Roman
Aus dem Französischen
von Christian Ruzicska
Titel des französischen Originals: Les Garçons de l’été
© 2017 P.O.L Éditeur, Paris
Erste Auflage
© 2022 by Secession Verlag für Literatur, Zürich
Alle Rechte vorbehalten
Übersetzung: Christian Ruzicska
Lektorat: Vincent Först, Barbara Wahlster
Korrektorat: Peter Natter
www.secession-verlag.com
Gestaltung, Typographie, Satz und Litho:
Eva Mutter, Barcelona
Druck und buchbinderische Verarbeitung:
Friedrich Pustet KG, Regensburg
Papier Innenteil: 90 g/m2 Werkdruck holzfrei gelblichweiß, 1,5-faches Volumen
Papier Überzug: Schabert f-color metallic micro 310 kristall
Papier Vor- und Nachsatz: Surbalin glatt
Gesetzt aus Cormorant Garmand und Gill Sans
Printed in Germany
ISBN 978-3-907336-17-5
eISBN 978-3-907336-18-2
I SEE THE BOYS OF SUMMER
I see the boys of summer in their ruin
Lay the gold tithings barren,
Setting no store by harvest, freeze the soils;
There in their heat the winter floods
Of frozen loves they fetch their girls,
And drown the cargoed apples in their tides.
These boys of light are curdlers in their folly,
Sour the boiling honey;
The jacks of frost the finger in the hives;
There in the sun the frigid threads
Of doubt and dark they feed their nerves;
The signal moon is zero in their voids. (…)
Dylan Thomas
THADÉE
MYLÈNE
THADÉE
MYLÈNE
THADÉE
MYLÈNE
JÉRÔME
THADÉE
JÉRÔME
ZACHÉE
THADÉE
ZACHÉE
THADÉE
CINDY
THADÉE
CINDY
THADÉE
CINDY
THADÉE
CINDY
THADÉE
CINDY
YSÉ
ENDNOTEN
Ich habe die Morgenröte des Sommers umarmt.
Besser, ich habe mich mit ihr vermählt, war eins mit ihr, war eins mit dem blaurosa Himmel, dem Licht, das noch zart war, aber heißes Wetter versprach, ich war eins mit dem Seegang, der Gischt, dem Wasser, das um mein Brett zischte.
Ich war in La Gravière, mit Abstand mein Lieblingsspot in Les Landes. Der September, gerade erst begonnen, hatte sämtliche Sommerurlauber von den Stränden gespült, hatte im Line-up nur Einheimische zurückgelassen, Einheimische wie mich. Und an diesem Morgen waren selbst die im Bett geblieben: Im Wasser waren wir zu sechst, sechs, die die Flut genießen wollten – und diese sechs, ich kannte sie alle.
Ich war gegen fünf Uhr am Strand angekommen, gemeinsam mit Swan. Der Seegang war sehr harsch, und wir hatten uns von allen Seiten Abreibungen eingefangen, von Wellen, die richtig seltsam waren, beinahe unberechenbar. Wir mussten zunächst ’ne ganze Menge Wipe-Outs einstecken. Und dann wurd’s wundersamerweise clean, die Wellen begannen in Serien reinzurauschen, aufgetürmt, mächtig, extrem lang landeinwärts ziehend, wahre Startrampen. Es war für alle was dabei, und mir hatte es genauso Freude gemacht, über die Welle dahinzufliegen, wie den anderen beim Gelingen ihrer Aerials zuzusehen. An diesem Tag in La Gravière schwang der Kosmos mit uns im Gleichklang und wir alle waren von Gnade berührt.
Schließlich hatte mich das Weißwasser erwischt und mir einen so heftigen Schlag versetzt, dass ich mich entschied, eine Pause einzulegen. Ich setzte mich auf den Sand und wartete, dass auch Swan aus dem Wasser kommen würde. Der Landwind trug den Duft der nahen Pinien heran, es wurde Tag, das Salz trocknete bereits auf meinen Schultern, meine Erregung ebbte ab, ließ mich aber von einer rätselhaften und reinen Freude durchflutet zurück.
Ich habe die Morgenröte des Sommers umarmt, und ich glaubte, dieses Gefühl, dieser Einklang zwischen mir und den Elementen, diese Harmonie zwischen meinem Körper und meinem Geist, sei mein Leben. Ich glaubte, dieses außergewöhnliche Gefühl von La Gravière würde sich wieder und wieder einstellen, Seite an Seite mit sämtlichen Variationen, die aus dem Surfen das Surfen machen, sprich, eine sich stets wandelnde Faszination – der Sommer endete, aber ich glaubte, er würde endlos sein.
Mir waren drei Tage Glück vergönnt. Drei Tage zwischen zwei Telefonaten, zwei Anrufen, die von einer tropischen Insel kamen, auf die zu reisen mir niemals in den Sinn gekommen wäre.
Inseln machen mir Angst. Vor allem die tropischen.
Dieser zweite Anruf und der erschrockene Ton, den ich in der Stimme meines jüngeren Sohnes wahrnahm, genügten, um mich mit dem erstbesten Flieger dorthin eilen zu lassen.
»Mi, ich bin’s, Zach …«
Aber vor jenem Anruf mitten in der Nacht, vor jener Panik in Zachées Stimme, hatte es drei Tage zuvor den von Thadée gegeben – glücklich und erregt:
»Mi, ich bin’s: Weißt du was? Ich komme zurück!«
Sie haben mich immer Mi genannt, alle beide. Alle drei sogar, Ysé auch. Mi und nicht Maman, Mi für Mylène – ein Vorname, den ich nicht mag, warum also nicht »Mi«?
Er kam zurück, mein Erstgeborener. Sechs Monate früher als gedacht, er hatte sein Sabbatjahr für beendet erklärt, seine zwölf Monate Sea, Sun and Surf auf La Réunion. Ich war erstaunt, ja sicher, war es doch seine Idee gewesen und war doch er gegen unseren heftigen Widerspruch losgezogen, gegen unsere Drohung, ihm auch nicht einen Cent geben zu wollen, solange diese Marotte andauern sollte. Aber gut, er kam zurück: das Glück überwog jegliche Verwunderung.
Mit wenigen Sprüngen bin ich die Treppe hoch in die erste Etage, das Telefon gegen mein Herz gepresst. Ich klopfte nicht mal an Ysés Tür: Ich bin rein in ihr Zimmer und rief aus:
»Thadée kommt zurück! Er wird in zehn Tagen hier sein! Stell dir nur vor!«
Sich kaum von dem Papier lösend, das sie völlig versunken mal die Fein-, mal die Pinselspitze nutzend mit japanischen Filzstiften bemalte, schenkte mir meine zehnjährige Tochter ein gekünsteltes Lächeln und begann leise vor sich hin zu summen.
»Na hör mal, ist das alles, was dir dazu einfällt? Und ich dachte, ich verkünde hier eine Riesenneuigkeit … Freust du dich denn gar nicht?«
»Doch. Ist klasse. Sag mal, findest du pudriges Orange besser oder normales?«
Sie hielt mir ein zartes, abstraktes Mosaik unter die Nase, das türkisfarbene Striche, rosa Spiralen und graue Flecken aneinanderfügte. Zeichnungen einer Psychopathin, wenn es nach ihren Brüdern ging, die das schweigsame Auftragen von Farbe, mit dem Ysé Block um Block ihre Canson-Blätter füllte, stets einstimmig verspottet haben:
»Zeichne doch mal etwas, das man auch erkennt! Keine Ahnung was, Gesichter, Tiere, Landschaften, was weiß ich!«
»Du liebst Mangas: warum machst du keine?«
Man muss es Ysé lassen, niemand bringt sie so leicht aus der Fassung. Für gewöhnlich schweigsam, hat sie stets eine Antwort parat, wenn es die Ehre ihrer Kunst zu verteidigen gilt.
»Mangas möchte ich lesen, aber nicht zeichnen, dazu habe ich keine Lust. Das überlasse ich den Japanern!«
»Aber willst du nicht mal was anderes ausprobieren? Du zeichnest immer dasselbe, irgendwelche Dingsda, die eng aneinandergedrückt sind und voller Farbe.«
»Ich zeichne überhaupt keine Dingsda, ich zeichne Prinzessinnen, Schiffe, Katzen … also lass mich in Ruh!«
Thadée und Zachée, die beiden necken sie gern, aber im Grunde verstehen sich die drei recht gut, und ich dachte tatsächlich, Ysé würde Freudensprünge machen, als ich ihr die Rückkehr ihres Bruders verkündete:
»Und, Zachée, kommt der auch zurück?«
Weil Zachée auch hingeflogen ist. Er war los, um sich Thadée auf La Réunion anzuschließen – nur für zwei Wochen, aber immerhin –, und dort selbst ein wenig zu surfen. Zu den Festtagen am Jahresende sollte er wieder bei uns in Biarritz sein.
»Ja, beide kommen zurück. Thadée konnte noch im gleichen Flieger einen Platz ergattern. Na gut, dass Zach zurückkommt, war klar, das wusstest du, aber Thadée! Mensch, ist doch klasse, oder?«
Sie sah mich vorwurfsvoll an und hielt ihre unheimliche Zeichnung deutlich in die Luft, während sie mit näselnder Stimme, die sie nur Erwachsenen gegenüber annimmt, die Silben dehnte:
»Antwortest du mir bitte? Findest du nun pudriges Orange besser oder normales?«
Wenn sie an meiner Freude keinen Anteil nehmen wollte, machte ich besser kehrt, verließ ich besser das Zimmer, das sie weiß und nackt haben wollte, beinahe spartanisch: keinen Teppich auf dem Boden, keine Bilder an den Wänden, unergründlich und glatt – unergründlich und glatt wie sie selbst, meine Tochter, die ich so gut verstehe und so wenig liebe, falls es sich nicht genau umgekehrt verhält.
Nein, ich gehe zu hart mit mir ins Gericht, denn auf gewisse Weise liebe ich Ysé mehr als ihre Brüder. Bei ihnen zittre ich, bebe ich, befinde ich mich im Zustand der Vergötterung, mit solch einer Verehrung aber erweist man Kindern keinen Dienst. Bei Ysé setze ich den Fuß wieder auf die Erde, habe ich die Gefühle, wie sie zum Los einer normalen Mutterschaft gehören, sprich: Zärtlichkeit und Verzweiflung. Aber, dass man sich nicht täusche: Wenn es sein müsste, würde ich für Yse sterben. Kurz, sie ähnelt mir zu sehr, als dass sie in mir die leidenschaftliche Inbrunst erwecken könnte, die ihre Brüder mir ins Blut jagen und von der ich wünsche, sie würde sie eines Tages erleben.
Meine Söhne retten mich vor dem Banalen. Sie sind es, die aus mir eher die Ausnahme machen als die graue Maus, die ich bis zu Thadées Geburt vor zwanzig Jahren war.
Damit wir uns recht verstehen, ich bin einigermaßen hübsch und nicht ganz dumm. Ein noch junges Ding, trug ich meinen kleinen Sieg davon, und es fiel mir nicht besonders schwer, diesem armen Jérôme zu gefallen, der bis heute nicht begriffen hat, dass ich schon bei unserer ersten Begegnung an der pharmazeutischen Fakultät ein Auge auf ihn geworfen hatte. Zudem löste ich kaum Herzklopfen aus und war nie die Königin der Partynächte. Und ja, an Partynächten fehlte es Jérôme und mir in unserer Studienzeit wahrlich nicht. Aber gut, die Königin der Partynächte war stets eine andere: schöner, klar, aber auch selbstsicherer, strahlender, schlicht einzigartiger. Man nahm mich kaum wahr und ich beeindruckte niemanden.
Das war’s, glaube ich, was Jérôme gefiel. Er hatte sich bereits an so mancher Schönheit des Jahrgangs die Zähne ausgebissen, so auch an einer blonden und wiehernden Mähre namens Maud. Ohnmächtige Zuschauerin, die ich war, sah ich zu, wie eifrig bemüht und ungeschickt Jérôme ihr den Hof machte. Dann verfolgte ich die Höhen und Tiefen ihrer stürmischen Idylle, in der sich Maud als vollkommen irre erwies und obendrein als verkappte Nymphomanin. Ich musste in der Folge nur noch die Einzelteile meines zukünftigen Ehemanns zusammenklauben. Eine Kleinigkeit: Ich war ebenso dunkelhaarig und zierlich wie Maud blond, groß und üppig. Ich war ebenso diskret und reserviert wie sie redselig und aufsehenerregend. Ich musste Jérôme wie die Antithese und das ideale Antidot zu seinem Liebeskummer vorgekommen sein.
Er heiratete mich ein Jahr nach seinem ohrenbetäubenden Bruch mit der blonden Mähre, die sich übrigens unter den von uns geladenen Gästen befand. Sie war, wie wir, im dritten Jahr Pharmazie, und aus ihrer Sicht hätte es keinerlei Grund gegeben, sich von einer Party ausgeschlossen zu sehen, die den gesamten Jahrgang umfasste. Ich habe noch den Ausdruck vor Augen, mit dem sie uns anstarrte, irgendetwas zwischen Rührung, trunkener Abgestumpftheit und leichtem Ressentiment, als hätte sich Jérôme für ihren Geschmack zu schnell getröstet und neu gebunden.
Am Ende dann, sie hatte sich am Champagner vergriffen, schlief sie auf einer Reihe zusammengerückter Hocker ein, verschwitzt und rot leuchtend, in einem zierlichen Kleid, das meines gern in den Schatten gestellt hätte. Zurück von der Toilette, wo ich vergeblich versucht hatte, mein diskretes Make-up aufzufrischen, erwischte ich Jérômes Blick auf den Schenkeln seiner Ex, die deren Kleid freigab. Ein Kleid in der Farbe von Sperma, tatsächlich. Als ob das Unbewusste dieser armen Maud auch wirklich jede Gelegenheit nutzte, um sich Ausdruck zu verschaffen.
Was las ich da oder glaubte ich an jenem Tag in Jérômes Blick gelesen zu haben, an dem wir triumphal unsere Vereinigung feierten? Begehren? Bedauern? Seine Augen jedenfalls ruhten auf den üppigen Kurven der schönen Eingeschlafenen, auf den Brüsten, die der seidig glänzenden Bluse zu entschlüpfen drohten, auf den blonden Strähnen, die an ihrer Stirn klebten, auf den langen, gebräunten Beinen und den nackten Füßen, an denen noch die rötlichen Spuren des Zaumzeugs und der Riemchen ihrer Sandalen sichtbar waren.
In dem Moment, da ich meinen mir frisch anvertrauten Ehemann gerade aus seiner Versenkung reißen wollte, näherte sich Maud schwankenden Schrittes ein Cousin von Jérôme, ein fröhlicher Lebemann, von dessen nerviger Existenz ich eben erst erfahren hatte, und lehrte spaßeshalber den Inhalt seines Glases über dem einladenden Dekolletee der Schlummernden aus, die sich sofort mit spitzem Schrei aufrichtete. Ich sah deutlich, und wahrscheinlich war ich nicht die Einzige, wie sich Mauds Busen unter der Seide zusammenzog, während hilfsbereite Hände ihr hier eine Servierte, dort ein Kleenex, hier ein vollkommen überflüssiges Glas Champagner reichten. Man drängte sich um sie, man munterte sie auf, man beschimpfte den Schelm: Es war meine Hochzeit, aber Maud schaffte es, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, und Jérôme war nicht der Letzte, der ihr die seine schenkte.
Heute ist Maud eine unserer Nachbarinnen, und wenn unsere Beziehungen zu ihr sich auch deutlich abgekühlt haben, so kommt es doch vor, dass wir sie zu unseren Sommerabenden einladen, sie, ihren Mann und ihren einzigen Sohn – der den unseren nicht das Wasser reichen kann.
Die Zeiten ändern sich. Maud ist noch immer schön, aber sie ist verwelkt, so wie Blondinen mit heller Haut eben verwelken. Was Léo betrifft, ihren Sohn, so muss er sein letztes Schuljahr wiederholen, während Thadée kurz vor der Aufnahme an der Centrale oder Polytechnique1 steht und Zach sein erstes Studienjahr Medizin bereits hinter sich hat. Egal, ob ich farblos und gewöhnlich bin: ich brachte Titanen zur Welt, wo andere lediglich ihre Brut werfen.
Der Wald zog sich wieder über uns zusammen, schwarz, dicht, duftend, als könnte er uns so besser unter seinen Flüchen halten. Meine Hände umfassten Anouks Gurgel noch einmal fester, deren Halsschlagader ich in dumpfen, heftigen Schlägen pulsieren fühlte. Mein eigenes Herz pochte mir bis zum Anschlag, es peitschte mir das Blut bis in die Ohren und schnitt mich Momente lang von der Welt ab. Dann aber gewann mein Bewusstsein wieder eine solche Schärfe, dass mir jeder Atemzug, jedes Rascheln, jeder Duft das Hirn durchbohrte. Anouk kämpfte lautlos, ohne den Blick von mir abzuwenden, und ohne sichtbare Panik. Die Insekten gaben sich plötzlich einem irren Zirpen hin, als hätte sie der Wahnsinn gepackt oder meiner sie angesteckt.
Mein rechtes Knie bahnte sich den Weg zu ihrem Bauch, und ich habe wohl unwillentlich den Druck auf ihren Nacken gemildert, denn sie nutzte die Gelegenheit, um mir ins Gesicht zu beißen. Ihre kleinen spitzen Zähne rutschten an meiner Wange ab und fanden auf Höhe meines Kiefers wieder Halt. Trotz der Wut, die mich durchfuhr, leuchtete in mir flüchtig ein Hochgefühl der Anerkennung auf, als wären wir zwei wilde, todeswütig miteinander kämpfende Bestien, die sich die Mäuler mit ihren scharfen Fangzähnen zerbissen, sich gegenseitig zerfetzten und ihr Blut auf die unruhigen und dunklen Bäume dieses tropischen Waldes verspritzten. In genau diesem Augenblick wusste ich, dass mein Verlangen keineswegs darin bestand, Anouk zu ficken, sondern ihr den Schädel einzurammen und ihr die Brüste zu Brei zu schlagen, mit Faustschlägen, Steinen oder was auch immer mir in die Hände geraten sollte, um diesem quälenden Verlangen ein Ende zu setzen, das ich von Anfang an für sie empfand; um diesem unerträglichen Druck ein Ende zu setzen, den ich überall in meinem Körper verspürte, an den Schläfen, im Brustkorb, im Bauch. Sie blickte mich an, als läse sie mich, als entschlüsselte sie die Geheimnisse meiner Triebe und wäre darüber weder gerührt noch erschrocken.
Stattdessen war ich selbst gerührt. Mir stiegen Tränen in die Augen, verdiente sie doch einfach nicht, was ihr widerfahren sollte. Man könnte mir entgegenhalten, niemand verdiene, mit zwanzig Jahren in einem dunklen Wald zu sterben, unter der Gleichgültigkeit der Guajaven- und Tamarindenbäume. Das jedoch wäre eine alberne Erwiderung, da so gut wie alle Leute verdienen, was ihnen widerfährt, und da ist der Tod mitnichten das Schlimmste. Im Übrigen sorgen sie bereits zu Lebzeiten für ihren eigenen Tod. Ich dachte immer schon, die psychopathischen Mörder, von denen man uns die Ohren volljammert, seien die Wohltäter einer Menschheit, deren absurdes Leid und Leben sie verkürzen.
Ich dachte das immer schon, bin aber nie zur Tat geschritten. Und jetzt, da sich mir endlich die Gelegenheit bot, wurde ich beinahe rührselig. Nun gut, das sage ich heute, in Wirklichkeit aber hielt mein Mitleid drei Sekunden lang an, ausreichend Zeit, um von einer zweiten Welle übermannt zu werden, einem Schwall blutiger Gischt, der für nichts Raum ließ als für mörderische Rage. Nein, will ich wirklich ehrlich sein, muss ich sagen, dass auch mir die Zeit blieb, Selbstmitleid zu empfinden. Auch ich verdiente nicht, was sich ereignen sollte, und es hätte nur einer Kleinigkeit bedurft, damit sich alles geregelt und Anouk und ich diesen dunklen Wald gemeinsam verlassen hätten.
Ich wusste es. Ich wusste von Thadées Geburt an, dass ich gerettet und der Säugling, den ich an meine Brust drückte, von erhabener Art war. Hatte er mich nicht, gerade erst aus meinem Leib ausgestoßen und in groben Zügen von seiner Käseschmiere befreit, mit erstaunlich klarem und weisem Auge prüfend angeblickt? Und Zachée, ein Jahr darauf, erwies er sich nicht als größer und dicker als der Durchschnitt aller Neugeborenen? Und zwar so sehr, dass mein Geburtshelfer, ebenfalls ein Freund von Jérôme, seine Geburt mit einem enthusiastischen und perplexen »Donnerwetter!« begrüßte. Erwähnt sei, dass Jérôme und ich von bescheidenem Kaliber sind und nichts uns dazu prädestinierte, körperlich derartig beeindruckende Söhne zur Welt zu bringen.
Aber gegenwärtig sind diese beiden Söhne weit weg, und einer von ihnen ist in seinem Fleisch verletzt, möglicherweise sogar tödlich. Zachées Stimme in jener Dezembernacht, ich glaube, ich werde sie mein Leben lang nicht vergessen.
»Mi, ich bin’s, Zach… Thadée …«
»Bist du’s nun, Zach, oder du, Thadée?« Denn wenn’s der eine ist, ist’s nicht der andere.
»Mi, hörst du mich? Thadée …«
»Also gut, dann bist du’s, Thadée: muss man ja wissen.«
Ich wollte noch länger so scherzhaft plaudern und ulkig sein mit diesem einen meiner Söhne, der mich des Nachts anrief, ich wollte den Augenblick verschieben, da es die Nachricht zu hören galt, die mich töten sollte. Aber aufgrund der Ruhe, die sich plötzlich zwischen ihm und mir breitmachte, aufgrund der besonderen Beschaffenheit dieser Ruhe, begriff ich, dass auch ich zu schweigen hatte.
»Thadée … er …«
»Zach? Was ist passiert?«
Meine Stimme wurde plötzlich schrill und ließ Jérôme ins Wohnzimmer stürmen. Ich spürte, wie sich sein warmer Körper an mich presste, wie sich seine Wange an meine schmiegte, während er vergeblich versuchte zu hören, was da neuntausend Kilometer weit entfernt von unserem Haus in Biarritz gesagt wurde.
»Ein Unfall. Thadée …«
»Was? Was für ein Unfall?«
»Wir waren surfen …«
Was für eine Idiotie, dieses Surfen! Wie konnte ich nur so dumm und eitel sein, meine Söhne überhaupt einen Fuß auf diese so unstabilen und zerbrechlichen Bretter aus Polystyrol setzen zu lassen? Wie häufig hatte ich nicht am Strand gezittert, ach, und ihnen zugesehen, wie sie sich von den Wellen zertrümmern ließen? Wie viele Male hatte ich mir nicht gesagt, dass sie Gefahr liefen, in den Untiefen zwischen Strand und Sandbänken zu ertrinken, oder sich an den Felsen von Lacanau Mehrfachbrüche zuzuziehen? Ja, ich hatte um sie gezittert, ja, aber ich war auch dümmlich stolz auf ihre grandiosen Leistungen, dümmlich stolz in meiner Bewunderung ihrer Meisterschaft über die Wellen. Mein mütterlicher Stolz hatte meine natürliche Vorsicht zum Schweigen gebracht.
»Wir waren surfen. Ich war schon aus dem Wasser, und Thadée, er wollte noch ein oder zwei Wellen reiten. Und dann, ich weiß auch nicht so genau, er wurde von einem Hai angegriffen. Ich hab’s nicht mitbekommen, ich war zu weit weg, aber …«
Die Haie. Die waren das Erste, was mir in den Sinn kam, als Thadée uns mitgeteilt hatte, dass er ein Jahr auf La Réunion verbringen wollte.
»Sag mal, spinnst Du! Das ist da voller Haie!«
Thadée, Zachée, beide lachten mich damals aus. Selbst Jérôme pflichtete ihnen bei:
»Nicht alles, was man im Fernsehen sieht, muss man auch glauben!«
»Haie, die Schwimmer oder Surfer angreifen, sind äußerst selten!«
So selten nun auch wieder nicht, wie’s scheint. Ich reichte Jérôme das Telefon, unfähig, noch länger eine Unterhaltung zu führen, die das zarte Fleisch meines Erstgeborenen und die Zähne des Meeres einschloss, die spitzen, unzähligen, fleischfressenden Zähne des Meeres. Ich hörte seine trockene Stimme einsilbig auf die hektische Darstellung reagieren, die Zachée ihm wohl lieferte und von der ich nur ein unterbrochenes Gemurmel mitbekam:
»Was?«
»…«
»Bist du sicher?«
»…«
»Das kann nicht wahr sein!«
»…«
»Ja.«
»…«
»Ja, ja, gewiss.«
»…«
»Das haben die gesagt?«
»…«
»Ja, ich rufe dich wieder an. Ja, sage ich ihr.«
Jérôme legte das Telefon vorsichtig zurück auf seine Ladestation, drehte sich zu mir und packte mich an den Schultern. Sein Mund stand offen, seine Kiefer waren voneinander gelöst, und für einige Sekunden schien er unfähig, etwas anderes zu tun, als seinen Mund zu öffnen und wieder zu schließen. Dann, endlich:
»Thadée! Er wurde von einem Hai gebissen!«
Ich stieß ein wahnsinniges Lachen aus:
»Was erzählst du da? Was sollen diese Dummheiten. Ihr beide, du und Zachée, ihr erlaubt euch einen bösen Scherz mit mir, stimmt’s?«
Jérôme ließ sich auf den erstbesten Sessel in Reichweite fallen, ein Sessel mit geflochtener Sitzfläche, den ich schon längst weggeworfen haben wollte. Ich begegnete meinem eigenen Blick im venezianischen Spiegel im Flur. Ich sah merkwürdig aus: verstört und schelmisch zugleich.
»Nein, Mylène, es stimmt, du musst mir glauben. Er wurde auf seinem Brett von einem Hai angegriffen.«
»Ist er tot?«
Er schien überrascht zu sein, dass ich ihm diese Frage stellte:
»Aber nein, also wirklich! Nein, er lebt. Ihm wurde das Bein abgebissen, aber er lebt!«
Der Schreck der Situation hat mich so brutal erwischt, dass mir nicht einmal Zeit blieb, mich erleichtert zu fühlen. Mein Sohn, mein schöner Junge, ihm fehlte ein Bein, das rechte, wie es schien. Das also war geschehen, Jérôme überhäufte mich mit Details, die Stunde des Unfalls, ein rechtzeitig angelegter Druckverband, der Name der Klinik, in die man Thadée gebracht hatte, sein Zustand, erst kritisch, jetzt stabil.
»Ich fliege hin!«
Jérôme blickte mich stumpf an:
»Ich habe Zachée gesagt, dass wir ihn zurückrufen. Wenn wir wissen, was wir tun.«
»Ich fliege hin. Ich nehme die erste Maschine: kommt nicht in Frage, dass mein Sohn da allein ist. Und wer weiß, ob er gut behandelt wird? La Réunion, das ist Dritte Welt!«
»La Réunion gehört zu Frankreich. Und anscheinend ist das Félix-Guyon sehr gut. Um Thadée hat man sich sofort gekümmert.«
»Hat Zachée das gesagt?«
»Wie du weißt, studiert er Medizin und kann entscheiden, wie kompetent eine Belegschaft ist.«
»Aber ich, ich will, dass Thadée nachhause kommt und hier behandelt wird. Ich will, dass Ribes ihn operiert. Ruf ihn sofort an!«
Jérôme lächelte müde:
»Mylène, sie versuchen, sein Bein zu retten, aber es ist ungewiss, ob es ihnen gelingt. Und im Augenblick ist er nicht transportfähig.«
Ich ließ ihn dort sitzen, bin ab in mein Zimmer, habe meinen Koffer gepackt, zack, zack, als würde jede Sekunde zählen. In der Zwischenzeit kümmerte sich Jérôme um mein Ticket. Abflug am nächsten Tag. Vollkommen sinnlos, dass ich mich so beeilt habe … Um den Rückflug sollten wir uns später kümmern. Und eines war klar: er würde mit Thadée stattfinden oder gar nicht: niemals ohne meinen Sohn.
Was über die Stunden sagen, die folgten, all diese Tränenausbrüche und irren Vorschläge, die vielen Telefonate mit Zachée, meinen Eltern, denen, die Jérôme tätigte? Von jenem Anruf ganz zu schweigen, den ich, natürlich, mit Jasmine führen musste.
Jasmine, die Freundin von Thadée. Sie war gerade erst zurück von La Réunion, wo sie, wie es hieß, zehn traumhafte Tage zwischen Meer und Bergwelt verbracht hatte.
»Diese Insel, Mylène, ist einfach unglaublich! Man gelangt übergangslos vom Meer rauf zu den Vulkanhängen. Und glaub mir, das sind zwei vollkommen unterschiedliche Universen!«
Sie piepste damals regelrecht, was sie eigentlich immer tut, und verdrehte ihre schlanken, manikürten Finger in einer Weise, die ihre Angst verriet und die sie mir sympathisch gemacht hätte, würde sie einem nicht so unglaublich auf die Nerven gehen.
Jasmine, »die Prinzessin« – ein von Zachée letztes Jahr in die Welt gesetzter Spitzname, als Thadée uns diese französisch-iranische Schönheit mit ihrer unglaublich schlanken Figur, ihrem langen, glatten Haar, ihren grünen Augen, ihren vollen Lippen und tadellos gemachten Nägeln ins Haus schleppte.
Nicht genug, dass sie körperlich einfach überwältigend ist, brilliert Jasmine, laut Thadée, auch noch als Studentin. Tochter eines Arztes, folgt sie den Spuren ihres Vaters und besucht in Bordeaux dieselbe Uni wie Zachée.
Als die beiden sich zum ersten Mal begegneten, stand Ysé angesichts eines solchen Glanzes einfach nur offenen Mundes da. Auf diese Begegnung folgte eine ihrer Zwangsphasen, in der sie sich Aladdin von Disney ansah und gleich darauf nochmal ansah und dann noch einmal, um anschließend ihre Hefte mit Darstellungen orientalischer Prinzessinnen zu füllen, die mit Goldschmuck behangen und von hauchdünnen Schleiern bedeckt waren. In Jasmines Gegenwart blieb Ysé stumm, wie versteinert, kaum aber war diese fort, machte Ysé Thadée ganz verrückt mit ihren Fragen zur Lebensweise »der Prinzessin«, ihren Lieblingsfarben, ihrem Parfum …
»Isst sie Fisch?«
»Ja, klar, warum sollte sie keinen essen?«
»Und Chicorée, mag sie den?«
»Aber ja, ich glaube schon. Na ja, keine Ahnung. Du machst mich mit deinen komischen Fragen ganz kirre.«
In Wirklichkeit ist Jasmine in puncto Ernährung unsagbar kompliziert und verzieht vor mehr oder weniger allem, was man ihr serviert, angeekelt das Gesicht. Ich glaube, dass das von der Vorstellung herrührt, die sie sich von ihrer eigenen Vornehmheit macht. Im Übrigen verdankt sie ihre luftige Schlankheit einer drastischen Diät. Vielleicht hat sie Angst, ihrer Mutter zu ähneln, Fériel, die tapfer gegen ihr Übergewicht ankämpft, begleitet von triumphalen Höhenflügen und ergreifenden Tiefschlägen, während derer sie, laut Jasmine, in Tränen aufgelöst und zurückgezogen vor sich hinlebt.
Wir haben die Thérons ein- oder zweimal getroffen, und Fériel wirkte da auf mich wie ein kleines, bedeutungsloses Etwas – recht hübsch, ja gewiss, aber in nichts vergleichbar mit der perfekten Schönheit ihrer einzigen Tochter. Jasmine hat zwei um einiges ältere Brüder, Sam und Cyrus, beide Börsenmakler in London, über die ich bislang aber nur reden hörte, ohne sie je gesehen zu haben. Und tja, es ist merkwürdig, aber jetzt, da ich mich darauf vorbereite, Jasmine an diesem ebenso eisigen wie konfusen Dezembermorgen anzurufen, und mich frage, wie ich ihr die furchtbare Neuigkeit mitteilen soll, kommt mir in den Sinn, dass Thadée Sam und Cyrus die Spitznamen »Hai Nr. 1« und »Hai Nr. 2« verpasst hat.
»Jasmine? Ich bin’s, Mylène.«
Kaum über den Unfall informiert, brach sie in Tränen aus und heulte so herzzerreißend los, dass Fériel ihr das Telefon aus den Händen reißen musste, um zu verstehen, was passiert war. Jasmines Hysterie hatte mir gerade noch gefehlt, zu ihrer Mutter aber sagte ich im Wesentlichen:
»Sagen Sie ihr, sie solle sich beruhigen. Er lebt. Mein Sohn ist ein Löwe. Ich fliege morgen los, Madame Théron. Und ich bringe Thadée sobald wie möglich nachhause. Ich werde Jasmine auf dem Laufenden halten, natürlich. Und Zachée ist auch erreichbar. Sie soll sich aber beruhigen: Thadée wird heitere und positiv gestimmte Menschen um sich herum brauchen, sobald er zurück ist.«
Später dann rief Olivier Théron Jérôme höchstpersönlich an. Sie redeten unter Männern über Thadées Zustand. Jérôme sprach mal schreckliche, mal harmlose Worte aus, deren Sinn zu verstehen ich mich weigerte: Zerquetschung, kollabierte Arterie, Fleischfetzen, Gefäßneubildung, Muskelkissen, Polsterung … Ich verging vor lauter Ungeduld, während ich die Stunden zählte, die mich vom Abflug und dem Augenblick trennten, da ich an meinem Platz sein würde, bei meinem Erstgeborenen, in diesem grausamen Moment.
Am Morgen der Abreise bekam ich keinen Bissen runter. Während Jérôme mich mit Ratschlägen aller Art überschüttete, kaute Ysé besorgt an ihren Nägeln. Auch ihr haben wir die Nachricht mitteilen müssen, mit genau gewählten Worten, aber sie schien von ihr nicht sonderlich bewegt zu sein. Zunächst, zumindest. Denn in der Nacht, kam sie zwischen uns gekrochen, die Haare schweißverklebt an der Stirn, das Herz schlagend bis zum Hals:
»Ich hatte einen Albtraum.«
»Was hast du denn geträumt, mein Herzchen?«
»Da war ein Hai.«
»Hier gibt’s keine Haie. Schlaf jetzt wieder.«
Was sie dann auch tat, während ich mich von einer Seite auf die andere wälzte, unfähig, in den Schlaf zu finden, auch ich von Bildern von Tiefseegräben und riesigen Haien gejagt. Zum Zeitpunkt der Abreise dann, während ich mich anschickte, mein jüngstes Kind in die Arme zu schließen, hielt sie mir eine in der Mitte gefaltete Zeichnung hin:
»Hier, gib das Thadée. Von mir.«
»Ja. Gewiss.«
Und das hätte ich auch getan, ich hätte es Thadée gegeben, wäre ich nicht auf die sinnige Idee gekommen, das A4-Blatt auseinanderzufalten, während Jérôme mich zum Flughafen fuhr. Mit der ihr eigenen Genauigkeit hatte Ysé eine Unterwasserlandschaft gemalt: sandige Wogen, Algen und weitverzweigte Korallen, Fische, die ihre winzigen Luftblasen ausstießen, nichts fehlte. Aber in diesem idyllischen und vielfarbigen Rahmen zeichnete sich ein Hai mit drohender Rückenflosse und fleischfressendem Kiefer ab. Schlimmer noch, dieser Kiefer schloss sich gerade behutsam um ein rosafarbenes Bein, dessen Venen und Bänder Ysé mit der Sorgfalt eines schier unerträglichen Realismus dargestellt hatte, also warf ich die Zeichnung in den erstbesten Mülleimer.
Die Reise im Flieger scheint mir endlos zu sein. Unfähig zu schlafen oder zu lesen, lasse ich schweigend meine Tränen fließen, ohne dass mein Sitznachbar rechts von mir, ein in Candy Crush vertiefter Jugendlicher, auch nur einen Blick auf mich und meinen Kummer richten sollte.
Am Flughafen von Saint-Denis nehme ich mein Gepäck in Empfang und gehe Richtung Ausgang, während ich nach der schlaksigen Silhouette von Zachée Ausschau halte, nach seinen goldenen Locken, dem hübschen Lächeln, das er aufsetzen würde, um mich zu trösten. Statt meines strahlenden jüngeren Sohnes allerdings erwartet mich Cindy.
Cindy. Na die, die hatte ich ganz vergessen. Und doch wusste ich, dass auch sie auf La Réunion war. Es ist sogar ziemlich wahrscheinlich, dass Zachée während der vielen Telefonate, die wir innerhalb der letzten achtundvierzig Stunden geführt haben, auf ihre Gegenwart anspielte. Aber gut, Cindy ist niemand, der einem auffällt und an den man sich erinnert. Sie sticht einem nicht ins Auge. Es ist merkwürdig. Sie und Zachée sind seit der Schule zusammen, aber ich denke nur an sie, wenn ich sie auch vor mir sehe, und selbst da noch nicht mal wirklich. Zu meiner Entlastung muss gesagt werden, dass Cindy ebenso farblos ist wie Jasmine aufsehenerregend. Weder groß noch klein, eher pummelig, ja tatsächlich. Eine Frisur, die sich in aschblonden Zöpfchen auftürmt, sogenannte Dreads, wie Zachée sagt. Bei Surfern wohl sehr in Mode. Denn wie meine Söhne, surft Cindy auch. Zachée behauptet sogar, sie sei die Beste von ihnen, und ruft damit hämisches Gelächter und sarkastische Bemerkungen bei seinem Bruder hervor:
»Besser als du vielleicht! Was ja auch nicht weiter schwierig ist!«
»Sie hat einen schönen Stil, wer das Gegenteil behauptet, lügt!«
»Pfff, die möchte ich mal auf ’nem Gun-Board sehen, ja echt! Da würde sie sich weniger aufspielen.«
»Sie surft auch Gun. Und sie spielt sich nie auf, falls dir das entgangen sein sollte.«
Nachdem sie mich ungeschickt begrüßt hat, packt Cindy meinen Koffer und führt uns Richtung Ausgang. Der Himmel ist strahlend blau, aber die Hitze machte mir schon auf dem Rollfeld zu schaffen.
»Wollen Sie direkt ins Krankenhaus oder sollen wir vorher Ihre Sachen ins Lager bringen?«
»Krankenhaus.«
Typisch Cindy mit ihrem Einfühlungsvermögen einer Amphibie, dass sie ausgerechnet jetzt vorschlagen muss, wir könnten los und eine Fahrt »ins Lager« machen, wo doch mein ältester Sohn mich auf seinem Leidensbett erwartet. Dieses Lager, wenn ich es richtig verstanden habe, besteht aus ein paar Strohhütten und beherbergt ausschließlich Surfer. Thadée hat mir davon vorgeschwärmt, zumindest am Anfang:
»Stell dir vor, Mi, es gibt hier keinen Strom, kein fließendes Wasser, aber wir kriegen das einfach so hin. Und wir legen alles zusammen, das Essen, die Klamotten, das Equipment. Bis auf die Bretter, nichts gehört nur einem, alles gehört allen!«
Seine Beschreibung rief bei mir ekelgetränktes Mitleid hervor, für ihn, für sie alle, aber gut, wenn es ihnen so gefiel … Zach schien es auch genial zu finden. Erwähnt sei, dass meine beiden Söhne ein ökologisches Gen besitzen und Mangel an Komfort, Schmutz oder Promiskuität sie anscheinend nie gestört haben.
Cindy weist mich wortlos auf einen alten Fiat hin. Unterhaltung ist nicht ihre Stärke. Anders als sie, redet Zach wie ein Wasserfall. Der Kontrast zwischen den beiden wäre ulkig, wäre er nicht so traurig. Denn dass Cindy nicht redet, liegt zweifelsohne daran, dass sie nichts zu sagen hat, ist doch ihr Intellekt ein Spiegelbild ihrer körperlichen Erscheinung: mittelmäßig. Nachdem sie mit Ach und Krach ihr naturwissenschaftliches Abi hingekriegt hat, wurde sie zur Ausbildung als Krankenschwester zugelassen, während Zach seine Aufnahme an die medizinische Fakultät mit Bravour gemeistert hat. Was er an ihr findet, was er überhaupt an ihr finden mag, das ist eine Frage, die mir keine Ruhe lässt und auf die mir die vergangenen fünf Jahre keine zufriedenstellende Antwort liefern konnten. Je häufiger ich Cindy sehe, desto besser lerne ich sie kennen, und desto weniger verstehe ich meinen Sohn.
Tja, tatsächlich, inzwischen sind es fünf Jahre. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass mein Sohn doch noch wen findet, der besser zu ihm passt und schmeichelhafter für ihn wäre, aber ich muss doch anerkennen, dass ihre Beziehung hält, vorausgesetzt, dass man hier überhaupt von einer Beziehung reden kann.
Da Cindy schweigsam den Wagen lenkt und den Blick starr auf die Straße gerichtet hält, frage ich schließlich nach:
»Wo ist Zach?«
»Im Lager. Er ruht sich aus.«
»Ach, ja?«
»Jo. Seit dem Unfall hat er nicht geschlafen.«
»Warst du dabei?«
»Wie bitte?«
»Als Thadée vom … Du weißt schon …«
»Ja.«
Typisch sie. Sie könnte sich ja vorstellen, dass ich wissbegierig bin, dass ich mir ein Bild machen möchte, dass ich verstehen will, dass ich mir die Dinge vor Augen führen möchte, aber sie sagt nichts oder antwortet nur lakonisch auf meine verzweifelten Fragen:
»Aber warum seid ihr überhaupt surfen gegangen, wenn es dort Haie gibt?«
»Wir wussten es nicht.«
»Jeder weiß, dass es auf La Réunion Haie gibt und dass sie Surfer angreifen! Also wirklich!, selbst ich weiß das!«
Sie blickt mich scheel an, gibt aber keinen Mucks von sich. Nach einer Weile werfe ich das Handtuch und überlasse mich der Landschaft, der Straße, die dem Küstenstreifen folgt. Und dann sind wir auch schon da und haben die Klinik Félix-Guyon vor uns. Cindy, ich muss es anerkennen, erweist sich als äußerst kompetent, wie sie das Auto in einer einzigen Bewegung einparkt und mich anschließend durch den Dschungel der makellosen Gänge des Spitals führt. Am Ende dann löst sie sich in Luft auf, was mir sehr gelegen kommt, da ich nur eines will: Thadée ohne Zeugen sehen, nur er und nur ich, angesichts dieser furchtbaren Prüfung, von der ich nicht bezweifle, dass er, dieser Löwe, sie bestehen wird.
Merkwürdigerweise stellt sich mir kein einziges Hindernis in den Weg: kein eifrig bemühter Arzt, keine inquisitorische Krankenschwester und auch keine Verwaltungsformalität, als ob das hier aller Welt schnuppe wäre. Ich klopfe an die mir von Cindy angewiesene Tür und trete ein: so einfach ist das eben. Eingetaucht in einen von den Lammellenvorhängen erzeugten Halbschatten liegt das Zimmer ruhig da. Thadée reagiert bei meiner Ankunft nicht, hat aber die Augen geöffnet, hält den Kopf leicht abgewandt. Ich habe erwartet, ihn schwächer vorzufinden, blass, vom Leiden gezeichnet, aber die drei Sekunden, die verstreichen, bis er sich der Anwesenheit einer Person bewusst wird, genügen mir, um festzustellen, dass er sich in den letzten sieben Monaten kaum verändert hat. Sein Haar ist länger als vor seiner Abreise und seine Augen wirken bei der Farbe, die er seinem tropischen Aufenthalt zu verdanken hat, noch klarer – seine blaugrünen Augen, Jérômes Augen, ja, nur größer, und an den Schläfen spitzer zulaufend, vor allem aber eingerahmt von dunklen, äußerst edel anmutenden langen Wimpern.
Wie schön er doch ist, dieser von uns, die wir alles andere als hübsch sind, unerklärlicherweise zur Welt gebrachte Sohn. Nein, ich übertreibe, Jérôme ist hübsch und ich bin nicht hässlich: Thadée aber ist schlichtweg sensationell. Er war es immer schon, und der Jugendliche hat die kindlichen Versprechungen eingehalten: der goldene Bub mit Engelslocken und glasklaren Pupillen hat sich in einen katzenhaften jungen Mann mit feiner Muskulatur, dämonischem Lächeln und umwerfendem Blick verwandelt.
Er sieht mich, seine Mundwinkel sacken ab, seine Augen füllen sich mit Tränen:
»Maman!«
Ich eile, ich stürze zu ihm und umschlinge ihn so gut es geht, trotz der gespannten Bettdecke, trotz des Tabletts mit dem von ihm unberührten Essen, trotz des Infusionsschlauches, der seinen Arm an einen mit durchsichtigen Säcken schwer beladenen Metallständer fesselt.
»Mein Baby, mein Liebster!«
Ich weine, er weint auch und stößt mich schließlich von sich, beinahe brüllend:
»Schau mal, Maman, schau mal, was die mit mir gemacht haben!«
Seit wann nennt er mich »Maman«, und wer sind die, die das mit ihm »gemacht haben«? Das zu fragen, bleibt mir keine Zeit, denn schon lässt er die fusselige Decke entlang seines rechten Beines hinuntergleiten und enthüllt mir so seinen in Velpeau-Verbände eingewickelten Schenkel und diesen unerträglich leeren Platz, wo sich seine Wade, sein Knöchel, sein Fuß befinden sollten.
Grauen, Grauen, Grauen: Mein Baby, mein so schöner, so großer, so starker Erstgeborener, wer hat ihn mir verpfuscht? Wer hat sich das Recht angemaßt, ihm sein Bein zu nehmen? Ich bin kurz davor, der ganzen Welt die Schuld zu geben, und vor allem diesen so ungebildeten und inkompetenten Chirurgen auf La Réunion, die ernsthaft glaubten, auf ein komplexes Problem eine einfache Lösung anwenden zu können. Denn Lösungen, da bin ich mir sicher, hätte es andere gegeben als eine Amputation: verdammte Scheiße, man baut Brüste wieder auf, Nasen, ganze Kiefer, warum also nicht auch ein Bein?
Ich bemühe mich, ruhig zu wirken, fröhlich, der Situation angemessen, aber zum Grauen und der Wut mischt sich ein Ekelgefühl, auf das ich nicht vorbereitet war, ich, die ich immer mühelos die Wehwehchen und Krankheiten meiner Kinder aufgefangen habe, stets bereit, einen Augenbrauenbogen zu nähen, einen Abszess zu desinfizieren, Kotze, Rotze, Kacke wegzuwischen. Bei ihnen hat mich nie was angewidert, niemals, warum also bin ich heute kaum in der Lage, die gelblich strahlenden Verbände zu sehen, die den Oberschenkelknochen meines Sohns umhüllen? Um die Stimmung zu heben, gebe ich beruhigende Geräusche von mir, absurde und beschwichtigende Sätze:
»Ich bin da. Alles ist gut. Ich werde dich heimbringen. Glaube mir.«
Sein Gesicht zieht sich zusammen, seine Lippen spannen sich an, seine Augen treten hervor, und ich begreife, dass er Zorn und Ekel mit mir teilt.
»Ich will nicht nachhause, verdammte Scheiße nochmal, ich will, ich will …«
Er schäumt, die Worte dringen nur mühsam hervor, aber ich könnte sie statt seiner aussprechen: Er möchte sein Bein zurück, er möchte, dass alles wieder so ist wie vorher, er möchte wieder der Halbgott sein, der auf den Fluten ritt, er möchte surfen, laufen, klettern, sich problemlos niederknien, kein Mitleid hervorrufen, sondern Bewunderung einflößen, Begehren, mit all den Qualitäten, die ihm die Natur so großzügig zuteil werden ließ: Schönheit, Kraft, Anmut. Seines Beines beraubt, wird er zu einem Behinderten, einem Hinkenden, einem Schwachen, er, der er sie stets heimlich verachtet hat.
Ich ziehe die Decke zurück über seinen Stummel und bemühe mich, ihn abzulenken, seine Aufmerksamkeit von der unerträglichen Wirklichkeit abzulenken. Ich summe etwas, ich plaudere, ich erzähle ihm Neuigkeiten, von meiner Reise, aus Biarritz, von Papa, Ysé, Jasmine … Bei letztgenanntem Vornamen versteift sich Thadée, sein Blick schweift zum Fenster, aber ich lese Bitterkeit in ihm, Frustration und, das auch, Angst:
»Was meinst du? Will ein Mädchen wie Jasmine mit einem Typen zusammenbleiben, der nur ein Bein hat?«
»Was erzählst du denn da? Ich habe gestern erst mit ihr telefoniert, aber du ja sicherlich auch: Du wirst doch mitbekommen haben, dass sie völlig gebrochen ist, dass es ihr leid tut für dich, dass sie aber auch keine Sekunde lang darüber nachdenkt, dich zu verlassen, also wirklich! Sie liebt dich!«
»Sie ist zerbrechlich, ich weiß nicht, ob sie … ob sie das verkraften wird!«
Er weist trotzig auf sein rechtes, von der Decke wieder zum Verschwinden gebrachtes Bein.
»Nun ja, das ist ein guter Test, wenn sie es nicht ertragen sollte, dann, weil sie dich nicht wirklich liebt, und Mädchen, die dich mit oder ohne Bein lieben, glaube mir, an denen mangelt es nicht!«
»Ja, aber ich möchte Jasmine!«
»Thadée, Jasmine weint den ganzen Tag lang, sie wollte herkommen, mit mir zusammen. Ihr Vater hat sie davon abgehalten: Anscheinend erwarten sie über die Festtage die Familie, da musste Jaz vor Ort sein. Aber sie hat mir das Versprechen abgenommen, dich möglichst bald zurückzubringen, und genau das werde ich tun.«
Wir werden von einer eintretenden Krankenschwester unterbrochen, dann von einem Facharzt, dem gegenüber ich mich, immerhin die Ehefrau eines Apothekers, deutlich zwinge, einen schulmeisterlichen Ton anzunehmen, damit er definitiv kapiert, dass man Thadée nicht wie einen Ottonormalpatienten behandeln kann. Er aber strahlt nur so vor lauter Optimismus, Selbstzufriedenheit und einer abgrundtiefen Gleichgültigkeit gegenüber allem, was nicht ihn selbst betrifft. Es gelingt mir nicht, ihm auch nur eine präzise Information über Thadées Zustand und die Dauer seines Krankenhausaufenthaltes aus der Nase zu ziehen. Nach gut zehn Minuten hohler Plänkelei klopft es an der Tür. Es ist Cindy:
»Mylène? Salut, Thadée. Ich hab eben mit Zach telefoniert: er fragt, ob Sie nicht ins Lager kommen wollen. Ansonsten würde ich ihn abholen und herbringen.«
Thadée macht eine unruhige Handbewegung in unsere Richtung:
»Fahr hin, Mi. Ich werde hier eh behandelt. Die müssen den Verband neu anlegen, das dauert eine Ewigkeit und die wollen da niemanden im Zimmer haben. Und außerdem bin ich todmüde: ich muss ein wenig schlafen. Du kommst heute Abend mit Zach wieder her, o. k.?«
»Bist du sicher?«
»Ja. Und dann kannst du auch das Lager sehen. Komm da erst mal an. Du kannst meine Strohhütte nehmen.«
Ich gehe. Ich gehe, aber ich bin da, er kann auf mich zählen, auf den unerschütterlichen Eifer meiner Liebe. Ich gehe, aber ich werde wiederkommen.
Anders als ich dachte, liegt das Surf-Camp nicht in unmittelbarer Nähe zum Meer, sondern landeinwärts in den Hügeln. Die Straße, die dorthin führt, ist ebenso kurvig wie von Schlaglöchern durchzogen, und Cindys grobe Fahrweise macht es auch nicht besser, weshalb ich schließlich mit flauem Magen und schwerem Kopf im Margouillats ankomme. Ich rechnete zwar damit, dass es heiß sein würde, immerhin herrscht hier grade Sommer, aber die Temperatur erscheint mir ungewöhnlich hoch. Dazu befragt, zuckt Cindy kaum merkbar mit den Schultern:
»Jo, nö, das ist hier immer so.«
Ich mache einige Schritte durch den Staub, der von unserer Ankunft mit quietschenden Reifen aufgewirbelt wurde, meinen Koffer am gestreckten Arm. Ein gutes Dutzend Strohhütten liegt wahllos verstreut um einen Platz plattgeschlagener Erde. Surfbretter sind entlang eines Bretterzauns aufgereiht, hier und da getrocknete Wäsche, etwas scheint zu köcheln und grauen Qualm sowie einen Geruch abzusondern, der meine Übelkeit nur noch steigert. Ein Mann nähert sich uns raschen Schrittes. Cindy an meiner Seite erstarrt, findet aber keine Worte, uns einander vorzustellen, sodass er das übernimmt.
»Hallo. Ich bin Jérémie. Sie müssen Zachs Mutter sein?«
»Und die von Thadée, ja.«
»Willkommen.«
Er starrt mich an, ohne alle Liebenswürdigkeit. In gewisser Weise sieht er Thadée ähnlich: dieselben goldenen Locken, die er in einer Art hochgestecktem Knoten trägt, dieselben hellen Augen, dieselbe drahtige Muskulatur. Er sieht aus wie Thadée in zehn oder fünfzehn Jahren. Denn dieser Kerl ist nicht wirklich jung, auch wenn er sich gut gehalten hat. Er ist schön, aber etwas an seinem Kiefer und der Form seiner Nase wirkt animalisch. Er will, ich spüre es, auf dem Absatz kehrt machen, besinnt sich aber eines Besseren und fügt schließlich hinzu:
»Es tut uns allen leid. Was Ihrem Sohn passiert ist.«
»Und mir erst.«
Ich hätte ihm nicht mit dieser Aggressivität antworten sollen, aber es ist mir so rausgerutscht. Vielleicht, weil er sich in puncto menschlicher Wärme ans Minimum gesellschaftlicher Konvention gehalten hat, vielleicht auch, weil er diese kaum spürbar platte Nase hat, dieses leichte Schielen, diesen Kiefer eines Fleischfressers; oder aber weil ich schlicht erschöpft bin von den elf Stunden Flug, von meinem Besuch im Krankenhaus, und weil ich seit zwei Tagen so gut wie nichts gegessen habe. Jérémie lässt uns mit einem letzten unergründlichen Blick stehen, und Cindy macht mich auf eine der Strohhütten aufmerksam:
»Das ist unsere. Zach ist drinnen.«
Er ist drinnen. Er schläft in seinen Kleidern auf etwas, was die Bezeichnung Bett kaum verdient: ein auf einen Metallrahmen gespanntes Tuch. Auf dem Boden zwei schmutzige Matratzen. Kein Waschbecken, keine sanitären Anlagen in Sicht. Cindy rüttelt sanft an Zachs Schulter, hockt sich zu ihm hinunter und legt ihr Gesicht in seinen Nacken, als wäre ich gar nicht da:
»Zachée, wach auf: deine Mutter ist da.«
Langsam, mühsam, setzt er sich am Rand des Bettes auf, wühlt sich durch sein wirres Haar, reibt sich die Augen, lächelt mich schließlich an:
»Mi!«
Wir umarmen einander, tauschen erste Neuigkeiten aus, die Reise, das Krankenhaus …
»Du hast ihn also gesehen …«
»Ja.«
»Sie haben ihn operiert, während du im Flieger warst. Das Bein war zu zerstört.«
»Hör zu, bei allem, was er eben erst durchgemacht hat, fand ich ihn doch … recht stabil.«
Nein, das stimmt nicht. Ich fand ihn furchtbar. Unverändert und doch zugleich anders. Der Blick verstört. Die Stimme weinerlich. Aber ich hatte keine Lust, Zach diesen schmerzlichen Eindruck zu vermitteln. Zumal er mir selbst eine Erklärung lieferte:
»Die füllen ihn mit ganz schön viel Zeugs ab, weißt du. Und auch mit reichlich Morphium. Er pennt die Hälfte der Zeit. Und manchmal stürzt er einfach so ab, rastet aus. Aber dass du jetzt da bist, wird ihm guttun. Willst du was trinken? Wir haben für dich eine eigene Ecke eingerichtet. Es gibt eine freie Strohhütte, zeigen wir dir dann.«
Allein der Gedanke, wie sie direkt auf dem Boden zu schlafen, im Wald zu pinkeln und von dem zu essen, was noch immer die Atmosphäre verpestet – Wild, das bereits einen Stich hat?, ein nicht mehr ganz frischer Fisch? – lässt mich frösteln.
»Nein, Zach, nein. Kommt gar nicht in Frage. Du wirst mich zurück nach Saint-Denis bringen, wir werden da ein Hotel suchen. Wenn ich nicht sogar bei Thadée im Zimmer schlafen kann, was meinst du?«
»Aber Mimi, wir haben für dich extra eine Hütte hergerichtet, für dich ganz allein. Und Jéré meint, du müsstest auch nichts bezahlen! Cindy hat schön sauber gemacht, sie hat dir Blumen hingestellt, das ist echt dufte! Du kannst doch wenigstens diese Nacht bleiben!«
Es ist schon ziemlich dunkel und die angesammelte Müdigkeit der Reise und der letzten Tage bricht ebenso plötzlich über mich herein wie diese tropische Nacht.