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16., überarbeitete Auflage 2022
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-037355-6
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pdf: ISBN 978-3-17-037356-3
epub: ISBN 978-3-17-037357-0
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Economics is what economists do.
Jacob Viner*
Volkswirtschaftslehre erscheint vielen als ein Buch mit sieben Siegeln oder wie es Kurt Tucholsky ausdrückt als so etwas Ähnliches wie die »Metaphysik des Pokerspielers«. Hierfür verantwortlich sind zum einen der hohe Abstraktionsgrad der Volkswirtschaftslehre und zum anderen die oftmals komplexen Zusammenhänge der ökonomischen Wirklichkeit, die erklärt werden soll. Mit dem vorliegenden Lehrbuch möchten wir einen niedrigschwelligen Einstieg in die Welt der Ökonomie ermöglichen. Dabei vermeiden wir weitgehend mathematische Darstellungen und erklären stattdessen die Zusammenhänge vorwiegend verbal und mit der Hilfe von Grafiken. Das Buch setzt – außer einem gewissen Wissenshunger – nichts voraus und ist für Leserinnen und Leser geschrieben, die sich mit der wirtschaftswissenschaftlichen Denkweise erst vertraut machen wollen.
Unser Ziel ist es, die Leserin und den Leser in die grundlegenden volkswirtschaftlichen Zusammenhänge einzuführen und Schritt für Schritt dabei zu begleiten, die Welt der Ökonomie zu verstehen. Gleichzeitig macht der Text mit wichtigen wirtschaftlichen Fragestellungen insbesondere für Deutschland und Europa vertraut. Es geht also auch um die Illustration der oftmals eher theoretischen und analytischen Denkansätze anhand von konkreten und relevanten Problemen unserer Zeit. Wir richten uns an wirtschaftswissenschaftliche Studentinnen und Studenten in ihren Anfangssemestern und an Studierende benachbarter Disziplinen. Darüber hinaus sind aber auch alle anderen Leserinnen und Leser – ungeachtet ihres fachlichen Hintergrundes – eingeladen, sich mit diesem Buch einen Überblick über volkswirtschaftliche Grundlagen zu verschaffen und einen Eindruck davon zu erhalten, wie eng verknüpft viele aktuelle Debatten in Gesellschaft und Politik mit den Wirtschaftswissenschaften sind.
Diese Einführung deckt die Grundfragen der Volkswirtschaftslehre ab. Der erste Teil beschäftigt sich mit den einzelnen Entscheidungseinheiten wie den Haushalten und Unternehmen (Kapitel 2 bis 7 sowie 11 und 12). Haushalte entscheiden in einer Marktwirtschaft über die von ihnen nachgefragten Gütermengen und die von ihnen angebotenen Mengen an Arbeitsleistung und Kapital, zwei sehr wichtigen Produktionsfaktoren. Die Unternehmen entscheiden ihrerseits über die Produktionsmengen und damit auch über die Menge der von ihnen nachgefragten Produktionsfaktoren. Wie kommt es, dass letztlich diese autonomen Entscheidungen so zahlreicher Wirtschaftssubjekte nicht im Chaos enden? Wie steuern Preise und Märkte die Entscheidungen der Nachfrage- und Angebotsseite? Da bei diesen Fragen das Verhalten einzelner Entscheidungseinheiten im Vordergrund steht, sprechen wir von der Mikrowelt der wirtschaftlichen Wirklichkeit (Mikroökonomie).
Die Analyse der gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge wird dann im zweiten Teil des Buches behandelt (Kapitel 13 bis 19). Dabei geht es in Kapitel 13 zunächst um die wechselseitigen Abhängigkeiten verschiedener Märkte aus gesamtwirtschaftlicher Sicht, bevor dann der Blick auf gesamtwirtschaftliche Aggregate, wie Beschäftigung, Preisniveaus, Konjunktur und wirtschaftliches Wachstum gelenkt wird (Makroökonomie). Vor dem Übergang von der einzelwirtschaftlichen zur gesamtwirtschaftlichen Sichtweise beschäftigen wir uns in den Kapiteln 8 bis 10 mit den Grenzen freier Märkte und begründen die Rolle des Staates in einer sozialen Marktwirtschaft. Hierbei stehen mögliche Gründe und Konsequenzen eines »Marktversagens« im Fokus, die der Staat durch geeignete Instrumente korrigieren sollte, wie z. B. in der Umweltpolitik. Schließlich liefert dieses Buch auch einen Einblick in die wichtigsten Zusammenhänge offener Volkswirtschaften (Kapitel 13 und 19). Das Schaubild auf der folgenden Seite gibt einen schematischen Überblick über die Kapitel und einzelnen Themen dieses Werkes.
Zu Beginn des Buches liefert Kapitel 1 eine Übersicht über die Grundfragen der Volkswirtschaftslehre und beschreibt wichtige wirtschaftliche Indikatoren. Aktuelle Fallbeispiele, Anwendungen und wirtschaftspolitische Fragen werden sowohl im laufenden Text als auch in separaten Kästen behandelt. Die Abschnitte, Tabellen und Schaubilder sind zur besseren Orientierung kapitelweise nummeriert, um durch entsprechende Querverweise auch eine Art Nachschlagewerk zu liefern.
Die 16. Auflage haben wir grundlegend neu konzipiert, inhaltlich komplett überarbeitet und gestrafft sowie um aktuelle Beispiele und Anwendungsfälle ergänzt. Die verwendeten Daten wurden auf den neuesten Stand gebracht und Schaubilder sowie Tabellen wurden umfassend aktualisiert. Neu an dieser Auflage ist auch die Zusammensetzung des Autorenteams. Hier verbinden sich langjährige Forschungs- und Lehrpraxis mit den Sichtweisen und Kompetenzen der jüngeren Generation.
Den Hörerinnen und Hörern unserer Lehrveranstaltungen sind wir für die permanente Herausforderung dankbar, wirtschaftliche Zusammenhänge verständlich darzustellen, sowie für ihr kontinuierliches Feedback. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schulden für ihre Ideen all denen Dank, mit denen sie diskutieren und sich austauschen können. Von daher können wir die direkten und indirekten Einflüsse auf dieses Buch nicht vollständig nachzeichnen. Konkret bedanken möchten wir uns bei Kristjan Mere, der uns als studentischer Mitarbeiter bei der Aktualisierung der Schaubilder sehr behilflich war und bei Elke Lorz, die das gesamte Manuskript gelesen und wertvolle sprachliche Hinweise gegeben hat.
Den einzelnen Kapiteln haben wir jeweils ein Zitat einer berühmten Ökonomin, eines berühmten Ökonomen oder einer anderen Person der Zeitgeschichte vorangestellt. Diese Zitate sollten im historischen Kontext interpretiert werden und nicht als Aussagen, die unsere Ansichten widerspiegeln. Darüber hinaus dürfen einige dieser Zitate durchaus mit einem Augenzwinkern verstanden werden, auch wenn die Ökonomie gemeinhin als sehr trockene Disziplin angesehen wird.
Abschließend möchten wir noch auf einen sprachlichen Aspekt dieses Buches eingehen: Viele Fachbegriffe der Ökonomie stehen im deutschsprachigen Raum im generischen Maskulinum. So ist beispielsweise allgemein die Rede von Konsumenten- und Produzentenrente, wenn von dem Nutzen von Markttransaktionen die Rede ist. Um die Lesbarkeit des Buches zu gewährleisten, haben wir das beibehalten. Selbstverständlich sprechen wir aber explizit alle Menschen als Teil der Volkswirtschaft in unserem Buch an und richten uns gleichermaßen an alle Interessierten, ungeachtet ihres Geschlechts oder ihrer geschlechtlichen Identität.
Wir wünschen all unseren Leserinnen und Lesern nun viel Freude mit diesem Buch und hoffen, damit Ihr Interesse an der Ökonomie ein Stück weit wecken zu können – oder um es frei nach der Ökonomin Esther Duflo zu formulieren:
»If I did go [to the beach – Anm. d. Verf.]
I would probably read economics books.«1
Aachen, im November 2021 |
Oliver Lorz und Morten Endrikat |
Schaubild 0: Zur inneren Logik dieses Lehrbuchs und seiner Kapitel
* Jacob Viner (1892-1970) war ein in Kanada geborener Ökonom, der an den Universitäten Chicago und Princeton lehrte. Er hat bedeutende Beiträge u. a. zur Außenwirtschaftstheorie und -politik geleistet. Das angeführte Zitat wird ihm als mündliche Aussage zugeschrieben (siehe R. E. Backhouse und S. G. Medema, 2009: »Retrospectives: On the Definition of Economics«, Journal of Economic Perspectives: S. 221-234).
1 Esther Duflo (geboren am 25. Oktober 1972 in Paris) ist Professorin für Entwicklungsökonomie am Massachusetts Institute of Technology. Sie forscht mit empirischen Feldexperimenten zur Wirksamkeit von Maßnahmen der Armutsbekämpfung in Entwicklungsländern und wurde im Jahr 2019 gemeinsam mit ihren Kollegen Abhijit Banerjee und Michael Kremer als bisher jüngste Preisträgerin mit dem Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet.
»The first lesson of economics is scarcity:
there is never enough of anything to fully satisfy all those who want it.
The first lesson of politics is to disregard the first lesson of economics.«
Thomas Sowell2
Shanghai, Paris, New York – betrachten wir diese großen Siedlungszentren der Erde: Viele Millionen Menschen wohnen dort auf engstem Raum zusammen. Wie wird sichergestellt, dass diese Menschen jeden Tag mit ausreichend Nahrungsmitteln und anderen Gütern ihres Bedarfs versorgt werden? Wie wird gewährleistet, dass in Paris jeden Tag frisches Brot in den richtigen Mengen für die Kundinnen und Kunden beim Bäcker um die Ecke bereitliegt? Dass irgendwo auf der Welt genau diejenigen Kleidungsstücke produziert werden, die in Manhattan an der Fifth Avenue ins Schaufenster gehängt werden können? Dass in Shanghai genügend Energie für die Beheizung der Wohnhäuser, Fabriken und der Bürogebäude zur Verfügung steht?
Dies sind Beispiele für Fragen, mit denen sich die Volkswirtschaftslehre beschäftigt. Wenn Politik die Kunst des Möglichen ist, so kann man Ökonomie als die Kunst des Mangels oder die Lehre von der Knappheit interpretieren. Knappheit ist seit jeher ein Grundtatbestand menschlicher Existenz. Diese Knappheit entsteht aus der Diskrepanz zwischen
• einer Fülle von Wünschen, Zielen, Bedürfnissen und Anliegen der Menschen und
• der nur begrenzt vorhandenen Menge an Gütern, die für die Erfüllung dieser Wünsche eingesetzt werden können.
Unter einem Gut verstehen wir dabei im ökonomischen Sinn ein Mittel zur Bedienung von Bedürfnissen. Das kann ein Sachgut (eine Ware) sein oder eine Dienstleistung.
Die Menge der vorhandenen Güter reicht – das ist die These von der Knappheit – nicht aus, um alle Wünsche der Menschen zu erfüllen. Freie Güter wären im Vergleich zu den Wünschen der Individuen im Überfluss vorhanden, ganz so wie im Märchen vom Schlaraffenland, wo die Speisen bereits zubereitet durch die Luft fliegen und in den Bächen Milch und Honig fließen. Die ökonomische Realität ist dagegen durch knappe Güter gekennzeichnet. Auch Güter, die in der Vergangenheit einmal frei waren, wie sauberes Wasser oder Siedlungsfläche, sind im Verlauf des Bevölkerungswachstums und der Industrialisierung längst zu knappen Gütern geworden. In unserer heutigen Welt mit fast acht Milliarden Menschen auf der Erde stellt uns die Knappheit vor immer größere Herausforderungen.
Die Existenz der Knappheit erfordert das Wirtschaften. Unter dem Begriff »Wirtschaften« verstehen wir dabei den planmäßigen Einsatz knapper Güter zur Erfüllung menschlicher Wünsche. Das Wirtschaften ist das Grundmerkmal der wirtschaftlichen Realität. Diese wirtschaftliche Wirklichkeit ist das Erfahrungsobjekt der Wirtschaftswissenschaft. Im Zusammenhang mit dem Wirtschaften wird häufig auch von Effizienz gesprochen. Dabei geht es darum, die knappen Güter bestmöglich zur Bedürfnisbefriedigung einzusetzen.
Aufgrund der Knappheit stehen ökonomische Ressourcen in der Regel in Verwendungskonkurrenz. Ein Liter Öl, der zur Stromerzeugung verbrannt wird, kann nicht mehr als Treibstoff oder zur Produktion von Kunststoffen genutzt werden. Daraus ergeben sich ökonomische Kosten. Kosten werden in der volkswirtschaftlichen Interpretation als Opportunitätskosten (Alternativkosten) verstanden, d. h. als Kosten der »entgangenen Gelegenheit«. Wenn man sich für eine bestimmte Verwendung einer knappen Ressource entscheidet, dann entstehen Kosten dadurch, dass die Ressource für eine andere Nutzung nicht mehr zur Verfügung steht. Die Höhe dieser Opportunitätskosten bestimmen sich aus dem Nutzen, den das Gut in dieser anderen Verwendung gestiftet hätte. Wenden wir z. B. eine Stunde unserer (knappen) Zeit dafür auf, unsere Wohnung aufzuräumen, so können wir in dieser einen Stunde nichts anderes machen. Wir können in dieser Stunde keiner Beschäftigung nachgehen, für die wir auf dem Arbeitsmarkt entlohnt werden. In diesem Fall bestehen die Opportunitätskosten der aufgeräumten Wohnung in unserem entgangenen Lohn. Wir können aber auch keinem unserer Hobbies nachgehen in dieser Stunde. In diesem Falle bestehen die Opportunitätskosten in der entgangenen Freude, die uns die Ausübung des Hobbies gebracht hätte. Kosten, Knappheit, Verwendungskonkurrenz und Zielkonflikte sind also eng miteinander verknüpfte Begriffe.
Die Volkswirtschaftslehre ist jene Wissenschaft, die sich bemüht, die Gesetzmäßigkeiten der wirtschaftlichen Realität zu erfassen und mit den gefundenen Gesetzmäßigkeiten konkrete wirtschaftliche Ereignisse zu erklären. Die Volkswirtschaftslehre will nicht nur beschreiben, wie die wirtschaftliche Wirklichkeit aussieht, sondern auch erklären, warum diese so ist. Die Volkswirtschaftslehre will also z. B. nicht nur feststellen, wie hoch der Preis bestimmter knapper Güter ist, sondern sie will auch erklären, welche Größen die Güterpreise beeinflussen.
Die Volkswirtschaftslehre stellt es sich auch nicht zur Aufgabe, Werturteile abzugeben, beispielsweise darüber, ob die aktuell hohen Wohnungsmieten in vielen Großstädten angemessen sind oder nicht. Solche Werturteile lassen sich nicht wissenschaftlich, d. h. in einer objektiv nachvollziehbaren Weise, überprüfen. Wenn dagegen die Frage gestellt wird, wie solche Mietpreise zustande kommen oder welche politischen Maßnahmen sinnvoll sind angesichts einer großen Knappheit an Wohnraum, dann ist die Ökonomie am rechten Platz. Wir unterscheiden in diesem Zusammenhang zwischen der positiven und der normativen Analyse. Die positive Analyse geht der Frage nach, warum bestimmte wirtschaftliche Ergebnisse zustande kommen, also in unserem Beispiel, welche Entwicklungen den Mietpreis beeinflussen. Die normative Analyse leitet daraus Empfehlungen an die Wirtschaftspolitik darüber ab, welche Maßnahmen bei bestimmten Wertvorstellungen zielführend sind. Die moralische Einordnung der Ergebnisse oder die subjektive Beurteilung dieser Wertvorstellungen sind hingegen nicht Gegenstand der klassischen Ökonomie.
Neben der Volkswirtschaftslehre befasst sich auch die Betriebswirtschaftslehre mit der wirtschaftlichen Wirklichkeit. Die Betriebswirtschaftslehre versucht, die Abläufe und das wirtschaftliche Geschehen innerhalb eines Betriebes zu erklären und die Betriebe bei ihren Entscheidungen zu unterstützen. Da ein Betrieb wiederum mit anderen Einheiten (z. B. auf dem Beschaffungs- und dem Absatzmarkt) interagiert, sind auch diese Verbindungen des Betriebes mit anderen Einheiten Gegenstand der betriebswirtschaftlichen Analyse. Die Betriebswirtschaftslehre nimmt dabei die Sicht des einzelnen Betriebes ein. Demgegenüber betrachtet die Volkswirtschaftslehre das wirtschaftliche Geschehen von außen als Gesamtkomplex, der sich aus zahlreichen Einzeleinheiten – Betrieben und Haushalten – zusammensetzt. Dabei muss aber auch die Volkswirtschaftslehre häufig die einzelwirtschaftliche Betrachtung anwenden. Beide Disziplinen überlappen sich deshalb zu einem gewissen Grad.
Aus der These der Knappheit lässt sich eine Reihe von Fragestellungen ableiten, die als Grundfragen der Ökonomie bezeichnet werden können. Es lassen sich die folgenden Fragen unterscheiden:
Güter als Mittel zur Bedürfnisbefriedigung fallen in der Realität nicht einfach vom Himmel, sondern sie müssen in aller Regel erst produziert werden. Dabei umfasst der Begriff »Produktion« im weitesten Sinn alle Aktivitäten, die unternommen werden, damit eine Ware oder eine Dienstleistung für den Konsum bereitgestellt werden kann, z. B. auch den Abbau von Rohstoffen für die Produktion, den Transport der fertigen Güter zum Konsumenten oder das Angebot der Güter zum Kauf in einem Geschäft.
Welche Güter eine Volkswirtschaft in welchen Mengen produzieren kann, hängt von zwei Bestimmungsfaktoren ab: Zum einen von der Produktionstechnologie der Volkswirtschaft, d. h. von den verfügbaren Produktionsverfahren. Diese Produktionsverfahren unterscheiden sich für die einzelnen Güter und auch für verschiedene Wirtschaftszweige. Zum anderen bestimmen die Produktionsfaktoren, welche Güter in welchen Mengen produziert werden können. Als Produktionsfaktoren bezeichnen wir solche Ressourcen, die nicht direkt zur Erfüllung von Bedürfnissen, sondern zur Herstellung von Gütern eingesetzt werden. Wichtige Produktionsfaktoren in der Volkswirtschaft sind Arbeit, Kapital und Boden.
Die Produktionsmöglichkeiten einer Volkswirtschaft sind begrenzt durch die bestehende Technologie und die Bestände an Produktionsfaktoren. Das Bodenangebot eines Landes ist konstant, das Arbeitsangebot ist nur in Grenzen vermehrbar – z. B. durch längere Arbeitszeiten oder eine höhere Erwerbsbeteiligung – und auch der Faktor Kapital ist im Angebot limitiert. Die verschiedenen Güter konkurrieren dann bei ihrer Erstellung um die knappen Produktionsfaktoren, d. h., es existiert eine Verwendungskonkurrenz. Eine Arbeitsstunde kann entweder für die Produktion eines Gutes X oder eines anderen Gutes Y eingesetzt werden. Durch technologischen Fortschritt kann das Problem der Knappheit abgeschwächt werden. So sind heutzutage Technologien verfügbar, die z. B. Bioabfälle in Energie umwandeln, die dann wiederum als Produktionsfaktor zur Herstellung neuer Güter genutzt werden kann.
Die Produktionsmöglichkeiten einer Volkswirtschaft sind begrenzt, aber innerhalb dieser Grenzen hat die Gesellschaft Wahlmöglichkeiten. Sie kann theoretisch alle Produktionsfaktoren auf die Herstellung des Gutes X oder des Gutes Y konzentrieren oder auf eine Kombination dieser beiden (oder einer Fülle anderer) Güter. Letzten Endes wird für die Konsumwünsche der Menschen produziert. Daraus ergibt sich die Frage, durch welche Abstimmungsprozesse zwischen Produktion und Konsum sichergestellt wird, dass genau diejenigen Güter – und zwar in genau den richtigen Mengen – hergestellt werden, die von den Konsumenten gewünscht werden. Die Wünsche der Menschen ändern sich im Zeitverlauf. Manche Güter werden weniger stark nachgefragt, andere werden hingegen beliebter. Die Produktion muss sich über die Zeit hinweg diesen veränderten Bedürfnissen und Wünschen anpassen. Die Frage ist, über welche Mechanismen das geschieht.
In der Volkswirtschaftslehre befassen wir uns insbesondere mit der Funktionsweise von Märkten, auf denen sich durch Angebot und Nachfrage Preise bilden, zu denen die verschiedenen Güter gekauft werden können. Wie wir sehen werden, können Märkte unter bestimmten Bedingungen dafür sorgen, dass die Güter in den richtigen Mengen produziert und zum Kauf angeboten werden. Somit erlaubt es der Marktmechanismus, die Frage, was produziert werden sollte, dezentral zu lösen, ohne dass z. B. eine zentrale Planungsbehörde festlegen müsste, welche Güter wann und in wie großen Mengen produziert werden müssen. Hierfür übernehmen die Preise eine zentrale Rolle. Sie liefern den Unternehmen die notwendigen Anreize, bestimmte Güter für den Verkauf zu produzieren und sie zeigen den Haushalten an, was sie für diese Güter an Einkommen aufwenden müssen.
Die Möglichkeit, dass Preise Informations- und Lenkungsfunktionen übernehmen können und zu einem effizienten Einsatz knapper Produktionsfaktoren führen können, wird als große Stärke eines marktwirtschaftlichen Systems angesehen. Dennoch gibt es auch Formen von »Marktversagen«, die wir in diesem Buch kennenlernen werden. In diesen Bereichen ist der Staat gefragt, um regulierend einzugreifen oder um bestimmte Güter selbst herzustellen.
Einen ersten Eindruck von der Vielfalt der Güter und damit von den Schwierigkeiten der Koordinierung der Produktionspläne auf die Nachfrage vermittelt bereits ein Blick in das Warenverzeichnis für die Außenhandelsstatistik. Insgesamt sind in dieser Warenstatistik rund 10.000 Warenarten verzeichnet. Bedenkt man darüber hinaus, dass es für jede Warenart eine Vielzahl differenzierter Produkte verschiedener Anbieter gibt, so überrascht es nicht, dass große Supermärkte oder Fachhändler zigtausende Artikel in ihrem Sortiment haben und auf großen Online-Plattformen wie Ebay oder Amazon gar hunderte Millionen verschiedener Produkte angeboten werden.
Die Frage »Was wird produziert?« hängt eng mit dem Problem zusammen, wie sichergestellt werden kann, dass in einer Volkswirtschaft am »günstigsten«, also effizient produziert wird. Wenn Faktoren knapp sind, muss man sie dort einsetzen, wo sie am besten zur Bedürfnisbefriedigung beitragen. Eine zusätzliche Arbeitsstunde sollte in dem Wirtschaftsbereich eingesetzt werden, in dem diese Arbeitsstunde den größten Wert produziert. Die verschiedenen Wirtschaftszweige und Unternehmen eines Landes konkurrieren um die knappen Produktionsfaktoren, wodurch die Faktoren in ihre bestmögliche Verwendung gelenkt werden.
Ein weiterer Aspekt der günstigsten Produktion bezieht sich auf die Arbeitsteilung zwischen verschiedenen Produktionseinheiten. Das können verschiedene Betriebe sein aber auch ganze Länder. So sollte ein Betrieb I das Gut herstellen, das er relativ günstiger produzieren kann als ein anderer Betrieb II. Auf ganze Länder übertragen, sollte ein Land die Güter herstellen, die es im Vergleich zu anderen Ländern zu den geringsten relativen Kosten anbieten kann. Zentral ist hierbei die Erkenntnis, dass es nicht darum geht, welcher Betrieb oder welches Land ein Gut absolut günstiger produzieren kann, sondern jeweils im Vergleich zu anderen Gütern. So entstehen durch Arbeitsteilung und anschließenden Handel Effizienzgewinne. Dies können wir uns vereinfacht am Beispiel zweier benachbarter Haushalte vorstellen, die beide jeweils die Hecke in ihrem Garten schneiden und den Rasen mähen müssen. Wir unterstellen vereinfacht, dass die Hecken und die Rasenflächen bei beiden Häusern exakt gleich groß sind, die Arbeiten also eins zu eins vergleichbar sind. Tabelle 1.1 zeigt, wie viele Stunden die beiden Haushalte jeweils für die beiden Tätigkeiten benötigen.
Tabelle 1.1: Absolute und relative Vorteile
TätigkeitZeitaufwand Haushalt AZeitaufwand Haushalt B
Wir können der Tabelle entnehmen, dass Haushalt A sowohl weniger Zeit für das Mähen des Rasens als auch für das Schneiden der Hecke benötigt als Haushalt B. Haushalt A hat also einen absoluten Vorteil gegenüber Haushalt B bei beiden Tätigkeiten. Wir sehen aber auch, dass Haushalt B im Vergleich zu Haushalt A einen relativen Vorteil beim Schneiden der Hecke hat im Vergleich zum Mähen des Rasens. Er braucht für den Heckenschnitt nur 75 % der Zeit, die er für das Rasenmähen benötigt, während Haushalt A das Doppelte der Zeit für den Heckenschnitt im Vergleich zum Rasenmähen benötigt. Wenn Haushalt B beide Tätigkeiten in seinem Garten allein erledigt, benötigt er dafür 7 Stunden. Haushalt A ist mit beidem in drei Stunden fertig. Wenn Haushalt B hingegen nicht nur seine eigene Hecke, sondern auch die des Nachbarn schneidet, dann hat er diese Arbeiten nach 6 Stunden erledigt. Als Ausgleich kann Haushalt A zusätzlich zu seinem eigenen Rasen denjenigen des Nachbarn mähen und benötigt dafür insgesamt 2 Stunden. Beide Haushalte sparen jeweils eine Stunde Zeit dadurch ein, dass sie sich gemäß ihrer relativen Vorteile spezialisieren. Über genau den gleichen Effekt können verschiedene Länder durch Spezialisierung und anschließenden Handel miteinander Effizienzgewinne erreichen und mit einem gegebenen Faktoreinsatz insgesamt mehr produzieren als in Autarkie.
Diese Frage bezieht sich darauf, wer die in einer Volkswirtschaft produzierten Güter letztlich konsumieren kann. In einer Planwirtschaft könnte man sich als Extremlösung des Verteilungsproblems vorstellen, dass ein großes Verteilungsamt jedem Bürger die Gütermengen direkt zuweist und darüber entscheidet, wer wann welche Güter in welchen Mengen erhält. Eine solche Lösung kann schon allein deshalb nicht ernsthaft in Erwägung gezogen werden, weil ein zentrales Amt in der Regel nicht weiß, wie die individuellen Wünsche konkret aussehen. Individuen würden von der Zentrale mit ziemlicher Sicherheit auf der einen Seite Güter erhalten, die sie gar nicht haben wollen und auf der anderen Seite zu wenig von anderen Gütern bekommen. Ein Tausch dieser Güter auf dem Schwarzmarkt wäre die Folge.
Die Verteilung der Güter erfolgt in einer Marktwirtschaft nicht über eine Verteilungszentrale, sondern dadurch, dass Haushalte ihr Einkommen und Vermögen nach den eigenen Wünschen für den Erwerb von Gütern ausgeben können. Dann stellt sich allerdings die Frage, wie die individuellen Einkommen auf die Haushalte verteilt werden. Ein Teil der Einkommen der Haushalte ergibt sich als »Leistungseinkommen«, d. h. als Entgelt dafür, dass der Haushalt eine Leistung für andere erbringt und dafür bezahlt wird. Das gilt insbesondere für die Arbeitsleistung, die durch das Arbeitseinkommen entlohnt wird. Doch auch für andere Produktionsfaktoren werden Leistungseinkommen gezahlt. So kann man den Zinssatz interpretieren als Entschädigung dafür, dass ein Haushalt seine Ersparnisse dem Kapitalmarkt zur Verfügung stellt, anstatt sie gleich zu konsumieren. Leistungseinkommen sind Anreiz dafür, dass Haushalte ihre Produktionsfaktoren anbieten, um damit Güter produzieren zu können. Wir werden im Verlauf dieses Buches sehen, dass Anreize eine wichtige Komponente des marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystems darstellen.
Die Verteilung der Einkommen nach dem Kriterium der Leistung wird jedoch in verschiedenen Fällen durchbrochen: Erstens ist nicht jeder Mensch gleich leistungsfähig, und es ist wohl unbestritten, dass der Staat die Aufgabe hat, Nachteile für die weniger Leistungsfähigen durch Umverteilung der Einkommen zumindest teilweise zu kompensieren. Zweitens gibt es neben den Leistungseinkommen auch Transfereinkommen, z. B. durch Schenkungen, Erbschaften usw. Drittens können Einkommen auch in Form von Unternehmensgewinnen entstehen, die über die Entlohnung der eingesetzten Faktoren hinausgehen, z. B., wenn Unternehmen bei fehlendem Wettbewerb hohe Preise von den Konsumenten verlangen. Ein weiteres Problem der Leistungseinkommen zeigt sich darin, dass sich die Wertschätzung der Gesellschaft für einige (z. B. freiwillige soziale) Tätigkeiten nicht unbedingt in deren Entlohnung niederschlägt.
Verbunden mit der Frage, nach welchen Kriterien die Einkommen in einer Marktwirtschaft verteilt werden, ist die normative Dimension, wie die Einkommen verteilt werden sollten. Damit ist neben der möglichst effizienten Produktion (Allokationsziel) ein weiteres zentrales Ziel der Wirtschaftspolitik angesprochen, nämlich das Ziel, eine bestimmte gewünschte Einkommensverteilung zu erreichen (Distributionsziel). Die ethische Frage danach, welche Einkommensverteilung als wünschenswert bzw. als gerecht empfunden wird, ist dabei nicht primärer Gegenstand der Wirtschaftswissenschaften. Die Wirtschaftswissenschaften können z. B. die Frage, ob ein bestimmtes Millionengehalt für einen Fußballprofi angemessen ist, nicht sinnvoll beantworten, ohne damit nicht auch ein Werturteil zu verbinden. Sie können allerdings analysieren, wie sich dieses Gehalt durch Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt für Fußballprofis einstellt und wie sich Veränderungen der Rahmenbedingungen auf diesem Markt auswirken. Die Wirtschaftswissenschaften könnten zudem die Politik dahingehend beraten, durch welche wirtschaftspolitischen Maßnahmen sich die Gehälter (brutto oder netto) beeinflussen lassen und welche Konsequenzen sich daraus jeweils ergeben.
Bei der Einkommensverteilung unterscheidet man eine personelle und eine funktionelle Einkommensverteilung. Die personelle Einkommensverteilung gibt an, welchen Anteil am gesamten Einkommen einer Volkswirtschaft eine Personengruppe erhält. In Tabelle 1.2 ist der Anteil von Einkommensklassen am Gesamtbetrag der Einkünfte in Deutschland dargestellt. Beispielsweise erhalten die Steuerpflichtigen mit Einkünften von 20.000 € bis 30.000 €, die 15,7 % der Steuerpflichtigen ausmachen, 9,9 % der gesamten Einkünfte. Lediglich 0,2 % der Lohn- und Einkommensteuerpflichtigen beziehen Einkünfte über 500.000 €; dies macht jedoch 6,1 % der Einkünfte insgesamt aus.3
Die personelle Einkommensverteilung kann durch eine sogenannte »Lorenz-Kurve« dargestellt werden, bei der auf der vertikalen Achse die kumulierten Prozentwerte der Einkommen und auf der horizontalen Achse die kumulierten Prozentwerte der Einkommensbezieher aufgetragen werden. Die Lorenz-Kurve gibt Auskunft über die Frage, wie viel Prozent der Bevölkerung wie viel Prozent des Einkommens beziehen. Wäre die Einkommensverteilung in einer Volkswirtschaft völlig gleichmäßig und würden alle das gleiche Einkommen beziehen, dann wäre die Lorenz-Kurve eine Gerade mit der Steigung von 45° (Gleichverteilungsgerade im Schaubild 1.1). Je ungleicher die Einkommensverteilung ist, desto weiter wird die Lorenz-Kurve von der Gleichverteilungsgeraden weggedrückt.
Tabelle 1.2: Auszug aus der Einkommensverteilung in Deutschland, 2016 (Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 14, Reihe 7.1 (Stand 2020))
Gesamtbetrag der Einkünfte von . . . bis unter . . . €Lohn- und Einkommensteuerpflichtige insgesamtGesamtbetrag der EinkünfteAnzahl in Tausend%% kumuliertMio. €%% kumuliert
In Schaubild 1.1 ist die Lorenz-Kurve für die Werte aus Tabelle 1.2 grafisch dargestellt. Punkt A kennzeichnet z. B. die unteren 21,3 % der Steuerpflichtigen, die zusammen 1,9 % der Gesamteinkünfte beziehen und Punkt B entsprechend die 96,5 % der Haushalte, die zusammen 77,8 % der Gesamteinkünfte beziehen. Auch die Vermögensverteilung kann mit Hilfe einer Lorenz-Kurve dargestellt werden. Typischerweise sind die Vermögen ungleicher verteilt als die Einkommen, d. h., die Lorenzkurve verläuft noch weiter entfernt von der Gleichverteilungsgeraden.
Schaubild 1.1: Lorenz-Kurve für Deutschland, 2016 (Quelle: Eigene Darstellung, Daten aus Statistisches Bundesamt, Fachserie 14, Reihe 7.1 (Stand 2020))
Im Gegensatz zur personellen Einkommensverteilung untersucht die Frage nach der funktionalen Einkommensverteilung, wie das gesamte Einkommen einer Volkswirtschaft auf die am Produktionsprozess beteiligten Produktionsfaktoren (insbesondere Arbeit und Kapital) verteilt wird. In Tabelle 1.3 ist die Verteilung des Volkseinkommens in Deutschland seit 1991 dargestellt. Im Jahr 2018 entfielen demnach 69 % des Volkseinkommens auf die Einkommen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Dies ist das Arbeitnehmerentgelt als Anteil am Volkseinkommen. Das Arbeitnehmerentgelt umfasst auch die direkten Steuern (Lohnsteuer) und die Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber. Im Unternehmens- und Vermögenseinkommen ist auch der kalkulatorische Unternehmerlohn erhalten, also das (geschätzte) Einkommen, das die Unternehmer für ihre eigene Arbeit beziehen. Berechnet man den kalkulatorischen Unternehmerlohn und addiert diesen zum Arbeitnehmerentgelt, so erhält man die Arbeitseinkommensquote. Knapp 78 % des Volkseinkommens gingen 2018 also an den Faktor Arbeit. Der Rest von etwa 22 % des Volkseinkommens sind Gewinn-, Dividenden- und Zinseinkommen. Das Zinseinkommen hängt von der allgemeinen Zinshöhe ab, welche sich seit Mitte der 2010er-Jahre auf einem historisch niedrigen Stand befindet; das Gewinneinkommen schwankt allgemein stark.
Tabelle 1.3: Funktionale Verteilung des Volkseinkommens in %, Deutschland (Quelle: Statistisches Bundesamt, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der jeweiligen Jahre, eigene Berechnungen)
JahrArbeitnehmerentgelt (Inländer)aUnternehmens- und VermögenseinkommenaKalkulatorischer Unternehmerlohna,bArbeitseinkommensquotec
a In Relation zum Volkseinkommen. b Nettobetriebsüberschuss / Selbstständigeneinkommen der privaten Haushalte. c Arbeitnehmerentgelt pro Arbeitnehmer in Relation zum Volkseinkommen pro Erwerbstätigem.
Im Zusammenhang mit der Verteilung der Einkommen sind auch Fragen zur Verteilung der Vermögen sowie zur sozialen Absicherung des marktwirtschaftlichen Systems z. B. durch die Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung und durch gesetzliche Regelungen relevant.
Die Erfahrung hat gezeigt, dass Produktionsfaktoren in einer Marktwirtschaft auch nicht beschäftigt sein können bzw. dass Kapazitäten brachliegen. Ein besonderes Problem stellt sich dabei, wenn das den Produktionsfaktor Arbeit betrifft. So waren im Jahr 1932 im damaligen Deutschen Reich 30,4 % der Arbeitskräfte ohne Arbeitsplatz, d. h., von den 18 Millionen Arbeitskräften war fast jede dritte unbeschäftigt. Im Jahr 2002 waren in Deutschland 4,1 Millionen Arbeitskräfte arbeitslos, davon etwa 1,4 Millionen in den neuen Bundesländern. Rund 1,7 Millionen Arbeitskräfte wurden außerdem durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen aufgefangen. Die Arbeitslosenquote, also der Anteil der Arbeitslosen an den Erwerbspersonen (d. h. der beschäftigten Arbeitnehmer und der Arbeitslosen) lag im Jahr 2019 bei immerhin noch 5 %. Es stellt sich somit die Frage, wodurch Arbeitslosigkeit entstehen kann.
Arbeitslosigkeit hat eine soziale und eine ökonomische Dimension. Von der sozialen Dimension her ist es sowohl für die Betroffenen als auch für die Gesellschaft äußerst unerwünscht, wenn Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren. Von der ökonomischen Dimension her liegen Arbeitskräfte brach; die Güterversorgung ist daher schlechter als es bei Vollbeschäftigung realisierbar wäre. Aus diesen Gründen ist die Sicherung von Vollbeschäftigung bzw. eine möglichst niedrige Arbeitslosigkeit ein allgemein akzeptiertes zentrales Ziel der Wirtschaftspolitik.
Schaubild 1.2 zeigt die Arbeitslosenquoten für Mitgliedsländer der Europäischen Union für das Jahr 2020 und auch für 2019, dem Jahr unmittelbar vor Beginn der Corona-Pandemie. Am höchsten ist die Arbeitslosigkeit demnach in Griechenland mit 16,4 %, Spanien und Italien mit 15,5 % bzw. 9,2 % (jeweils im Jahr 2020). Dort ist auch das Problem der Jugendarbeitslosigkeit am gravierendsten. So war in Griechenland (34,2 %), Spanien (37,7 %) und in Italien (33,0 %) etwa jeder dritte Jugendliche ohne Arbeit.
Schaubild 1.2: Arbeitslosenquotena in der EU, 2019 und 2020 (Quelle: OECD, Stand Mai 2021) a In Prozent der Erwerbspersonen
Im internationalen Vergleich beobachten wir Unterschiede in den Arbeitslosenquoten sowohl zwischen verschiedenen Ländern als auch über die Zeit hinweg. Stiegen die Arbeitslosenquoten ab den 1980er-Jahren bis zum Beginn des aktuellen Jahrtausends im langfristigen Trend in vielen entwickelten Volkswirtschaften an, so haben es viele Länder in der letzten Zeit geschafft, diesem Anstieg entgegenzuwirken. Schaubild 1.3 zeigt die Entwicklung standardisierter Arbeitslosenquoten für ausgewählte Industrieländer über den Zeitraum 1960 bis 2019. Auffallend sind die relativ niedrigen Quoten in den 1960er und 1970er-Jahren sowie die hohen Quoten Mitte der 1990er-Jahre bis ca. 2010.
Schaubild 1.3: Entwicklung der Arbeitslosenquotena ausgewählter Länder, 1960–2019 (Quelle: OECD, Stand November 2020)
Deutschland: bis 1990 Westdeutschland. a In Prozent der Erwerbspersonen
Im Jahr 1923 erlebte Deutschland eine Hyperinflation, in der die Preise in kürzester Zeit auf unvorstellbare Niveaus anstiegen. Einfache Güter des täglichen Bedarfs wie Brot oder Milch kosteten gegen Ende des Jahres 1923 mehrere Milliarden Mark. Die Entwicklung endete in der Währungsreform von 1923/1924, bei der die Mark zunächst durch eine neu geschaffene Rentenmark und dann durch die Reichsmark ersetzt wurde. Es liegt auf der Hand, dass solche Phasen einer Geldentwertung mit dramatischen sozialen Auswirkungen verbunden sind. Allerdings können auch geringere Inflationsraten sehr unerwünschte Nebenwirkungen haben, sodass die Sicherstellung der Preisniveaustabilität ein weiteres allgemein anerkanntes Ziel der Wirtschaftspolitik ist. Die Europäische Zentralbank, die für die Stabilität des Euro zuständig ist, hat sich als oberstes Ziel gesetzt, die Inflationsrate auf einem Wert von ca. 2 % zu halten. Für die Volkswirtschaftslehre stellt sich damit zum einen die Frage, warum das Preisniveau überhaupt ansteigt und zum anderen, durch welche Politik erreicht werden kann, dass die Preise stabil bleiben.
Schaubild 1.4 zeigt, wie sich die Preise aus Sicht der Konsumenten international entwickelt haben, gemessen an einem Index der Verbraucherpreise für einen Vier-Personen-Haushalt. Das Schaubild verdeutlicht, dass sich international die Inflationsraten in den 1970er-Jahren auf ein höheres Niveau geschoben haben, seit den 1980er-Jahren aber rückläufig sind. Von 1995 bis 2020 hat die Preissteigerungsrate in Deutschland den Wert von 2 % nicht mehr überschritten.
Schaubild 1.4: Entwicklung der Inflationsratena ausgewählter Länder, 1960–2020 (Quelle: Weltbank, World Development Indicators)
a Durchschnittliche jährliche Veränderungsrate des Verbraucherpreisindex in %
Wenn Wirtschaften aus der Spannung zwischen menschlichen Wünschen und knappen Gütern resultiert, so wird die Frage interessant, wie die Mengen der knappen Güter im Zeitablauf vermehrt werden können. Dies ist die Frage nach dem wirtschaftlichen Wachstum. Schaubild 1.5 zeigt exemplarisch, wie sich die realen (d. h. inflationsbereinigten) jährlichen Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts in Deutschland, den USA und China seit 1970 verändert haben. China steht hier im Vergleich zu den beiden traditionellen Industrieländern Deutschland und den USA, da China als eines der am schnellsten wachsenden Länder stetig an Bedeutung für die Weltwirtschaft gewinnt.
Schaubild 1.5: Jährliche Wachstumsratena des realen Bruttoinlandsprodukts ausgewählter Länder, 1970–2020 (Quelle: Weltbank, World Development Indicators)
a In Prozent. Durchschnittliche Wachstumsraten des Zeitraums 1970–2020 in Klammern
Chinas reale Wachstumsrate betrug in dieser Zeit durchschnittlich 8,8 % pro Jahr. Damit ist das reale Pro-Kopf-Einkommen in China in den letzten 50 Jahren um mehr als das Dreißigfache gestiegen. Die jährlichen Wachstumsraten Deutschlands und der USA nehmen sich dagegen mit 1,9 % und 2,8 % vergleichsweise bescheiden aus.
Schaubild 1.5 zeigt zudem, dass wirtschaftliches Wachstum in Wellen erfolgt. Phasen starker realer Wachstumsraten werden von Perioden geringer Wachstumsraten abgelöst. Die wirtschaftliche Entwicklung vollzieht sich in einem konjunkturellen Auf und Ab. Daraus folgt die Frage, in welchem Zusammenhang konjunkturelle Bewegungen und wirtschaftliches Wachstum stehen und warum Schwankungen der wirtschaftlichen Aktivitäten eine häufige Begleiterscheinung von Wachstumsprozessen darstellen.
Die Frage nach wirtschaftlichem Wachstum ist die dynamische Version der Fragen »Was kann produziert werden?« und »Was wird produziert?«. Wachstum zeigt zum einen an, wie sich die Produktionsmöglichkeiten einer Volkswirtschaft in der Zeit verändern und wie zum anderen die Produktion auf die Nachfrage im zeitlichen Verlauf reagiert. Die Veränderung der Produktionsmöglichkeiten einer Volkswirtschaft hängt von der Veränderung der Produktionstechnologie und der Produktionsfaktoren (z. B. der Zunahme des Kapitalangebots infolge von Ersparnissen) ab.
In der Regel vollzieht sich Wachstum nicht gleichmäßig über alle Wirtschaftsbereiche hinweg. Stattdessen ändern sich im Zeitablauf nicht nur die Produktionsmöglichkeiten, sondern auch die Bedürfnisse und Vorlieben der Konsumenten. Es kommt damit zu Verlagerungen zwischen den verschiedenen Gütern bzw. zwischen den Wirtschaftssektoren (Strukturwandel). Schaubild 1.6 zeigt exemplarisch auf, wie sich die drei großen Wirtschaftsbereiche Land- und Forstwirtschaft (Primärer Sektor), Produzierendes Gewerbe (Sekundärer Sektor) und Dienstleistungen (Tertiärer Sektor) in Deutschland im Zeitablauf entwickelt haben. Deutlich ist im Schaubild ein Trend zur Tertiarisierung zu erkennen. Der Anteil des Tertiären Sektors an der gesamten Wertschöpfung ist von knapp 50 % im Jahr 1970 auf ca. 70 % im Jahr 2020 angestiegen, während der Anteil des Primären Sektors im gleichen Zeitraum von ca. 3,3 % auf unter 1 % gesunken ist.
Auch die Frage nach dem wirtschaftlichen Wachstum hat einen erklärenden und einen normativen Aspekt. Zum einen geht es um die positiven Fragen, wie wirtschaftliches Wachstum zu erklären ist, durch welche ökonomischen Prozesse es sich vollzieht und welche Faktoren das Wachstum beeinflussen. Die normative Frage verweist uns wieder in den Bereich der Wirtschaftspolitik. Hier geht es darum, durch welche Politikmaßnahmen eine gewünschte Wachstumsrate erreicht werden kann. Wirtschaftliches Wachstum ist eines der angestrebten Ziele der Wirtschaftspolitik. In § 1 des deutschen Stabilitätsgesetzes ist das Wachstumsziel gemeinsam mit anderen Zielen der Wirtschaftspolitik gesetzlich verankert: »Bund und Länder haben bei ihren wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beachten. Die Maßnahmen sind so zu treffen, dass sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zu Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen.«
Seit einiger Zeit sind neben das Wachstumsziel auch andere langfristige Zielgrößen in den Fokus von Politik und Gesellschaft getreten. Insbesondere stehen inzwischen Fragen nach der Umweltqualität, der sozialen Gerechtigkeit und der Wahrung natürlicher Ressourcen im Blickfeld der Betrachtung. Diese Ziele müssen jedoch nicht zwingend in einem Interessenkonflikt zum Wachstumsziel stehen. So scheinen sich Umweltschutz und Wirtschaftswachstum nur auf den ersten Blick zu widersprechen, denn technologischer Fortschritt kann es ermöglichen, dass Produktionsmöglichkeiten wachsen bei gleichzeitig konstantem oder sinkendem Einsatz von natürlichen Ressourcen und bei sinkendem Ausstoß schädlicher Nebenprodukte wie z. B. Treibhausgasen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Erkenntnisfrage, unter welchen Bedingungen wirtschaftliches Wachstum bei nachhaltiger Nutzung begrenzter Ressourcen möglich ist oder die normative Frage, welche wirtschaftspolitischen Maßnahmen eingesetzt werden sollen, um den Klimawandel einzudämmen.
Schaubild 1.6: Entwicklung der sektoralen Wertschöpfunga in Deutschland, 1970–2020 (Quelle: Statistisches Bundesamt, eigene Berechnungen)
a In Prozent an der gesamten Wertschöpfung
Wirtschaftliches Wachstum hat auch eine internationale Dimension. So können Wachstumsprozesse in den verschiedenen Regionen der Welt sehr unterschiedlich ablaufen. Es stellt sich hier die Frage, ob internationale Einkommensunterschiede zwischen verschiedenen Ländern im Wachstumsprozess abgebaut werden oder ob sie sich im Zeitablauf noch vergrößern. Insbesondere zwischen Industrie- und Entwicklungsländern besteht nach wie vor ein extremes Einkommensgefälle. Ein stärkeres Wachstum in den Entwicklungsländern kann diese Einkommensschere verkleinern und damit die Einkommen angleichen. Tabelle 1.4 zeigt für verschiedene Ländergruppen das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf und dessen Zuwachsraten. Die Länder sind in der Tabelle eingruppiert in diejenigen mit einem niedrigen, einem mittleren und mit einem hohen Einkommen. Zur Ländergruppe mit geringem Einkommen gehören z. B. Äthiopien mit lediglich 856 US-Dollar pro Kopf im Jahr 2019 und Indien mit 2.101 US-Dollar pro Kopf. China ist mit 10.500 US-Dollar pro Kopf ein Land mit mittlerem Einkommen und stellt eines der am schnellsten wachsenden Länder der letzten zwei Jahrzehnte dar. Zur Gruppe der Länder mit den höchsten Einkommen gehört u. a. Deutschland mit 47.628 US-Dollar. Wie Tabelle 1.4 zeigt, bestehen Wachstumsunterschiede zwischen den verschiedenen Ländergruppen, wobei besonders die Länder mit mittlerem Einkommen stärker wachsen, während viele einkommensschwache Länder kaum aufholen können.