Nur Hannah.
Roman
© 2022 Isabella Maria Kern
Schriftstellerin und Drehbuchautorin
A-4160 Aigen-Schlägl
https://isabella-maria-kern.com
isabellamariakern@gmx.at
Umschlaggestaltung: Petra Harml-Prinz
Foto: iStock.com/FMNG
Druck und Vertrieb im Auftrag der Autorin: myMorawa von
Dataform Media GmbH, Wien
www.mymorawa.com
ISBN:
978-3-99129-842-7 (Paperback)
978-3-99129-841-0 (E-Book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Für alle Menschen, die sich von der Gesellschaft ausgegrenzt fühlen,
… und für Romy.
Alle Figuren in diesem Roman sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind daher rein zufällig.
Isabella Maria Kern ist 1968 in Oberösterreich geboren und lebt dort mit ihrem Ehemann. Sie hat drei Söhne.
Sie liebt lange Spaziergänge mit dem Hund „Chilli“ und widmet sich mit ihrem Mann dem Tanzsport.
Wenn sie nicht gerade schreibt, arbeitet sie als Krankenschwester und betreibt nebenbei ein Kleinwasserkraftwerk. Ihren ersten Roman „Li – Tote Mädchen machen keinen Sex“ gibt es bereits als Drehbuch.
„Nur Hannah.“ ist ihr vierter Roman.
Derzeit arbeitet sie an ihrem siebten Buchprojekt.
Prolog
Hannah war nicht immer Hannah.
Sie ist intersexuell geboren, wuchs als Junge auf und wurde in der Schule gemobbt.
Dieser Teil der Geschichte ist nicht erfunden.
Die Wissenschaft kennt heute etwa 4000 geschlechtliche Differenzierungen, abhängig von Chromosomen, den Hormonen, den Gonaden und den äußeren Genitalien.
Schätzungen zufolge gibt es allein in Deutschland rund 100.000 Menschen, die weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht eindeutig zugeordnet werden können.
Sich bewusst für ein anderes Geschlecht zu entscheiden ist ein Eingriff in die Persönlichkeit, die viel Mut und Kraft erfordert.
Und vor allem eines: Akzeptanz in der Gesellschaft.
Doch noch immer ist Intersexualität ein Tabu, und die Betroffenen haben oft nicht den Mut, sich dazu zu bekennen. Intersexualität ist keine sexuelle Orientierung und kein medizinischer Notfall.
Kinder sollen so bleiben dürfen, wie sie sind.
Ein Anfang ist gemacht: Es gibt „divers“.
Ob divers, weiblich oder männlich: Auf den Menschen kommt es an, und mit Liebe und Toleranz aufgewachsen, kann jeder zum Superhelden oder zur Superheldin werden!
Viel Freude beim Lesen meiner Geschichte!
Isabella Maria Kern
Ankunft im Kloster
Hannah beugte sich hinab, um ihr Schuhband zu binden, das sich bereits zum zweiten Mal gelockert hatte, wobei ein Knie das heiße Pflaster berührte. Sie fluchte, stand auf und rieb das schmerzende Knie. Dabei rutschte der Riemen ihrer Handtasche von der Schulter, und der Inhalt der Tasche purzelte auf die Straße.
Hannah fluchte abermals, bückte sich und stopfte eine Packung Taschentücher, ihr Handy, eine Landkarte, ihre Geldbörse, den Reisepass und noch etwas „Mädchenkram“ in die Tasche zurück. Dann richtete sie sich auf, strich ihren Sommerrock zurecht und griff nach ihrem Koffer, der ihr holpernd über das Pflaster folgte, während sie ihn hinter sich her zog. Die kleinen Räder waren für diesen unebenen Weg nicht geeignet.
Die Sonne stand hoch am Himmel und die Zikaden zirpten so laut, dass Hannah überlegte, ob die hohen Töne, die diese Tierchen erzeugten, Menschen mit Hörgeräten Probleme bereiteten. Aber die Dankbarkeit, die Hannah empfand, als sie in den Schatten der Pinienallee eintauchte, ließen diese Gedanken sogleich wieder verschwinden.
Hannah blieb stehen, um sich ihre langen, braunen Haare, die sich gelöst hatten, wieder ordentlich zusammenzubinden, denn sie hasste es, wenn sie im Nacken schwitzte. Die Locken hatte sie von ihrer Großmutter und die türkisfarbenen Augen von ihrer Mutter. Für beides war sie sehr dankbar. Auch ihre sinnlichen Lippen und die ebenmäßigen Zähne fand sie schön.
Mit dem Rest ihres Aussehens war sie unzufrieden: Sie fand ihre Stirn zu hoch, den Kiefer zu breit, die Hände zu groß, das Becken zu schmal und die Beine zu dünn.
Hannah seufzte und machte sich wieder auf den Weg. Der Koffer ruckelte erneut an ihrem Handgelenk, und sie war sauer, weil sie der Taxifahrer nicht bis vor den Eingang des Klosters gefahren, sondern sie beim Tor aussteigen lassen hatte. Und mit jedem Schritt, mit dem sie sich vom schwarzen, schmiedeeisernen Tor entfernte und die dicken Mauern des Klosters näher rückten, wuchs ihr Zweifel, ob es Sinn machte, diesen Weg überhaupt einzuschlagen.
Während sie sich von einem Schatten in den nächsten rettete, überkam sie die Angst, die sie so gut kannte.
Hannah blieb stehen, rieb sich das schmerzende Handgelenk und kramte ihr Handy aus der Handtasche. Sie starrte auf den dunklen Bildschirm.
Das Zirpen der Zikaden hörte sich plötzlich wie ein bedrohliches Schreien an und Hannahs Hände begannen derart zu zittern, dass ihr das Handy aus der Hand glitt und zu Boden fiel. Hannah hielt sich beide Ohren zu, ohne den Blick von dem schwarzen Display zu wenden, welches sie vom Boden aus anzustarren schien.
„Wenn wenigstens Tante Rosalia hier wäre“, stöhnte sie und war sich einen Augenblick nicht sicher, ob sie der Versuchung widerstehen konnte, einfach umzukehren und durch das schwarze Eisentor wieder zu verschwinden.
Mutlos ließ sie die Arme sinken, und der ohrenbetäubende Lärm marterte ihr Gehirn mit dem Gesang tausender Insekten, der ihr von Minute zu Minute lauter vorkam.
„Dreh nicht um! Dreh nicht um! Dreh nicht um! Dreh nicht um…“, schienen sie ihr zuzurufen und Hannah bückte sich nach dem Telefon. Sie rief sich das Gesicht ihrer Tante ins Gedächtnis, erinnerte sich an das Versprechen, das sie ihr gegeben hatte, griff nach dem Koffer und setzte ihren Weg durch die Allee fort.
Plötzlich hörte sie hinter sich ein Auto näherkommen. Sie blieb stehen, um zu sehen, wer hier an ihr – vermutlich in einem klimatisierten Auto, dachte sie bitter – vorüberfuhr. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die schweißige Stirn.
Als der schwarze Wagen, der zwischen den Bäumen eine staubige Spur hinterließ, neben Hannah hielt, schien es ihr, als wären die Zikaden plötzlich verstummt.
Hannah war nicht überrascht, als ein Mann in einer schwarzen Kutte umständlich aus der Limousine kletterte. Das rundliche Gesicht des Geistlichen war gerötet und sein spärlicher Haarwuchs klebte an seinem Kopf. Er strich sich den Staub aus dem Talar, lächelte freundlich und streckte Hannah seine Hand entgegen.
„Lei dev´essere Hannah, la nipote di Suora Rosalia, giusto?“, fragte er und sein Bäuchlein wackelte unter dem Talar, während er lachte.
Hannah, deren Leidenschaft die italienische Sprache war, hatte bislang nur bei seltenen Gelegenheiten mit Tante Rosalia ein bisschen Italienisch gesprochen. Doch in den letzten Wochen hatte sie sich gut auf ihren Aufenthalt in diesem süditalienischen Kloster vorbereitet und fleißig gelernt.
Aber nun kam nur ein Einfaches: „Si“ aus ihrem Mund, und sie entzog dem Pater ihre Hand. Ja, sie war die Nichte von Schwester Rosalia.
„Ich kann auch kleines bisschen Deutsch.“ Er lachte abermals und sein Bauch sprang dabei auf und ab.
„Das ist gut.“ Hannah lächelte und freute sich, dass er ihren Koffer ins Auto lud.
„Non é piu lontano. Vado a piedi“, sagte Hannah und zeigte auf den Weg, der leicht aufsteigend zum Monastero, einem Gebäude aus Tuffstein, führte. Es waren wohl weniger als zweihundert Meter. Und von weitem konnte man bereits erkennen, dass der Weg in einen großen Platz mündete. Sie wollte zu Fuß zum Kloster gehen.
Der Pater nickte, stieg in den Wagen und rollte, eine Staubwolke nach sich ziehend, davon.
Während sie dem sich langsam entfernenden Auto folgte, drangen die Töne der Zikaden wieder an ihr Ohr, die nun monoton auf sie einzureden schienen.
„Vai di lá! Vai di lá! Vai di lá…“, hörte sie ihre Befehle.
„Ja, ich geh ja schon!“, rief sie den Tierchen zu und machte sich auf den Weg.
Am Ende der Pinienallee tat sich vor ihr der mit Kies bestreute Platz auf, und als sie die alten, ehrwürdigen Mauern des Klosters sah, regte sich ein Gefühl in ihr, das sie bislang nicht gekannt hatte: War es Sehnsucht? Schmerz? Freude?
Beim Näherkommen bewunderte sie die blühenden Kakteen, welche in Terracotta-Töpfen aufgereiht dem Gemäuer entlang standen, und ihr wurde bewusst, dass es sich lediglich um einen Seitenflügel des Tuffsteingebäudes handelte.
Als sie um das Gebäude herumging, um den Haupteingang zu suchen, zwang sie der Anblick, der sich ihr bot, stehenzubleiben, denn die schlichte Schönheit der Steinmauern mit ihren zahlreichen Erkern und den vielen Fenstern, die von dunklen Fensterläden verborgen waren, faszinierte sie. Das mehrstöckige Gebäude trotzte der prallen Mittagssonne.
Eine breite Steintreppe mit einer Balustrade führte zu einer imposanten, doppelflügeligen Tür aus poliertem Eichenholz.
Als sie an der Treppe oben angekommen war, drehte sie sich um und konnte in der Ferne ein riesiges, schmiedeeisernes Tor erkennen, zu dem ein breiter, mit Zypressen gesäumter Weg führte. Es war viel größer als dasjenige, vor dem sie der Taxifahrer aussteigen ließ.
„Das ist also das Haupttor“, sagte sie zu sich selbst.
Was Hannah aber noch mehr faszinierte als der Anblick des Klosters war der Blick auf das tiefblaue Meer, welches sie von der Treppe aus sehen konnte, und das sich zu Füßen des Felsens schmiegte, auf dem das Kloster erbaut war.
Selbst durch den Lärm, den die Zikaden veranstalteten, konnte sie das Rauschen der Wellen hören, die sich ohne Unterlass an den Klippen brachen, und dies erfüllte sie mit tiefer Zufriedenheit und Freude. Wenigstens für den Augenblick.
Hannah sog die salzige Luft tief in ihre Lungen und erschrak, als ihr jemand von hinten auf die Schulter klopfte. Der Pater wirkte etwas verdutzt, als sie zu ihm herumwirbelte und ihn mit weit aufgerissenen Augen ansah.
„Non volevo spaventarti. Scusa. Entschuldigen Sie die Erschreckung. Ich bin Pater Pio“, sagte er mit einer kleinen Verbeugung und gab Hannah noch einmal die Hand. Sie nahm sie und ärgerte sich, dass er sie beim Anblick des Meeres gestört hatte.
„Bello qui?“, fragte Pater Pio augenzwinkernd und Hannah war sich sicher, dass der Anblick des Klosters und des Meeres später noch genauso schön sein würde.
Er gab ihr ein Zeichen ihm zu folgen und Hannah stieg hinter ihm die restlichen Stufen zum Haupteingang empor, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Pater Pio trug ihren schweren Koffer und Hannah war sehr dankbar dafür.
Nachdem sie die aufwändig gearbeitete Eichentür durchschritten hatten, befanden sie sich in einem riesigen Innenhof mit prachtvollen Bogengängen. Der Anblick der Säulen, hinter denen sich mühelos jemand verstecken konnte, um Hannah heimlich zu beobachten, tauchte sie in ein leichtes Unwohlsein. Ihre Unsicherheit gaukelte ihr vor, einige Klosterbewohner hätten von ihrer Ankunft erfahren und beobachteten neugierig jeden ihrer Schritte. Sie hatte das Gefühl, als würden die blank polierten Fensterscheiben, die man vom Hof aus sehen konnte, auf sie herunterstarren.
Tante Rosalia hatte versprochen, ihr Geheimnis für sich zu behalten. Ob sie sich an diese Abmachung gehalten hatte? Fragten sich die anderen Nonnen und der Pater nicht, weshalb Hannah hier war?
Warum sie hier blieb?
Weshalb sie überhaupt gekommen war?
Wollten sie nicht wissen, was mit ihr nicht stimmte?
Was hatte Tante Rosalia wohl über sie erzählt?
Der Hof war endlich durchquert, die Fenster hörten auf zu starren und feuchte, kühle Luft schlug ihr entgegen, als sie die Gemäuer wieder betraten und unmittelbar rechts in einen finsteren Gang abbogen.
Hannahs Augen brauchten eine Weile, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen.
„Herzlich willkommen, liebe Hannah!“
Zuerst war die Stimme da, dann nahmen ihre Augen auch eine Gestalt in einer schwarzen Kutte und einer blütenweißen Kopfbedeckung wahr, die mit ausgestreckter Hand auf sie zueilte.
Hannah erwiderte das Lächeln, das von einem schmalen Gesicht mit stechend blauen Augen ausging, welches dieser Suora, dieser Schwester gehörte, die etwa siebzig Jahre alt sein musste.
Die Bluse klebte unangenehm an Hannahs Rücken, als sie den Arm nach vorne streckte, um die Hand der Suora zu schütteln. In den Augen der Frau, die von zahlreichen Fältchen umgeben waren, bemerkte Hannah ein schelmisches Blitzen, obwohl sich auf ihrer Stirn tiefe Sorgenfalten gebildet hatten.
„Ich bin Suora Maria, Schwester Maria. Ich bin die Oberin. Es tut mir leid, dass Rosalia noch immer gefangen ist in Rom, wegen schrecklicher Bauchgrippe. Vielleicht übermorgen sie kann kommen hierher.“
Hannah erschrak bei diesen Worten.
War das die Erklärung für die Sorgenfalten?
„Was mache ich nur hier?“, fragte sie sich und wünschte sich weit weg von diesem Ort.
„Pater Pio wird zeigen Ihnen das Zimmer. Pio, fa la vedere la sua stanza. Wir werden uns beim Abendessen sehen. Um achtzehn Uhr. Grazie.“ Sie nickte freundlich und wandte sich ab, um in dem dunklen Gang hinter einer Glastüre zu verschwinden.
Pater Pio hob ächzend das schwere Gepäcksstück auf, wischte sich mit der freien Hand über die Stirn und deutete Hannah, ihm zu folgen.
„Lei sa tacere? Sie können schweigen?“, fragte er, halb zu ihr umgewandt, während er den langen Gang in die entgegengesetzte Richtung als Oberschwester Maria eingeschlagen hatte.
„Das Schweigegelübde!“, schoss es Hannah durch den Kopf. Sie erinnerte sich daran, dass es ihre Tante zwar kurz erwähnt, dem sie aber keine Bedeutung zugemessen hatte. Sollte das auch für sie gelten?
Der Steinboden, auf dem sie den Gang entlanggingen, spendete ihren Füßen etwas Kühle und sie spürte die angenehme Luft, die in diesem Teil des Klosters durch die Fensterbögen kam, welche nur spärliches Licht hereinfließen ließen.
Eine Antwort auf die letzte Frage blieb sie dem Pater schuldig, der nicht noch einmal fragte und bestimmt dachte, sie hätte ihn nicht richtig verstanden.
Er bog noch zweimal um eine Ecke, ehe er eine schwere Eichentür öffnete, hinter der eine schmale Treppe nach oben führte.
Hannah wunderte sich, dass die Gänge nicht mit Heiligenbildern geschmückt waren, sondern nur ihre bloßen Steinwände zeigten. Am Ende der Treppe hing ein mannshohes, schlichtes Holzkreuz. Von hier führte ein Gang in den rechten und einer in den linken Flügel. Die Luft in diesem Teil des Treppenhauses war etwas wärmer, wenn auch immer noch angenehm kühl. Der Pater folgte dem Gang nach rechts, der mit einem grauen Teppichläufer ausgelegt war, welcher fast keinen Kontrast zum Steinboden bildete.
Hier war eine Tür neben der anderen und die Vermutung lag nah, dass sich in diesem Korridor die Schlafzellen der Nonnen befanden. Und so war es auch.
Vor der Tür Nummer sechs hielt Pater Pio an und stellte den Koffer ab.
„Questa é la Sua camera, Signorina.“
Schmunzelnd öffnete er die Tür, um sie eintreten zu lassen. Hannah betrat zögernd das kleine Zimmer.
Ein Bett, ein Kasten, ein Tisch, ein Stuhl, ein Bild.
Das winzige Fenster war von einem Fensterladen fast zur Gänze verdeckt und ließ nur wenig Licht herein, welches sich als gebündelter Sonnenstrahl, auf dem mit glasierten Ziegeln ausgelegten Fußboden zeigte.
Hannah stürzte zum Fenster und stieß die Fensterläden auf, um hinaussehen zu können.
„Viene dentro il caldo, Signorina“, schickte sich der Pater an, ihr zu erklären.
Sollte doch die Wärme in diesen Raum strömen, dachte Hannah trotzig, die sich vorstellte, dass schon viele Seelen in solchen trostlosen Räumen erfroren waren.
Der Pater trat einen Schritt zurück und räusperte sich, als er Hannahs Blick begegnete.
„Dov´è il bagno?“, fragte sie den Tränen nahe und wünschte sich, er würde endlich verschwinden, damit sie ihren Tränen freien Lauf lassen konnte. Zuerst wollte sie nur noch wissen, wo sich das Bad befand, nachdem keines im Zimmer war.
„Questa direzione, Signorina.“
Er machte eine Handbewegung und neigte den Kopf, während er sich aus dem Zimmer zurückzog.
„Ich komme Sie um fünf vor sechs Uhr für das Abendessen abholen“, meinte er noch, und Hannah war froh, dass sie, ohne viel Nachzudenken, das Italienische gut verstand. Sie war erleichtert, als die Tür hinter dem Pater ins Schloss fiel.
Die Sonne strahlte durch das kleine Fenster und Hannah näherte sich, um den Kopf hinauszustrecken. Sofort wurde ihr klar, warum die Fensterläden geschlossen bleiben sollten, denn sie hatte das Gefühl als würde sie ihren Kopf in einen Backofen stecken.
Doch die Neugierde besiegte die stechende Hitze und der Anblick, der sich ihr bot, raubte ihr beinahe den Atem. Das Geräusch der Wellen, die an die Felsen brandeten, geballt mit dem Blick auf die glitzernde Oberfläche des Meeres, welches hinter ein paar uralten Pinien zum Vorschein kam, war das Schönste, was sie je in ihrem Leben gesehen hatte.
Dieser Flügel des Klosters, in dem sie untergebracht war, stand dem Wasser am nächsten und als sie sich etwas aus dem Fenster beugte und nach links die Klostermauer entlang sah, erkannte sie in der Ferne die lange Auffahrt wieder, die sie vor etwa einer halben Stunde beschritten hatte.
Hannah wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Meer zu und war fasziniert von dem Lied der Wellen. In der Ferne gaben ein paar Möwen ihre Soli zum Besten und die Zikaden sorgten für die Begleitmusik, die immer lauter wurde, je mehr sie sich darauf konzentrierte und schließlich das Geräusch des Brechens der Wellen wieder in den Hintergrund rückte.
Ein leichtes Brennen in der Speiseröhre erinnerte sie plötzlich daran, dass sie weinen wollte, aber sie konnte sich von dem Anblick des Meeres nicht losreißen und ärgerte sich darüber, dass es ihr nicht gelingen wollte, einfach loszuheulen.
Ein zarter Junge
Herbert Kaiser, von gedrungenem Körperbau und mit blassblauen Augen, ging keuchend die Treppe zu seiner Wohnung empor. Dritter Stock, kein Lift. Deshalb war sie auch günstig.
Es ärgerte ihn, dass er mit sechsunddreißig Jahren nicht fitter war. Der Alkohol hatte überdies seine Beine in bleierne Klumpen verwandelt, über die er fast keine Kontrolle mehr zu haben schien, und in seinem Mund hatte sich ekelhaft schmeckender Speichel angesammelt.
Er übergab sich in eine Ecke des Treppenhauses und war sich bewusst, dass es nicht rechtens war, seinen „innersten Schmutz“ in das Gebäude zu entleeren, in dem er mit fünfzehn Nachbarn friedlich zusammenleben sollte.
„Sollen sie doch sauer auf mich sein!“, sagte er sich und lallte ein: „Gutn Morgn! Mach das weg, wenn isch wieda richtig schtehn kann“, zu seiner Nachbarin auf der rechten Seite, die gerade im Begriff war, ihre Wohnung zu verlassen.
Ihren vernichtenden Blick ignorierend, zog er einen Schlüsselbund hervor und fand nach einigen Versuchen das Schlüsselloch seiner Eingangstür.
Die Nachbarin war froh, als er in seiner Wohnung verschwunden war und umging, von Ekel gepeinigt, den stinkenden Brei, den Herbert am Fliesenboden hinterlassen hatte, wobei sie: „Jetzt reicht es aber bald!“, zischte.
Herbert ließ sich angekleidet auf sein Bett fallen, kramte sein Handy umständlich aus der Hosentasche hervor, gab dreimal den falschen Code ein, fluchte, warf es zu Boden und fiel in einen tiefen, einsamen Schlaf.
Gegen zehn Uhr weckte ihn ein dauerhafter, unangenehmer Ton, der sich in sein Gehirn fraß und ihn schließlich dazu zwang nachzudenken, woher dieses schreckliche Geräusch kommen könnte. Dazu setzte er sich auf und war erleichtert, dass er sich in seinem Schlafzimmer befand.
Der fürchterliche Ton setzte kurz aus, bevor er sich erneut mit aller Vehemenz fortsetzte.
Herbert hielt sich die Ohren zu, bis ihm schlagartig bewusst wurde, woher dieses Geräusch kam: Die Türglocke!
Herbert drehte den Wecker zu sich, um zu sehen, wie spät es war.
„Oh Gott, oh Gott, oh Gott!“, rief er und sprang aus dem Bett. Er taumelte kurz, strich die Hose glatt, stopfte sein Hemd in den Hosenbund und lief in den Flur.
Schwer atmend, von schlechtem Gewissen geplagt und mit einem Kopf, der vor Schmerz jeden Augenblick zu zerbersten drohte, öffnete er die Tür.
Dem Gesichtsausdruck seiner Frau Judith, von der er seit einigen Monaten getrennt lebte, und die einen kleinen Jungen an der Hand hielt, der ihn ängstlich ansah, war nichts hinzuzufügen.
„Einmal noch und du siehst ihn nie wieder!“, zischte sie, schob den schmächtigen Jungen an den Schultern zu ihm in die Tür, gab dem Kind einen flüchtigen Kuss auf den Scheitel und drehte sich auf dem Absatz um. Ohne sich noch einmal umzublicken, stürmte sie die Treppe hinunter, als wäre sie vor etwas auf der Flucht.
Herbert stand dem Jungen schweigend in der Tür gegenüber. Er hasste diese Unsicherheit, die ihn jedes Mal überfiel, sobald er mit seinem Sohn allein war. Weshalb hatte Judith kein Verständnis für ihn und seine Probleme?
Tristan sah an ihm vorbei in die Wohnung und schien sich als erster wieder zu fangen.
„Sollen wir nicht hineingehen, Papa?“, piepste er.
„Natürlich.“ Herbert räusperte sich und ließ ihn vor sich eintreten. Hinter sich schloss er sachte die Tür.
Erneut räusperte er sich, als sich Tristan in der Küche auf einen der beiden Hocker setzte, wo sie normalerweise das Essen zu sich nahmen.
Herbert schien zu verstehen.
„Frühstück?“
„Ja, bitte“, sagte Tristan höflich, schlang die Hände ineinander und ließ die Beine baumeln.
Herbert war froh, dass ihm Tristan eine Aufgabe zugeteilt hatte. Geschäftig machte er sich daran, den Kühlschrank nach etwas Essbarem zu durchsuchen.
„Du magst doch Marmelade, nicht?“, fragte er und hoffte, die von ihm erwartete Antwort zu bekommen, weil sich sonst nicht viel im Kühlschrank befand.
„Am besten ist Mamas Marmelade. Hast du welche?“ Tristan sah ihn hoffnungsvoll an und wirkte beinahe fröhlich. Herbert wollte seine gute Laune nicht zerstören, hatte aber keine Wahl.
„Nein, leider nicht. Aber die hier ist auch gut“, sagte er und hob ein Marmeladenglas in die Höhe.
Tristan nickte trist und Herbert fand, dass dieser Name wie „die Faust aufs Auge“ zu seinem Jungen passte. Es war eine Tatsache. Fand er. Tristan wirkte trist.
Oft. Sehr oft. Zu oft!
„Was magst du denn nach dem Frühstück machen?“, fragte er ihn zu laut, zu freundlich, zu übertrieben – aber nur, um Tristan aufzuheitern.
„Ich weiß nicht“, murmelte der Junge und wandte seinen traurigen Blick nicht von der Tischplatte. Herbert drehte sich weg, um den Blickkontakt mit Tristan zu vermeiden.
„Kakao?“
„Ja, bitte.“
„Zucker?“
„Nein, danke.“
Im Kühlschrank fand Herbert noch ein Stückchen Butter und servierte Tristan schließlich eine frisch geröstete Toastscheibe. Die Butter und die Marmelade stellte er vor ihn hin.
Nachdem er etwas Milch in einen Topf gegossen und auf den Herd gestellt hatte, warf er einen Blick auf den zarten Jungen, der umständlich die gelbe Butter auf dem Toast verstrich.
Vor knapp einem Jahr war er aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen. Tristans sechsten Geburtstag hatten sie noch gemeinsam gefeiert. Mit Tristans Freundinnen. Alle hatten sie Puppen mitgebracht. Und bunte Ponys mit glitzernden Mähnen.
Herbert stürzte einen halben Liter Wasser in einem Zug seine Kehle hinunter. Bunte Ponys!
Eines dieser dämlichen Viecher hatte nun Tristan in seinem Bett liegen. Wahrscheinlich war es nun im Rucksack, der neben Tristans Schuhen im Vorzimmer stand.
Tristan strich sich eine blonde Locke aus der Stirn. Ganz sorgfältig, fast zärtlich, während er mit der anderen Hand das Messer krampfhaft führte, das den harten, gelben Klumpen Butter auf dem Toast hin- und herschob. Als das nicht funktionierte, nahm er wieder beide Hände, um die Butter zu verstreichen.
Dabei war sein Gesicht ausdruckslos. Er zeigte keinerlei Emotionen, die darauf hinwiesen, dass er ärgerlich über die Butter war, die von einer Seite des Toastes zur anderen wanderte, ohne sich ordentlich verteilen zu lassen.
Er war schön. Sofern man bei einem Sechsjährigen von Schönheit sprechen konnte. Aber ja! Sein Sohn war schön, außergewöhnlich schön.
Sein weicher Mund, die kleine Nase mit den feinen Sommersprossen und die schön geschwungenen Augenbrauen, welche die tiefblauen Augen mit den langen dunklen Wimpern umrandeten. Die dichten, blonden Locken fielen ihm immer wieder in die Stirn.
Aber die Art und Weise, mit der Tristan die Haare aus dem Gesicht strich, verwirrte Herbert.
Und das Pony. Und die Puppen!
Was war falsch mit seinem Jungen?
Mit Judith konnte er nicht darüber sprechen.
Aber mit…? Wie hieß sie doch gleich?
Herbert wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Er musste sie wiedersehen.
Was hätte er in diesem Moment für ein Glas Vodka gegeben? Schlagartig fiel ihm das Erbrochene im Treppenhaus ein. Um diese Uhrzeit hatten es bestimmt schon alle Nachbarn gesehen, und vermutlich war es nicht schwer zu erraten, wer der Missetäter war.
Ein Schamgefühl flackerte in ihm auf.
Herbert griff zum Wasserglas, um es erneut zu füllen und den bitteren Geschmack in seinem Mund loszuwerden.
„Papa! Die Milch!“, rief Tristan und zeigte auf den Herd. Zischend und sprudelnd lief die heiße Milch über den Rand des Topfes auf das Ceranfeld, wo die weiße Flüssigkeit Blasen schlagend seine Farbe in braun verwandelte.
Herbert unterdrückte ein Fluchen und rückte den Topf von der heißen Herdplatte, während weiter unaufhaltsam weiße „Blubbermilch“ über den Rand des Topfes lief.
Als sich der Schaum endlich gelegt hatte, goss er die heiße Milch durch ein Sieb in eine Tasse und gab kalte Milch dazu, um den Kakao trinkbar zu machen.
Tristan schob ein Stück Marmeladentoast in den Mund.
Die Butter war etwas unregelmäßig verteilt, aber immerhin! Er wirkte, als wäre er stolz auf seine Leistung.
Herberts Gedanken wanderten zurück zu Hannah.
Das Verbot
Hannah spazierte gedankenverloren durch den Park. Sie strich mit der Hand über den Rosmarin, der hier im Süden eine hüfthohe Hecke bildete, während sie Rosmarin zuhause nur als kleine Topfpflanze kannte, oder als getrocknetes Gewürz im Supermarkt erwarb.
Hier lebte, duftete und atmete alles nach Rosmarin, und eine laue Brise trug den Geruch der Hecken in ihre Lungen. Ihre Nase nahm alle Düfte in nie dagewesener Weise in sich auf und speicherte das beruhigende Gefühl dieser Entdeckung.
Aber da gab es noch andere Gerüche, wie warme, trockene Erde, die mit Piniennadeln und -zapfen bedeckt war, und die ebenfalls einen atemberaubenden Duft verströmte. Dazu gesellte sich ein salziges Lüftchen, das vom Meer zu ihr wehte und mit ihren braunen Locken spielte.
Hannah blieb stehen und bückte sich nach einem der herumliegenden Pinienzapfen, den sie an ihre Nase führte und den harzigen Geruch in sich aufnahm. Den Zapfen weiter an die Nase haltend setzte sie ihren Weg durch den Park fort und kam am Ende der Pinienallee wieder zur Klostermauer, an welcher sie entlangschlenderte.
Es waren etwa hundert Schritte bis zum Ende des Gebäudes. Dort angekommen spähte sie um die Ecke.
Der Garten rund um das Kloster war voller Überraschungen. Nicht nur die Vielfalt der Pflanzen war beeindruckend, sondern auch die Art und Weise wie die Hecken und Sträucher geschnitten waren. Auch stieß sie bei ihrem Spaziergang auf eine Reihe von alten Gräbern, auf deren Grabsteinen Inschriften bis ins 16. Jahrhundert zurückreichten.
Sehr angetan war sie von einem Pavillon, der im hintersten Teil des Pinienwaldes stand. Von weitem hatte Hannah eine Kapelle erwartet, doch das Gebäude aus Holz, welches sehr verwahrlost wirkte, war keine heilige Stätte. Es sah eher aus wie ein kleines Lusthaus.
Hinter der Mauer, hinter der sie nun hervorlugte, tat sich zwischen den beiden Hauptgebäuden ein großer Gemüsegarten auf. An der vorderen Seite des Gartens, dem Kloster zugewandt, fanden sich einige Glashäuser, in denen sich mannshohe Tomatenstauden rankten.
Die Seitenteile der Glaskonstruktionen waren zur Seite geschoben und die Dächer aufgespreizt.
„Um diese Jahreszeit gedeiht das Gemüse auch ohne Schutz vor Wind und Wetter“, dachte Hannah, „aber vermutlich gibt es hier das ganze Jahr über frisches Gemüse und Tomaten mögen bekanntlich keinen Regen.“
Hannah ließ ihren Blick über die Beete rund um die Glashäuser schweifen und näherte sich zwei Klosterfrauen, die mit ihren langen, schwarzen Kutten zwischen den Pflanzen hockten und Unkraut jäteten.
Als sie die Nonnen erreicht hatte, richtete sich die größere der beiden auf und lächelte Hannah an, die mit „Buon giorno“ auf das Lächeln reagierte, nicht wissend, ob man um diese Zeit nicht schon „Buona sera“ sagen musste.
Ohne ihr auch einen guten Tag zu wünschen, beugte sich die Suora wieder nach vorne und setzte ihre Arbeit fort. Von der zweiten Frau bekam sie nur ein Kopfnicken. Hannah fühlte sich angesichts der mageren Begrüßung durch die beiden Nonnen nicht wohl und verließ, obwohl sie sich den Garten gerne noch näher angesehen hätte, die Gemüsebeete, ohne einen weiteren Blick auf die beiden Frauen zu werfen, die sich ohnehin nicht stören ließen.
Eilig ging sie wieder in Richtung Allee und stieß, als sie um die Ecke bog, beinahe mit Pater Pio zusammen, der herzhaft zu lachen begann, als er Hannahs Gesichtsausdruck sah.
„Ah! Ecco la Signorina! Da sind Sie ja! Schwester Oberin, also Schwester Maria, möchte Sie sprechen“, sagte er und zeigte seine strahlend weißen Zähne, die er sich auch noch mit Ende Sechzig erhalten hatte.
Mit Pater Pio hatte sie bereits beim Frühstück im Speisesaal, der mit Holzvertäfelungen ausgestattet war und sie durch seine Höhe und die gotischen Fenster sehr beeindruckte, ein paar Sätze italienisch gesprochen. Hannah freute sich, dass sich durch den Aufenthalt in Italien wenigstens ihre Italienischkenntnisse verbessern würden, wenn sie sich auch sonst nicht viel von ihrer Anwesenheit im Kloster versprach.
Hannah nickte und folgte dem Pater über den Haupteingang in die „heiligen Gemächer“ der Oberschwester, die sich von ihrem Stuhl erhob, als Pater Pio von Hannah gefolgt, den Raum betrat.
Auch diese Räume bestanden hauptsächlich aus Stein: Steinwände, Steinboden und eine Holzdecke. An der Wand hinter der Oberschwester, die hinter einem riesigen, dunklen Holzschreibtisch stand, hingen ein paar Heiligenbilder und ein Portrait des amtierenden Papstes.
Die Fensterläden waren, wie überall im Haus, fest verschlossen, um die Hitze der italienischen Sommersonne auszusperren, was angesichts der dumpfen Kühle in den alten Gemäuern, gut zu gelingen schien.
Von draußen drang das Zirpen der Zikaden bis in das Büro der Oberin, die ihre Lesebrille von der Nase nahm und Pater Pio aufforderte, sie mit Hannah allein zu lassen.
Pater Pio neigte das Haupt und verließ augenblicklich das Büro.
Oberschwester Maria deutete auf den hölzernen Stuhl, der dem Schreibtisch gegenüberstand und Hannah setzte sich ohne ein Wort.
Die Oberin seufzte, lächelte vage, und ohne Hannah aus den Augen lassend, nahm sie auch wieder Platz. Hannahs Hände begannen zu schwitzen. Sie wischte die Handflächen in ihrer Hose ab.
„Haben Sie sich schon bei uns eingewöhnt, Hannah?“ Hannah gab dem Drang nicht nach, den Kopf zu schütteln, sondern nickte und beobachtete eine Fliege, die sich frech auf die fleckige, alte Hand der Oberschwester setzte und sich mit den Hinterbeinen die Flügel putzte.
„Pater Pio hat mir erzählt, dass Sie sich im Park etwas umgesehen haben.“
Ihre Stimme klang ernst, und ihr Lächeln war einem harten Gesichtsausdruck gewichen, als sie fortsetzte:
„Wir gehen nicht zum Pavillon im Pinienwald.“
Hannah brauchte eine Weile, bis sie den Sinn des Satzes verstanden hatte und fragte sich, ob mit „wir“ alle gemeint waren, die im Kloster wohnten.
Nachdem der mit Nachdruck gesagte Satz noch immer zwischen ihnen nachzuhallen schien, und sich Schwester Maria nicht anschickte eine Erklärung abzugeben, beschloss Hannah nachzufragen.
„Warum gehen Sie nicht zum Pavillon? Er ist hübsch.“
Das Kompliment prallte augenblicklich an den dunkelblauen Augen ab, die noch dunkler zu werden schienen, und mit hochgezogenen Augenbrauen und einem Ton, der keine Widerrede duldete, meinte sie:
„Non ci andiamo. Nessuno, capito? Ich sagte, wir ALLE gehen nicht zum Pavillon. Das gilt auch für unsere Gäste. Verstanden?“
Die Fliege entging nur knapp dem Tod.
Ihre Hand klatschte ohne Erfolg auf den Handrücken. Hannah zuckte zusammen.
Suora Maria vertraute anscheinend darauf, dass Hannah ihre Weisung verstanden hatte, räusperte sich, griff nach einem Brief, der vor ihr auf dem Schreibtisch lag und setzte mit etwas freundlicherer Stimme fort: „Schwester Rosalia, ihre Tante, hat mich gebeten, Ihnen mitzuteilen, dass sie morgen Abend mit der Fähre auf der Insel ankommen wird. Sie können sie mit Pater Pio gegen neunzehn Uhr abholen. Ihr Gesundheitszustand hat sich so weit gebessert, dass sie die Strapazen der Reise auf sich nehmen kann.“
„Oh, das ist schön“, sagte Hannah und war sich sicher, dass die Oberschwester an ihrem Ton erkennen konnte, dass sie ohne Tante Rosalia keinen Tag länger hiergeblieben wäre.
Schwester Maria setzte ihre Lesebrille wieder auf die Nase und sah Hannah über den Brillenrand hinweg an.
Die Zikaden zirpten lauter.
In der Ferne schlug ein Fensterladen im Takt gegen die Mauer.
„Ich werde Ihnen unsere Klosterregeln noch erläutern. Auch für Gäste gibt es Regeln, an die sie sich zu halten haben. Störungen dulden wir hier nicht.“
Die Oberin räusperte sich und Hannah, die im Grunde nicht vorhatte, irgendwelche Regeln zu brechen, kam sich bei diesen Worten vor wie ein kleines Kind. Sie dachte an ihre Schulzeit und ein Schauer lief über ihren Rücken.
Nur weil sie sich den Pavillon näher angesehen hatte, war sie doch noch lange kein Störenfried.
„Um fünf Uhr werden Sie geweckt. Fünf Uhr dreißig ist Morgengebet. Anschließend gibt es Frühstück. Danach können Sie entweder im Klostergarten helfen oder getrocknete Kräuter bündeln. Vor dem Mittagessen gibt es ein zweites Gebet in der Kapelle und nachmittags können Sie machen, was Sie wollen.“
Die Oberin holte Luft, dann sprach sie weiter.
„In den Ort können Sie über einen Pfad zu Fuß gehen oder mit dem Rad die Straße entlangfahren. Pater Pio wird Ihnen auf Wunsch ein Rad zur Verfügung stellen. Zum Abendgebet um achtzehn Uhr sind Sie wieder zurück. Dem Nachtgebet vor dem Schlafengehen können Sie meinetwegen fernbleiben.“
Hannah konnte keine Emotionen in ihren Augen erkennen. Diese informative Stimme hätte auch aus einem Lautsprecher am Bahnhof kommen können.
Hannah nickte.
„Tante Rosalia erzählte mir, dass es hier auch Tiere gibt. Ich liebe Tiere. Kann ich beim Füttern helfen?“, wagte Hannah zu fragen. Die Oberschwester hob die Augenbrauen und sah Hannah prüfend an.
„Sie haben Erfahrung mit Tieren?“
„Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen. Ich mag sie mehr als die Menschen“, rutschte ihr heraus und sie bereute sofort, dass sie das gesagt hatte.
„Soso. Ich werde mit dem Stallmeister sprechen. Er füttert und schlachtet die Tiere. Wir werden sehen, ob sie ihm dabei helfen können.“
Hannah schluckte, als das Wort „Schlachten“ ihr Gehirn erreicht hatte und dort augenblicklich ein Bild vor ihren Augen entstehen ließ.
„Sie schlachten die Tiere selbst?“, fragte sie erschrocken. „Natürlich. Unsere Tiere haben hier ein schönes Leben“, sagte sie und wandte sich dem Schriftstück zu, das vor ihr lag.
„Sie essen doch auch Fleisch, oder? Vero?“
Nun blickte sie wieder auf und sah Hannah herausfordernd an. Hannah nickte und ballte ihre Hände auf dem Schoß.
„Na eben, dann schlachten Sie von nun an ihr Essen selbst“.
Hannah war sich sicher, dass sie ein provokantes Aufblitzen in den Augen der Oberschwester erkennen konnte. Hannah konnte sie nicht ausstehen, was auf Gegenseitigkeit zu beruhen schien.
Hannah beschloss, nichts mehr zu diesem Thema zu sagen. Darüber musste sie mit Tante Rosalia sprechen.
Mit Sicherheit würde sie kein Tier schlachten!
Niemand auf der Welt konnte das von ihr verlangen!
Sie wollte weg und rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Sie wollte von diesem Stuhl, aus diesem Raum, aus diesem Kloster und weg von der Insel.
Es war eine Schnapsidee gewesen, hierher zu kommen!
„Meinetwegen versäumen Sie morgen das Abendgebet, wenn Sie Schwester Rosalia mit Pater Pio abholen, aber heute Abend und morgen Früh sehe ich Sie in der Kirche. Haben Sie noch eine Frage?“
Die Oberin verzog ihren Mund zu einem gezwungenen Lächeln. Hannah fühlte sich elend, während sie den Kopf schüttelte.
„Danke, das war alles. Buona Sera“, meinte die Oberin, während sie sich erhob. Hannah tat es ihr gleich und verließ fluchtartig den Raum.
Die Lust auf einen weiteren Spaziergang war ihr zunächst vergangen, und sie stieg die Stufen zu ihrer Zelle empor, wobei sie ihre Schritte immer mehr beschleunigte, bis sie letztendlich hinauflief, die Tür aufriss, hindurchschlüpfte und ihr einen Stoß gab, dass die alte Holztür krachend ins Schloss fiel.
Weinend ließ sie sich auf das harte Bett fallen.
Wie sollte sie ein Jahr in diesem Gefängnis überstehen? Immer wieder schüttelte sie ihr Schluchzen und nur langsam beruhigte sie sich, indem sie mit ihren Fingerspitzen leicht auf ihre Thymusdrüse klopfte, die sich unter dem Brustbein befindet. In ihrer Verzweiflung, und allein in dieser finsteren Zelle erinnerte sie sich an den Rat einer Freundin diese Methode anzuwenden und war erstaunt, als sich ihr Schluchzen, schneller als erwartet, in ein leises Weinen verwandelte und schließlich verstummte.
Sie rappelte sich auf und blieb am Bettrand sitzen.
Von einem plötzlichen Drang erfüllt, den kühlen Steinboden auf ihren nackten Fußsohlen zu spüren, beugte sie sich hinab, um die Schuhbänder zu lösen und schlüpfte aus den Sneakers. Sie riss die Socken von den Füßen und setzte ihre Fußsohlen flach auf den Boden. Mit den Händen stützte sie sich an der Bettkante ab und konzentrierte sich auf das angenehme Gefühl auf ihren nackten Füßen. Der Stein fühlte sich wie Samt an und ihr Atem floss von Sekunde zu Sekunde ruhiger.
Die Zikaden hatte sie inzwischen vergessen, doch als nun Ruhe in sie einkehrte, schwoll der Lärm, den die kleinen Tiere machten, wieder an. Hannah spitzte die Ohren, um möglichst viel von dem Zirpen in sich einzusaugen.
Der Pavillon!
Warum sollte man nicht zu einem Gebäude gehen?
War der Pavillon verflucht?
Aber Klosterschwestern glaubten doch nicht etwa an einen Fluch oder Ähnliches?
motorino
Das Knattern des Zweitaktmotors verlangte ihre ganze Aufmerksamkeit und sie beugte sich weiter aus dem kleinen Fenster, was sie dazu zwang, sich auf die Zehenspitzen zu stellen.
Aus der Pinienallee löste sich das Bild des Motorrades, auf dem mit wehendem Talar ein Geistlicher saß.
Obwohl er keinen Helm trug, konnte sie sein Gesicht nicht erkennen, und er verschwand aus ihrem Blickfeld, während er vor dem Haupteingang zu halten schien. Das Motorengeräusch verstummte.
Stattdessen vernahm sie schnelle Schritte auf dem Kies, die schließlich auch nicht mehr zu hören waren. Nur das Zirpen und das Geräusch der Wellen blieben in der Luft.
Hannah ließ die Fensterflügel offen und ging zum Bett, um sich wieder darauf niederzulassen.
Sie musste nachdenken.
Die erste Nacht hatte sie wider Erwarten gut geschlafen.
Sie hatte damit gerechnet, dass die alten Steinmauern Beklemmung in ihr hervorrufen, und ihr Albträume bescheren würden.
Aber ihre Befürchtungen ertranken im nahen Meer.
Die Meeresluft und die vielen Eindrücke, die ihr am Vortag die Sinne vernebelten, ließen sie in einen traumlosen, tiefen Schlaf sinken.
Sie hatte Sehnsucht nach dem Meer, wollte die Klippen hinunterklettern und ihre Füße im Wasser versenken, hatte sich aber noch nicht zu fragen getraut, wo der Pfad begann, der zum Meer hinabführte.
Sie erinnerte sich wieder an die wenigen, aber klaren Klosterregeln. Und vor allem an eine:
„Kein Pavillon“
Dafür gab es freie Zeitgestaltung nachmittags bis zum Abendgebet. Vielleicht würde es nach Tante Rosalias Ankunft Sonderregeln für sie geben.
Außerdem hatte sie nicht damit gerechnet, dass sie jeden Tag arbeiten musste.
Tante Rosalia würde das schon aufklären.
Ob sie es ein halbes Jahr hier aushalten würde?
Oder gar ein Jahr?
Hannah stand auf und sah zum Fenster hinaus. Die frische Morgenluft schlug ihr angenehm kühl ins Gesicht. Über Nacht waren ein paar Wolken aufgezogen und der Himmel hatte seine Farbe gewechselt. Das Meer schien noch dunkler als am Vortag.
Sie schlüpfte aus dem Nachthemd und zog eine Jeans an, die ihr für das Morgengebet in der Kapelle angemessen erschien.
Über das T-Shirt zog sie ein Jäckchen an, da sie am Abend in der Kirche gefroren hatte. In den dicken Steinmauern der Kapelle war es sehr kühl.
Ihr Magen knurrte und sie stieg die Treppe hinunter, um sich in der noch leeren Kirche in die hinterste Holzbank zu setzen.