des zeitgenössischen Erzähltheaters erhalten Formen der Lebenserzählung Einzug in die Theatertexte. In der französischen Forschung hat sich der Begriff des „récit de vie“ durchgesetzt: „effectué généralement à la première personne, se concentre sur la trajectoire d’une existence, contée par un seul individu avec un certain recul.“ (Pavis 2014, 223) Diese Definition impliziert Linearität, Kohärenz und einen Überblick ermöglichenden Ich- Erzählerstandpunkt.16 Ähnlich wird in der hermeneutischen Philosophie die Lebenserzählung als subjektbildend und orientierungsstiftend gedacht. So legt Hannah Arendt einen aristotelischen Ansatz vor. Sie denkt den Menschen als handelndes Wesen und versteht die „Lebensgeschichte“ als die Geschichte, die am Ende eines Lebens von einer Person erzählt werden kann. (Arendt 2016, 116-117) Diese setzt sich aus den Ereignissen des (als geradlinig verstandenen) Lebens einer Person zusammen, welches sich aufspannt zwischen „Erscheinen“ (Geburt) und „Verschwinden“ (Tod). Es sind das Handeln und Sprechen einer Person, die in Kohärenz gebracht, am (Lebens)Ende diese Geschichte bilden. (Arendt 2016, 117) Dieses Konzept der „Lebensgeschichte“ erweist sich als Gegenschablone für die achronologischen und brüchigen Formen von Lebenserzählungen im zeitgenössischen Theatertext. Ein Beispiel bilden die disparaten, inkohärenten Lebenserzählungen von vier Figuren in L’Espace furieux. Valère Novarina bricht darin nicht nur mit einer erkenntnisbringenden Erzählstruktur, sondern lässt seine Figuren mögliche Erkenntnisse ironisieren: „Voici bilan. Voici mes luttes de vie.“ (Novarina 2006, 133) Hinzu kommt, dass diese vier Lebenserzählungen deutliche Parallelen aufweisen. Erzählthemen und Erzählweisen überlagern sich, schreiben sich von einer zur nächsten Figur fort und erscheinen gleichförmig und einstimmig. Das Erzählen trägt hier weder zur Bildung eines Subjektes bei, noch endet es bei dessen Fragmentierung.17 Novarina führt die Überindividualität und Austauschbarkeit von Figuren vor, die sich doppelgängerisch ergänzen. Dennoch spannt sich – über das Mittel der allwissenden Draufsicht auf das eigene Leben – ein Lebensbogen von Geburt bis Lebensende auf. Angefüllt wird dieser von aufgereihten Lebensstationen des Wohnens:
[...] j’ai habité en département D, intérieur de la ville de V, près du croisement du boulevard B; puis j’ai séjournée huit ans dans la tour aux trios temps: futur, passé, présent [...] puis j’ai marché de N à N’, puis en sens inverse de U à U ; [...]. (Novarina 2006, 20-21)
An anderer Stelle folgen solche der Beschäftigungsverhältnisse: „terrassier chez Jean Urbain, videur chez Brute, sauveteur dans des clubs de villégiature, pisteur a Occidorama, puis la suite chez Bicentenaire, chez Sécotine, puis [...].“ (Novarina 2006, 30-31) Das Aufzählen unbestimmter und erfundener Orte persifliert den Begriff eines Lebenslaufes und führt eine subjektkonstituierende Lebenserzählung ad absurdum. Dafür rückt das Spielen mit formalen Bezeichnungen und die rhythmische Abfolge in den Vordergrund.
4.3 Rahmende, metareflexive Ich-Erzählung
Bei Wajdi Mouawad führt eine metareflexive Ich-Erzählung in den Theatertext Littoral ein:
C’est en désespoir de cause, monsieur le juge, que j’ai couru jusqu’ici pour venir vous voir. On m’a dit que vous étiez la bonne personne pour ce genre de choses, alors je n’ai pas hésité et j’ai couru sans savoir quoi dire ni comment répondre car comment répondre à la catastrophe par dessus le marché puisque hier encore je n’étais rien et du jour au lendemain, par la terreur des cironstances, je suis là, devant vous et vous me dites : racontez-moi un peu qui vous êtes comme si j’étais une histoire. Mais rien, je ne suis rien, un quidam ou alors je ne sais pas ou je n’ai jamais su! Maintenant il faut ce qu’il faut [...] et qu’importe la quantité puisque un peu ou beaucoup ça va être long alors pour commencer par une vérité, mettons que je m’appelle Wilfried et je suis très pressé [...] je peux dire aussi que cette histoire, si histoire il y a, a commencé il y a trois jours de façon remarquable. (Mouawad 1999, 6)
Der an einen Richter adressierte Quasimonolog bildet zugleich die Rahmenerzählung für den Theatertext. Mouawad lässt Wilfried die Aufforderung zur Ich-Erzählung problematisieren und die narrative Identität negieren. Er legt ihm in den Mund, mit einer ersten Wahrheit zu beginnen – seinem Vornamen, der zum Anker und zum Startpunkt für einen Rückblick auf die spezielle Situation wird, in der er den Tod seines Vaters erfahren hat. Bevor jedoch die rekapitulierende Erzählung einsetzt, lässt Mouawad die Figur in Frage stellen, ob das, was folgt, überhaupt den Status einer Geschichte hat. Die Katastrophe, das Erfahren vom Tod des Vaters, bildet hier den Ausgangspunkt einer genealogischen Recherche.