Für HC
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© 2022 Martyra Peng
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783756252640
Als Nadine sechs Jahre alt war, begann sie Tagebuch zu schreiben. Ihre Großmutter hatte ihr schon vor der Einschulung das Lesen und Schreiben beigebracht. Sie las Zeitungen oder Produktverpackungen, alles wurde durchgelesen und kommentiert. Auch die Zeitungen, die sich Oma jede Woche kaufte. Yellow Press.
Überall stand das Gleiche und Nadine fragte sich, warum das so ist. Sie suchte in allen Zeitungen nach weiteren Gemeinsamkeiten. Schon damals war sie der Medienkonzentration in Europa auf der Spur: „Der Bauer Verlag ist die Lösung!“, rief sie euphorisch und klatschte in die Hände. Was genau ein Verlag war, wusste sie nicht, aber da überall die gleiche Bezeichnung zu finden war, waren auch die Inhalte ähnlich. Die Oma wunderte sich nur. Auch über die anderen Talente des Mädchens. Sie merkte sich eine Melodie und klimperte sie auf einem kleinen Plastik-Xylophon nach, weil der Vater kein Klavier im Haus haben wollte. Überhaupt hasste er Musiker und Künstler, auch Intellektuelle.
Als er noch auf dem Bau arbeitete, freute er sich diebisch, wenn er morgens um sieben Uhr übermäßigen Lärm verursachte, um das faule und nichtsnutzige Studentenpack, wie er sagte, aus dem Bett zu holen. Deshalb gab es bei Nadine zu Hause keine Bücher. Weil das was für Schwächlinge sei, sagte der Vater. Musikunterricht war natürlich auch ausgeschlossen, so sehr Nadine auch darum bettelte, ein Instrument lernen zu dürfen. Bei der Oma durchforstete sie auch alle Frauenzeitschriften nach Geschichten und Kurzromanen. Sie merkte sich ihre wiederkehrenden Muster und schrieb eine eigene Geschichte mit ähnlicher Dramaturgie. „Du solltest beim Geheimdienst arbeiten“, meinte Oma.
Sobald sie etwas Neues lernte, war sie gelangweilt und suchte nach einer neuen Herausforderung. In der Schule war Kunst das einzige Fach, das sie gerne mochte. Später im Gymnasium kamen Politik und Theater hinzu. So nahm alles seinen Anfang. Dazwischen stand allerdings ihre Verrücktheit und schon früh wurde sie verhaltensauffällig, wenn sie andere Mädchen verkloppte, ins Gebüsch oder wahlweise in die Mülltonne warf und den Nachbarsjungen in den Arm biss. Viele Eltern beschwerten sich und es hagelte Backpfeifen. Die Mutter meinte, dass das Kind von einem Psychologen untersucht werden sollte, aber der Vater wollte dafür kein Geld ausgeben.
Nadine war ein neugieriges Mädchen und war das, was man wohl frühreif nennt. Sie zog ab sechs Jahren die kleinen Jungen ins Gebüsch oder unter den geparkten Mercedes von Opa, um zu knutschen. Bei jeder Gelegenheit und den Kindergeburtstagen wollte Nadine im Dunklen Verstecken spielen. Um zu knutschen. Auch später bei Geburtstagspartys von Klassenkameraden, bestand sie darauf, das Licht auszudrehen und Blues zu tanzen.
Nadine nahm sich, was und wen sie wollte und schaffte es, ihre kleinen Verehrer mit ihrem überbordenden Temperament für sich einzunehmen. Schnell war klar, dass sie eigentlich nichts mit anderen Mädchen anfangen konnte. Besonders wenn sie sehr devot waren. Das änderte sich auch später nicht. Freundschaften mit Mädchen schloss sie keine.
Als Nadine etwa zehn Jahre alt war und mit den pubertierenden Nachbarstöchtern spielte, erpresste sie Monika gegen eine Zigarette blankzuziehen, die sie vorher von ihrem Vater gestohlen hatte. Dass Zigaretten eine wichtige Währung in Gefängnissen und Psychiatrien ist, erfuhr sie später.
Auch die zwei Jahre ältere Nachbarin Martina mit Knubbelnase und Riesentitten musste dran glauben. Immer wenn der Vater auf Reisen war, lud sie Martina in die häusliche Badewanne ein und massierte ihre großen Brüste. So bereitwillig war Martina aber nur, wenn Nadine sie mit einer Coca-Cola lockte, die es bei ihnen zu Hause nicht gab.
Ihr Vater ließ Nadine nur aus dem Haus, wenn er wusste, dass sie in Begleitung hässlicher Mädchen war. Er erhoffte sich dadurch, ähnlich einer Firewall, die Jungs auf Distanz zu halten. In der Praxis erwies sich höchstens für Martina der Vorteil, dass Jungs überhaupt mit ihr sprachen, die Nadine für sie zuvor klar gemacht hatte.
Am Ende der Pubertät war nur Nadine, die Jüngste dieses nachbarschaftlichen Triumvirats, keine Jungfrau mehr und beschloss, nur noch aus Spaß mit Jungs zusammen zu sein und keine Liebesbeziehung einzugehen. „Willst du mit mir gehen?“, empfand sie immer als Einladung zu einem sexuellen Abenteuer.
Als Nadine siebzehn wurde, verließ sie ihr Elternhaus und begann eine Lehre in einer kommunistischen Druckerei, die von einem deutsch-kurdischen Paar geleitet wurde. Dort lernte sie, Flugblätter, linke Zeitungen und Bücher zu drucken. Sie wollte sicherstellen, dass sie selber drucken konnte, wenn der politische Wind sich drehte und die Zensur kritische Stimmen verbannt.
Nadines Wurzeln lagen in Ostdeutschland und Polen, weil ihre Familie Flüchtlinge waren und ihre Oma Hanni, eine Bäckerin und Konditorin mit sogenannter Bildungsferne, im Geheimen gegen die Nazis kämpfte und hungernde Zwangsarbeiter im Ruhrgebiet unter Androhung der Todesstrafe unterstützte, während Intellektuelle den Nazismus unterstützten.
Ihr Urgroßvater kam kriegsverletzt aus dem Ersten Weltkrieg und wurde von den Nazis im Euthanasieprogramm ermordet, zwei Großväter starben an den Folgen des Zweiten Weltkriegs und hinterließen ihre traumatisierten Großmütter, die von sowjetischen Soldaten vergewaltigt wurden. Deshalb studierte sie später Deutsche Geschichte, Internationale Beziehungen, Psychologie, Politikwissenschaft, Ökonomie.
Sie war die erste Frau, der erste Mensch in ihrer Familie über alle Generationen hinweg, die erfolgreich studierte und durch reaktionäre Kräfte im deutschen Wissenschaftsbetrieb wegzensiert wurde, die sie schließlich zwangen, in der Prostitution zu überleben und ihren Kampf um Aufklärung als internationale Aktivistin fortzusetzen. Dazu aber später mehr.
An der Universität konnte sie Kommilitonen mit großen Gesten erklären, wie ein vaginaler Orgasmus funktioniert und dass man Haare auf den Brüsten besser herauszupfen solle. Sie erklärte den Einstiegswinkel des Penis beim Genitalverkehr, der so gewählt sein müsse, dass er auf den G-Punkt drücke. Die meisten versagten, weil sie keine Ahnung von Physik hatten.
Vor Ekel wandte sie sich von einer Freundin ab, die ihr ihre haarumkränzten Brustwarzen zeigte. Später war Nadine eine Art Gottesanbeterin, die Jungs aus ihrem Bett warf, wenn sie feststellte, dass ihre Zehennägel zu lang waren. Auch weibliche Piepsstimmen konnte Nadine nicht ertragen. Gepiepse und Gekreische im Bundestag überstand sie nur in sicherer Entfernung, weshalb sie normalerweise auch einen Bogen um Selbsthilfegruppen machte, was für sie alles dasselbe war.
Nadine hatte dann doch irgendwann einmal ihr erstes Mal und ab da sehr viele Male, sie zählte 100 Liebhaber in fünf Jahren und schloss die Liste, als sie ihren späteren Ehemann kennenlernte, der genauso umtriebig war. Gemeinsam blickten sie später auf eine abenteuerliche Zeit zurück und ihr Mann schilderte wiederholt, wie er bis zur Zimmerdecke spritzen konnte.
Bei Nadine lag der Orgasmusrekord bei sechzehn in acht Stunden. Diesen hatte sie mit einem Kunststoffingenieur aufgestellt, weshalb sie bei diesem ein Jahr verbrachte. Als er sie heiraten wollte, überfiel sie eine Depression und sie landete in der Klapsmühle. Eigentlich war er Kunststoffverkäufer, also Vertriebsingenieur mit Hauptschulabschluss und er beschimpfte sie als Bürgermeisterin des Irrenhauses, weil sie an Heiligabend nicht mit ihm Tennis spielen wollte.
Auch ihre Nachfolgerin trennte sich vom Ingenieur, als sie von ihm schwanger war und bei einem anderen zeugungsunfähigen Mann mit höheren Einkommen und Doktortitel unterkroch. Dies hat der Ingenieur nie verwunden. Vor allem, weil sie rothaarig war und im Bett rote Stilettos trug. Er durfte sein Kind nie wiedersehen und im Alter hatten sich beide so entfremdet, dass sie sich nur ein einziges Mal trafen und nebeneinander schwiegen.
Der Nachfolger des Ingenieurs war wiederum ein Malermeister, der beim Ficken immer die Raufaser von der Wand kratzte und von dem sie sich trennte, weil er nicht Auto fahren konnte. Er bremste immer auf der Überholspur und fuhr 100 Stundenkilometer im ersten Gang. Trennungsgrund. Aber die Schwester war ganz nett. Die hatte über Jahrzehnte als Straßennutte in der gleichen Kurve angeschafft und ihre Stammfreier besuchten sie zu Hause und finanzierten ihre Rente. Was gibt’s schöneres im Alter, als nicht allein zu sein?!
Nadine war im Ruhrgebiet aufgewachsen. In einer Stadt, wo die Hochöfen glühten, die Arbeiter regelmäßig in Duisburg Rheinhausen streikten und auf die Barrikaden gingen, als der Strukturwandel der Montanindustrie in den Achtzigerjahren begann und worüber Nadine später ihre Diplomarbeit schrieb. In den Siebzigerjahren, den Jahren ihrer Kindheit, lag der Ruß noch auf den Straßen wie in Bitterfeld nach der Wende und verfärbte den Himmel über Rhein und Ruhr in ein dunkles Grau. Bitterfeld hatte eine noch entsetzlichere Geschichte als das Ruhrgebiet, denn dort wurde in den 1930er-Jahren Zyklon B durch die I.G. Farben produziert, dem Vernichtungskampfstoff, der in den Lagern von Auschwitz zum Einsatz kam und das Leben von 1,1 Millionen Menschen auslöschte und heute Dark Tourism stattfindet. Hier geht’s weniger ums Gedenken und Erinnern als um Meditation und Geisterbahn.
Bereits als Kleinkind entwickelte Nadine eine schwere Bronchitis wie ihre Mutter, die sich zu einem Asthma ausweitete. Das lebensrettende Asthma-Spray lag seitdem in der Handtasche neben dem Lippenstift.
Nadine wuchs die ersten Jahre in einem kleinbürgerlichen Milieu in Neudorf auf, gleich neben der späteren Universität, die zuvor ein Krankenhaus war. Der Kreißsaal, in dem sie geboren wurde, war der Vorlesungsraum ihres Politikstudiums. Der Ort der Geburt wurde der Ort ihres beruflichen Schicksals.
Im Alter von sieben Jahren musste sie ihre geliebte Umgebung verlassen, denn der Vater hatte in Hochfeld gebaut, einem Arbeiterstadtteil mit einem Migrantenanteil von damals 70 Prozent. Der Migrantenanteil an Grundschulen liegt heute bei 100 Prozent. Ihr Gymnasium bot Absolventen der Hauptschule die Möglichkeit, ihr Abitur zu machen, weshalb sie viele Mitschüler mit Migrationshintergrund hatte. Während andere Nachbarskinder und Mitschüler den Kontakt zu den sogenannten Ausländern mieden, war Nadine immer auf der Suche nach neuen Erfahrungen. Sie wurde deshalb von vielen türkischen Freunden zu Hochzeiten eingeladen, weil sie eine weiße Nomadin war.
In dem baufälligen Haus in Hochfeld, das ihr Vater gekauft hatte, wohnten nur Türken. Als dort wieder ein Kind geboren wurde, bekam Nadine den Auftrag, der Familie ein Geschenk zur Geburt des Kindes zu bringen. Die Mutter drückte ihr dafür Geld in die Hand, um das Geschenk zu kaufen und der Familie zu bringen. Nadine nahm dazu ein Nachbarskind mit, das sich schüchtern im Hintergrund hielt, weil es Angst vor den Ausländern hatte. Die türkische Familie freute sich sehr und lud die beiden zu einem Tee ein. Deutsche kamen normalerweise nicht unangemeldet zu Besuch, schon gar nicht der Vermieter beziehungsweise das Kind vom Vermieter. Im Rückblick war die Begegnung mit den türkischen Kindern ein Schlüsselerlebnis und sollte die Grundlage für alles andere werden.
Kurz nach dem Umzug in den neuen Stadtteil gingen Nadine und ihre Schwester in den gegenüberliegenden Park zum Spielen. Während sie vertieft im Sand buddelten, kam eine Gruppe Jugendlicher und der Anführer zog ein Klappmesser und drückte Nadine zu Boden. Sie konnte ihrer vierjährigen Schwester gerade noch zurufen, schnell nach Hause zu laufen.
Nadine sah aus wie ein Junge mit ihrem kurz geschnittenen Haar und der lausbubenhaften Art, und der Anführer hatte sie deshalb wohl verwechselt. Als Nadine unter ihm lag und er mit seinem Messer vor ihrer Nase herumfuchtelte, schrie sie um Hilfe und schaffte es mit Widerstand und Tritten, sich frei zu machen und wegzurennen. Das Problem in ihrem Viertel waren keine Ausländer, sondern deutsche Assis, die unfähig waren, in einer Gemeinschaft zu leben. Das war ihr schon früh klar.
Assis bedeuteten Gewalt, prügelnde und schreiende Eltern, Armut, Schulden, Alkohol. In diesem Kreislauf bewegte sich ihre Nachbarschaft. Kurz bevor der Vater ihrer Spielgefährten an einer kaputten Leber starb, besuchte sie ihn ein letztes Mal im Krankenhaus und überreichte ihm im Auftrag ihres Vaters eine Flasche roten Krimsekt. Schließlich sollte er noch was Gutes trinken, bevor er starb. Noch am Tag der Beerdigung wurde im engsten Familienkreis die Versicherungssumme diskutiert, die die Witwe erhielt. Die Witwe war sehr erleichtert, denn durch das Geld konnte sie nun ein Leben frei von Schulden führen.
Die drei Waisen waren nicht frei, weil der Mutter regelmäßig die Hand ausrutschte und Nadine dabei Lachanfälle bekam, die sie nicht unterdrücken konnte, das war eine Art der Angstbewältigung.
Sie lachte auch ihre eigene Mutter aus, wenn diese zuschlug, weil ihr wieder die Nerven durchgingen. Die gingen schon durch, wenn Nadine keine Hausarbeiten, sondern Hausaufgaben erledigte. Es gab in dieser Familie keinen Raum des Rückzugs, wo man ungestört lesen und lernen konnte, weshalb sie das in die Nacht verschob und bis zum frühen Morgen heimlich mit der Taschenlampe las oder Bilder malte.
In ihrer Nachbarschaft ging niemand auf das Gymnasium, weshalb sie gemobbt wurde. Auch wollten viele nicht mit ihr spielen, weil sie die Tochter des Vermieters war. Der Vermieter, der die Schulden bei den Eltern eintrieb.
Und sie wollte nicht mit ihrer jüngeren Schwester spielen. Sie konnte nichts mit ihr anfangen, sie war einfach ganz anders als sie, weshalb von Anfang an der Haussegen zwischen ihnen schiefhing. Die jüngere Schwester war der Liebling der Familie, weil sie charakterlich – naiv, devot, aggressiv - nach der Mutter kam und vom Aussehen nach dem Vater. Blond und stämmig. Sie war ein Wunschkind und Nadine ein Unfall. Nadine hatte mit niemanden in der Familie etwas gemeinsam und war der Feind im eigenen Haus. Die Lehrer mussten kämpfen, damit sie das Gymnasium besuchen konnte, mussten den Vater privat aufsuchen und auf ihn einreden wie auf einen alten Gaul. Der Vater, der Bücher verachtete und Bildzeitung las, hatte gehofft, dass die Älteste das Familienunternehmen übernahm. Sie sollte mit sechzehn Jahren eine Lehre im Handwerk machen, um anschließend einen Handwerksmeister zu heiraten und eine Familie zu gründen und die Handwerkerdynastie ins 21. Jahrhundert zu führen. Das Gymnasium zog einen Strich durch seine Rechnung und die anderen Kinder waren für die Unternehmensführung völlig ungeeignet. Der spätgeborene Sohn seiner zweiten Ehefrau wurde Drogendealer und zog mit Romance Scam Männern das Geld aus der Tasche, indem er sich in Chats als Frau ausgab. Das Wunschkind hingegen hatte die Arbeit nicht erfunden, brach ihre Ausbildungen ab, die Nadine ihr vermittelt hatte und heiratete einen Kriminellen, mit dem sie drei verhunzte Kinder zeugte, die alle schon Allergien, ADHS, Depressionen, Diabetes und Übergewicht entwickelt hatten.
Es war eine Mischung aus Verwahrlosung und Tyrannei, der sich Nadine unterworfen sah. Ihr Temperament und vorlaute freche Art wurde jedes Mal mit einem Schlag auf den Mund beantwortet. Dabei platzte die Lippe auf, wenn der schwere, mit Brillanten besetzte Cartier-Ring der Mutter sie mit voller Wucht traf. Der Vater war kein Schläger, aber er hätte als sadistischer Kapo im KZ durchgehen können. Er liebte Geld, Franz Josef Strauß, Tiere und Kinder quälen und sich über seine Brut lustig zu machen. Seine Familie und Kinder waren nur Kostgänger, die ihm die Haare vom Kopf fraßen. Kurz vor dem Mauerbau waren er und seine Angehörigen aus der DDR in den Westen abgehauen, hatten Haus und Hof stehen lassen. Er hatte eine autoritäre Kindheit in einer Kleinstadt in Sachsen und musste als Kind bereits schwer körperlich arbeiten. Auch sein Vater war Handwerksmeister und führte sein Regime mit strenger Hand.
Alle mussten kuschen, die Kinder mussten auf Zehenspitzen laufen und immer leise sein, um den Alten nicht zu stören; die Halbgeschwister gingen später bei der Rückübertragung von DDR-Immobilien leer aus, weil sie nicht die leiblichen Kinder waren. Umso mehr hassten sie ihren Bruder, der sich das Geburtshaus, das nun unter Denkmalschutz steht, unter den Nagel riss und leider zu einem Schleuderpreis weiterverkaufte, ohne die Geschwister zu beteiligen.
In den Siebzigern und Achtzigern nahm Nadines Vater sie immer zu seinen zahlreichen Reisen im In- und Ausland mit. Manchmal besuchten sie die Zurückgebliebenen, die arme Verwandtschaft in Sachsen, und der Vater fuhr mit dem Porsche vor, um den Verwandten zu zeigen, wie weit er es im Westen gebracht hatte. Er runzelte die Stirn, nachdem man dort seinen Mercedes Stern vom Auto brach, und bemerkte, dass es auch Chaoten in der DDR gab. Auf die Idee zu kommen, dass die Insignien des Kapitals in der DDR irgendwie deplatziert wirkten, kam er natürlich nicht. Er wollte unbedingt mit dem wenigen Wissen und symbolischen Kapital, das er hatte, ganz hoch hinaus und nicht in einer kleinen Klitsche wie sein Vater enden. Sein Vater warnte ihn und meinte oft, dass wer hoch hinausfliege, schnell ganz unten landen kann. Denn der Opa war vorsichtig und hatte auch nur die Nazi-Zeit überlebt, weil er sich als Dissident im Sumpf versteckt hatte, weshalb sein ideologisierter Sohn ihn offenbar als Schwächling betrachtete, weil er sich vor dem Krieg gedrückt hatte. Eigentlich war der Vater auf Nadine neidisch, weil er als Kind kein Gymnasium besuchen und somit auch kein Architekt werden konnte, wie er Nadine heimlich gestand. Deshalb wurde Nadine ständig gehänselt, runtergeputzt, verarscht, gedemütigt, damit sie sich ja nicht einbilden konnte, was Besseres zu sein.
Dennoch glaubte Nadine etwas Besonderes zu sein. Je isolierter sie innerhalb und außerhalb der Familie wurde, desto mehr glaubte sie an eine höhere Macht, die sie aus diesem geistigen Slum herausholen würde. Sie wurde gezwungen, Tennis-Vereinen und Schwimmclubs der Upper Class beizutreten und beobachtete die Menschen, mit denen sie so gar nichts gemein hatte. Manchmal glaubte sie, dass Außerirdische sie auf einem Tennisplatz im Ruhrgebiet abgesetzt hatten, sozusagen als Experiment, um die Menschen zu erforschen und zu sehen, ob es sich lohnt, den Planeten Erde zu besuchen. Soweit die Außerirdischen auf ihren Erdling Nadine hörten, lohnte sich der Einsatz nicht wirklich. Als sie entschieden, Nadine auf den Planeten H1 zurückzuholen, hatte diese bereits beschlossen, die Erde zu verlassen und unternahm mehrere Suizidversuche. Ein erster Aufenthalt in der Psychiatrie mit achtzehn rettete ihr Leben und sie konnte nun in neue Universen vorstoßen.
Der Umweg zu höherer Bildung war mühsam und für sie als Systemsprenger mit vielen Umleitungen versehen. Nur durch die Unterstützung dritter Personen, Lehrer und Professoren, emanzipierte sich Nadine von ihrer Herkunftsfamilie und entschied, nach ihrem Universitätsstudium nach Berlin zu gehen. Als Politikwissenschaftlerin wusste sie von dem bevorstehenden Regierungsumzug und sie wollte nach dem Studium 1995 schnell zu dem Ort eilen, wo bald die Musik spielen würde. Im Gravitationszentrum der politischen Macht.
Nadine war nicht nur die erste Frau, sie war die erste Person in einer traditionsreichen Handwerkerfamilie überhaupt, die es – wenn auch nach langen Zögern des Vaters – auf ein Gymnasium geschafft hatte und ein Universitätsstudium abschloss. Nun wollte sie Professorin werden. Dies war der einzige Ausweg, um im Kapitalismus in einer kleinen Nische zu überleben, wo man in Ruhe forschen und lehren konnte. Allerdings stellte sich der Wissenschaftsbetrieb als Sackgasse heraus und sie verließ im Streit die Universität und schloss ihre Doktorarbeit niemals ab. Es war genau das eingetreten, wovor sich Nadine immer am meisten gefürchtet hatte. Das man sie durch Zensur zum Schweigen zwang. Gatekeeping bezeichnet die Begrenzung der Informationsmenge durch Auswahl von als kommunikationswürdig erachteten Themen, meint Wiki. Oder wie es Diether Dehm formuliert: „Weder Ochs noch Esel hält in seinem Lauf der Neoliberalismus auf“. Nadine war ein Naturtalent in der akademischen Forschung und Lehre, zumindest wurde ihr das von verschiedenen Professoren gesagt, weshalb sie sich auf dieses Abenteuer einließ. Aber die entwürdigende Behandlung als Linke und Frau, die sie im deutschen Hochschulwesen erfuhr, war niederschmetternd. Einige Jahre schrieb sie an einer Doktorarbeit über das Branding von Nationen und verbrachte auch einen Forschungsaufenthalt in Chicago, aber ihre Arbeit wurde von der deutschen Prüfungskommission nicht zugelassen, da sie neoliberale Politik kritisierte, die das Branding von Nationalstaaten vorantrieb.
Es gab keine wissenschaftliche Freiheit, das wurde schnell klar. Schon während des Studiums warf ein Professor ihr im Beisein der Studierenden nach einem Referat vor, die freiheitlich-demokratische Werteordnung der Bundesrepublik Deutschland zu unterlaufen und empfahl, ihren deutschen Pass abzugeben. Kurz: Er behandelte sie wie eine RAF-Terroristin. Dabei hatte sie nur durchgerechnet, dass die Entwicklungshilfe der Bundesregierung für Asien ein gutes Geschäft ist. Was war daran falsch? Sie reichte diese Arbeit dann bei einem anderen Professor und Experten internationaler Politik ein, der sie auch ermutigte zu promovieren. Da dies nachfolgend noch weitere Professoren vorschlugen, glaubte sie einen Moment lang, dass sie für höhere Weihen geeignet war und ließ sich auf dieses Abenteuer ein. Ein Abenteuer, das in Chicago endete.
Juli 1998. In Chicago erwartete Nadine eine schwüle Hitze, der sie mit einem klimatisierten Taxi entkam. Ihr Ex-Liebhaber G. erwartete sie in seinem Apartment am Lake Shore Drive. Sie schlief dort ein bis zwei Nächte, bevor sie in ihr Zimmer ins International House of Chicago am Campus zog.
Abends ging sie mit G. chinesisch essen. Nadine sah das erste Mal Glückskekse. Auf dem winzigen Zettel stand: „Das Glück, das im Auge des Denkenden aufgeht, ist das Glück der Menschheit“.
G. war der erste und letzte Professor, mit dem sie eine Beziehung hatte. Natürlich hatte er nie erwähnt, dass er verheiratet ist. Das war ein Schock und Grund, sich sofort zu trennen. Nadine wollte Symbiose Tag und Nacht und nicht Mätresse sein.
Sie nannte G. immer ihr Michelin-Männchen. Wegen seiner Leibesfülle. Durch seine Einladung nach Chicago und den Empfehlungen ihrer Doktorväter gelang es ihr, die gläsernen Decken zu berühren. Der erste Schritt war getan. Nur durchbrechen musste sie sie noch.
Nadine lernte G. bei einem Nietzsche-Kongress kennen. Sie beobachtete ihn heimlich, wie er nervös an seinen Fingernägeln kaute, bevor er sich plötzlich erhob und einen Vortrag frei und ohne Zettel hielt. Anders als deutsche Wissenschaftler, die alles von Papier ablasen.
Sein Vortag war so beeindruckend, dass sie ihn ansprach und sie sich abends auf ein Glas Wein verabredeten.
Die Hitze in Chicago erdrückte sie. Nadine verabschiedete sich von G und zog in ihr Zimmer, das nun ihr Zuhause für die nächsten Monate werden sollte. Keine Klimaanlage, dafür ein klappriger Ventilator, der die warme, feuchte Luft durchpflügte. Das Zimmer sah aus wie eine Gefängniszelle auf vier Quadratmetern an einer Eliteuniversität.
Von dieser Studierkammer aus unternahm sie nun ihre Ausflüge in die Bibliotheken und Buchhandlungen, diskutierte mit Professoren ihre Forschungsergebnisse und lernte andere Doktoranden wie Neil Brenner kennen, die sie nachhaltig beeinflussen sollten. Aber es lief nicht so reibungslos wie gedacht.
Zunächst wurde ihre Kreditkarte durch ein Fehler des Verkäufers gesperrt, als sie auf einem Kunstmarkt Fotografien kaufte. In den USA ohne Kreditkarte dazustehen ist mörderisch und sie musste ihren Vater per R-Gespräch bitten, ihr aus der Klemme zu helfen.
Außerdem stieg Nadine an einem Nachmittag in Downtown in den falschen Zug ein und landete nicht am Campus, sondern im Ghetto von Chicago, wo ein Aufenthalt für Weiße Lebensgefahr bedeuten kann. Sie irrte umher, bevor sie endlich ein schwarzer Taxifahrer einlud und sicher zurückbrachte.
Der Fahrer, der sein Taxi sofort von innen verriegelte, war außer sich und schimpfte, weil sie sich als Weiße in Gefahr begab. Bei Nadine hatten sich sofort die Bilder eingeprägt, von der Southside, wie nach einem Bürgerkrieg. Mit ausgemergelten schwarzen Gestalten und hoffnungslosen Blicken, die sich in ihr Gehirn frästen.
Diese absolute Armut hatte Nadine so noch nie in einem Industriestaat gesehen. Und die USA sind der am meisten entwickelte Industriestaat der Welt. Außer die Slums in Kalkutta Jahre später, wo sie sich anlässlich der Welt-AIDS-Konferenz in Indien befand und zusammen mit 10.000 Sexarbeitern im größten Rotlichtbezirk Südostasiens Sonagachi demonstrierte.
Die Slums von Chicago: Wohnbaracken, Löcher statt Fenster, Autowracks, Menschen, aus deren Augen Resignation und Hoffnungslosigkeit sprachen, machten klar, dass die USA immer noch ein rassistisches Regime war. Ihr amerikanischer Traum war geplatzt, sie durchlitt eine schwere Depression.
Eine Woche blieb sie im Bett, starrte auf den ächzenden Ventilator. Tausende Studenten mussten in diesem Zimmer Qualen durchlitten haben, bevor sie sich nach erfolgreichem Abschluss in alle Winde verstreuten. Andere blieben zurück. Die Uni hatte die höchste Suizidrate in den USA.
Sie wollte herausfinden, warum das so ist. Nadine sprach darüber mit anderen Studenten, auch über die Slums von Chicago. Sie freundete sich mit einer schwarzen Studentin an, Ami. Ihre Eltern waren Lehrer in Chicago, sie bekam ein Stipendium wie Nadine. Sie fand heraus, dass die Ursache die sozialräumliche Lage war, wo Arm und Reich aufeinander clashten. Wo Weiße Angst vor Krankheiten hatten, die angeblich von Schwarzen übertragen wurden. Wo die soziale Isolation unter Elitestudenten so hoch war, dass sie niemals die Jazz Clubs in Downtown betraten, weil sie Angst vor einer Begegnung mit den Schwarzen hatten.
Mit den osteuropäischen Studenten machte sie regelmäßig Party. Nadine besuchte die Jazz Clubs in Downtown, fickte mit einem afroamerikanischen Anwalt für Bürgerrechte, hörte den Soundtrack von Trainspotting rauf und runter. Die Eltern dieser Studenten, alle Akademiker, hatten ein Leben lang gespart, um ihren Kindern das Studium in den USA zu ermöglichen.
Sie beneidete sie um ihre Eltern. Ihr Vater war immer der Meinung, dass man sich alles selbst erarbeiten müsse, weshalb eine Finanzspritze von seiner Seite in die Ausbildung der Tochter nicht infrage kam. Unterstützung und Fürsorge hatte Nadine nie erhalten, weshalb die Sperre der Kreditkarte ein Drama für sie war, weil sie ihren Vater um etwas bitten musste, der freiwillig nie etwas gab, außer es war zu seinem eigenen Nutzen.
Als sie die Möglichkeit bekam, ein Jahr in NYC ein Praktikum bei den UN zu machen, weil ein Bundestagsabgeordneter Nadine förderte, sagte ihr Vater, dass er nicht ihren Urlaub finanzieren wolle. Er drohte, den Unterhalt zu streichen, den sie Jahre zuvor einklagen musste.
Dabei sollten die USA die Zuflucht aus Deutschland sein, ein Land, das sie ihr Leben lang als rückständig erlebte und wo sie Professoren traf, die zum Judentum konvertiert waren und sechs Kinder zeugten oder Professoren mit kryptischen antisemitischen Andeutungen, die nur Gelehrte verstanden, sie malträtierten. „Für jede Million ein Kind“, wie ein Historiker mit sechs Kindern anmerkte. Aber die Zeit in den Vereinigten Staaten zeigte ihr, dass es woanders noch schlimmer ist und so beschloss sie heimzukehren und als Prostituierte zu arbeiten. Denn nach Abstechern in einer Wirtschaftsprüfungskanzlei, einer Kommunikationsagentur und im Bundespresseamt der Bundesregierung hatte sie auch hier nur einen Haufen sexistischer Arschlöcher und devoter Systemknechte und Opportunisten in Erinnerung. So wurde sie nebenberuflich Arschleckerin, weil sie hauptberuflich dazu ungeeignet war.
Ihr berufliches Ziel war eigentlich eine internationale Karriere als Wissenschaftlerin oder bei den Vereinten Nationen. Ihren Großmüttern und ihrer Mutter hatte sie schon im Alter von siebzehn Jahren in radikalfeministischer Manier erklärt, dass ihr Frauenschicksal niemals für sie infrage käme.
Kein Eigenheim mit Kiesauffahrt oder Versorgerehe, die Beine auf Kommando breitmachen und wöchentlich um ein knappes Haushaltsgeld betteln. Wenn der Herr dann mal großzügig war und gute Laune hatte, ließ er vielleicht etwas Taschengeld springen, um sich ein hübsches Kleid zu kaufen, um dem Herrn zu gefallen. Aber Mann ließ nur etwas springen, wenn die Frau sexuell verfügbar war. Manche Frauen waren dazu bereit, sich von ihren unsensiblen Männern bis ins hohe Alter in den Arsch zu ficken, um nicht in der Altersarmut zu verelenden.
Keine Mutterschaft, das ist der Tod von wissenschaftlicher Erkenntnis und Karriere. Nadine hatte die Entwicklungen vieler Frauen ihrer Generation beobachtet. Alles endete in der Sackgasse, in Scheidungen und in alleinerziehenden und neurotischen Müttern, die verzweifelt versuchten, Unterhaltsansprüche gegen ihre Ex-Männer durchzusetzen. Die Allerwenigsten zahlten und machten sich aus dem Staub. Da war eine verantwortungslose Weicheier-Generation herangewachsen, die Verantwortung nicht kannte, sondern nur radikalen Egoismus und wahrscheinlich die Grüne Partei oder AFD wählte.