Neal Skye
SHIT
STORM
EIN EDDA VALBY KRIMI
Ein Buch aus dem FRANZIUS VERLAG
Cover: Simone C. Franzius
Bildlizenzen: shutterstock
Korrektorat/Lektorat: Dr. Michael Kracht
Verantwortlich für den Inhalt des Textes ist der Autor Neal Skye
Satz, Herstellung und Verlag: Franzius Verlag GmbH
E-Book ISBN 978-3-96050-231-9
Alle Rechte liegen bei der Franzius Verlag GmbH
Hogen Kamp 33, 26160 Bad Zwischenahn
Copyright © 2022 Franzius Verlag GmbH, Bremen
www.franzius-verlag.de
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Alle Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, Firmen oder Geschehnissen sind rein zufällig.
Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten. Ohne ausdrückliche schriftliche Erlaubnis des Verlages darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden, wie zum Beispiel manuell oder mithilfe elektronischer und mechanischer Systeme inklusive Fotokopieren, Bandaufzeichnung und Datenspeicherung. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadenersatz. Alle im Buch enthaltenen Angaben, Ergebnisse usw. wurden vom Autor nach bestem Wissen erstellt. Sie erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie des Verlages. Er übernimmt deshalb keinerlei Verantwortung und Haftung für etwa vorhandene Unrichtigkeiten.
Ein ganz besonderes Dankeschön an
Jona aus Tórshavn,
Natalies Journey,
Barbara, Cherry, Katja,
Manfred, Martin, Carsten, Per
u.v.a.
»Ann-Brit Bjarnasson verließ am Montag, den 12.11.2018 gegen acht Uhr zehn ihre Wohngemeinschaft in Åkeslund. Ihre Mitbewohnerinnen Ylva Eriksson und Sanna Delfoss waren die letzten, die sie lebend gesehen haben.«
»Ich muss mal eben stören!« Der bestimmende Ton in Edda Valbys Stimme versetzte alle im Team der Mordkommission Stockholm in Alarmbereitschaft. Nur Mats Berglund blickte grimmig von seinem Bericht hoch und hob genervt die Augenbrauen.
»Sanna Delfoss?« Valbys Kopf wippte gefährlich hin und her. »Die Sanna Delfoss?«
Berglund nickte. Natürlich war es ihm klar gewesen, dass seine Chefin nicht begeistert sein konnte, von diesem Zusammenhang erstmalig bei der morgendlichen Besprechung zu erfahren. Und ja, es war ihm durchaus in den Sinn gekommen, sie während ihres Urlaubes über den neusten Stand zu informieren. Aber Urlaub war Urlaub. Er wäre andersherum auch nicht begeistert gewesen.
»Mir diese nebensächliche Information frühzeitiger zukommen zu lassen, ist dir wohl nicht in den Sinn gekommen?«, fragte Valby und betonte das Wort »nebensächlich« besonders bissig.
»Du hattest Urlaub!«, wehrte Berglund ab. Er fühlte sich wie bei einem Schachspiel, bei dem er die Züge des Gegners voraussehen konnte, ohne eine Idee zu haben, wie diese zu verhindern wären.
»Lass diese Ausreden. Du weißt, ich habe meine Mutter in Umeå besucht und keine Weltreise gebucht. Es gibt Mobiltelefone, Mats!«
»Gegen zehn nach acht. Die beiden Zeuginnen waren offenbar gerade selbst im Begriff, sich auf den Weg zur Arbeit zu machen.« Berglund fuhr unbeirrt fort und gab sein Bestes, die Blicke seiner Chefin zu ignorieren. »Etwa zehn Minuten später haben die beiden das Apartment verlassen.«
»Dir ist der politische Aspekt bewusst, oder? Hast du eine Ahnung, was das für Wellen schlagen kann?«
»Für den Moment ermitteln wir im Todesfall Ann-Brit Bjarnasson«, erwiderte Berglund betont gelassen. »Der zuständige Arzt hat als Todesart ›unbekannt‹ angegeben und Staatsanwalt Magnus Bourdin hat mich angerufen und uns beauftragt, in diesem Fall zu ermitteln. Es muss sichergestellt werden, dass fremde Hand ausgeschlossen werden kann.«
»Und du hast schon ein Team zusammengestellt? Wir brauchen hier ein Team, das sich hundertprozentig auf diesen Fall fokussiert.«
»Nein«, schnaubte Berglund. »Wir stehen ja noch ganz am Anfang. Ich bin sicher, die Teambildung nimmst du gerne selbst in die Hand.«
»Ja, da kannst du dir aber ganz sicher sein. Am Ende des Meetings will ich mit Pelle, Stella, Ole und dir noch mal alles genauer besprechen.«
»Ole hat Urlaub. Der sonnt sich seit Samstag irgendwo in Ägypten.« Hilflos blickte Berglund zu Stella Lindbergh.
»Hurghada«, half diese aus.
Ole Torkelsson schien ein Händchen dafür zu haben, sich immer im Urlaub zu befinden, wenn seine Anwesenheit hier dringend erforderlich ist, dachte Valby. Für einen Moment überlegte sie, ob sie ihn aus dem Urlaub nach Hause beorderte. Es musste doch irgendeine Möglichkeit geben, ihn für sein unverschämtes Glück büßen zu lassen.
»Nun gut. Dann wir vier. Wir besprechen das Thema erst mal in kleiner Runde, bevor du hier eine Podiumsdiskussion startest. Was war noch? Wurde Greta Thunberg vielleicht entführt?«
Berglund tat das, was er immer tat, wenn Valby versuchte, ihn zu provozieren. Er schluckte, tat so, als ging die Spitze weit an ihm vorbei, atmete tief durch und besann sich auf den nächsten Satz.
»Schon wieder ein Einbruch in eine Villa in Diplomatenstaden.«
»Und, fertig mit einräumen?« Ylva Eriksson musterte die Neue. Sie passte so gar nicht in die Wohngemeinschaft, so viel war sicher.
»Alles an seinem Platz.« Sanna Delfoss' Mund verzog sich dabei zu einem angedeuteten Lächeln. Zu kurz, um überzeugend zu wirken, zu lang, um unbemerkt zu bleiben.
»Na ja, viel hattest du ja auch nicht dabei.«
Sanna konnte nicht einordnen, wie Ylva das gemeint hatte. Sie verunsicherte sie. Das war bereits bei dem Vorstellen über Skype so gewesen. Ganz abgesehen davon, dass Sanna so etwas zuvor nie gemacht hatte. Warum auch? Natürlich tauschte man sich auch auf den Färöern Nachrichten über das Internet aus. Aber eine Videokonferenz hatte sie nie zuvor für nötig gehalten. Nach dem Gespräch hatte sie auch nicht damit gerechnet, das Zimmer in dieser Wohngemeinschaft zu bekommen. Sanna war mit Abstand die Jüngste. Während die anderen, bis auf Ann-Brit, ihre Studienzeit bereits hinter sich gelassen hatten, wenn auch noch nicht lange, hatte sich Sanna gerade erst für das Studienfach Biologie eingeschrieben. Wahrscheinlich hatten sie sich daran erinnert, wie schwierig es gewesen war, einigermaßen zentral eine bezahlbare Unterkunft zu finden. Und für jemanden von außerhalb war das noch viel schwieriger, vor allem, wenn man sich nicht einfach in Kopenhagen oder Hamburg in ein Auto setzen und vor Ort suchen konnte.
»Das ist übrigens Ann-Brit. Sie war während der Videoschaltung bei ihren Eltern in Åtvidaberg.«
»Hi. Ich bin Sanna aus Tórshavn.«. Wieder versuchte sie zu lächeln.
»Ich weiß. Die junge Studentin von den Färöern, die Meeresbiologin werden will«. Ann-Brit wirkte irgendwie schüchtern, was sie aus Sannas Sicht sympathisch wirken ließ. Aber vor allem lächelte sie wirklich. Sie schien das komplette Gegenteil von Ylva zu sein. Klein, unscheinbar und hübsch auf eine Weise, die nicht jeder gleich erkennen kann.
»Ann-Brit ist unsere kleine Feder.«, sagte Ylva und lachte über Sannas fragenden Blick. »Ich habe dir ja erzählt, dass wir alle bei ›Sea Court‹ sind. Genau. Wir sind hier in Stockholm noch eine kleine Gruppe, aber wir werden von der Zentrale in Southampton langsam wahrgenommen und das liegt vor allem daran, dass Ann-Brit unsere Homepage mit schwedischen und auch englischen Texten füllt, die von einer bemerkenswerten Schärfe sind.«
Die Angesprochene blickte verlegen zur Seite.
»Oder anders gesagt: Sie formt Wut in Worte.«
Die Stimme gehörte zu einem Mann, der gerade die Küche betreten hatte und den Sanna schon von der Videokonferenz her kannte. »Wut in Worte«, Sanna gefiel der Ausdruck. Und doch konnte sie mit alldem nicht viel anfangen. »Sea Court« fischten gerne in Gewässern größerer Organisationen. Sie waren auf den Färöern eher unbekannt. Auch Sanna hatte googeln müssen, wer das war, nachdem sie in dem ersten Gespräch das erste Mal überhaupt davon gehört hatte.
»Sind bislang nur kleinere Aktionen, aber es wird in einigen Wochen eine richtig coole geben.«
»Håkan hat recht«. Ylva lachte. »Das wird groß.«
»Aha, und worum geht es da?«
Sanna interessierte das nicht wirklich, aber sie wollte sich an dem Gespräch beteiligen. Sie nahm sich vor, irgendwann mal mit Ann-Brit genauer über »Sea Court« zu reden. Obwohl Ylva bislang doch sehr nett gewesen war, traute sie ihr nicht so recht. Ylva wusste so viel, das war schon beim ersten Gespräch einschüchternd gewesen. Sanna hatte Angst, für dumm oder weltfremd wahrgenommen zu werden. Immerhin repräsentierte sie hier die Färöer und sie konnte sich ohnehin nicht dem Gefühl erwehren, in politischen Diskussionen immer hoffnungslos überfordert zu sein. Dabei war es einfach so, dass sie sich nur wenig dafür interessierte.
»Was machst du dir da Sorgen?«, hatte ihre beste Freundin Kristina gefragt. »Die arbeiten doch fast alle und du bist an der Uni und triffst da andere Leute. Du bewegst dich dann in einem ganz anderen Umfeld. Lass dich da bloß nicht mit reinziehen.«
Sanna hatte gelacht. Ylva und Håkan waren Meeresbiologen und mit Organisationen wie »Sea Court« hatte sie nichts am Hut. Sie hatte gelesen, dass die etwas gegen Geisternetze unternehmen wollten. Also gegen herrenlose Fischernetze, die im Meer verloren gegangen oder bewusst dort entsorgt worden waren und in denen Meeresbewohner elendig verendeten. Und sie hatten was gegen Kreuzfahrtschiffe. Soweit die Gemeinsamkeiten von »Sea Court« und Sanna Delfoss.
»Also, was haben wir bislang? Wir tun jetzt so, als reden wir nur über Ann-Brit Bjarnasson. Ist das so, wie du das möchtest?«
»Sie ist das Opfer. Sanna Delfoss ist eine Zeugin«, erwiderte Berglund genervt.
»Eine von wie vielen?« Valby faltete ihre Hände wie zum Gebet. Nicht einmal in Ruhe Urlaub machen kann man, dachte sie.
»Insgesamt bestand die Wohngemeinschaft aus fünf Personen. Zwei von ihnen, Ylva Eriksson und Håkan Lofsted, arbeiten im Meeresbiologischen Institut, einer, Marcus Kjellström, hat inzwischen sein Studium abgebrochen. Über Sanna Delfoss muss ich wohl nichts mehr erzählen. Ann-Brit Bjarnasson befand sich im Endspurt ihres Bachelor-Studiums, ebenfalls Biologie.«
»Prüfungsangst? War sie eine gute Studentin?«
Skeptisch sah Valby Lindbergh an. »Oh, das wäre schön. Dann könnten wir jetzt alle nach Hause gehen, oder?«
»Wir stehen erst am Anfang der Ermittlungen«, grummelte Berglund. »Alles andere sind Spekulationen. Sowohl in die eine als auch in die andere Richtung.«
Beim zweiten Teil sah er seine Chefin ebenso eindringlich an, wie Lindbergh beim ersten.
Langsam wird aus »Lillen Erik« doch noch ein echter Polizist, dachte Valby. Sie lächelte stumm in sich hinein und bedauerte ein wenig, dass sie künftig ihre Spitzen bezüglich Berglunds Karriere als TV-Kinderdetektiv sparsamer austeilen musste. Berglund war Anfang Vierzig und jahrelang hatte es so ausgesehen, als hatte er sich mit dem, was er bislang erreicht hatte, abgefunden. Zuletzt war er jedoch in der Anerkennung Valbys gestiegen und war damit einer Beförderung zum Hauptkommissar näher, als er es selbst ahnte. Aber ich werde einen Teufel tun, ihn das wissen zu lassen, dachte sie. Sonst ruht er sich auf seinen Lorbeeren aus.
»Genau das sollte unser erster Ansatz sein. Eriksson, Lofsted und Kjellström sind für heute Nachmittag noch mal bestellt. Wir haben ihre Aussagen schon aufgenommen, werden heute aber noch mal weiter ins Detail gehen. Nur Sanna Delfoss ist offenbar am selben Tag zu einem Kommilitonen geflüchtet und saß schon am nächsten Morgen im Flugzeug nach Tórshavn. Von ihr haben wir noch gar nichts.«
»Sie hat das Land verlassen? Verstehe ich das richtig? Wie konnte das denn passieren? Hast du ihr nicht gesagt, dass sie das Land nicht verlassen darf?«
Valbys Oberkörper beugte sich bedrohlich nach vorne. Berglund war klar, dass sie in dieser Haltung ungemütlich werden konnte.
»Die Gruppe kam erst spätabends wieder nach Hause und Sanna Delfoss hat das Apartment ohne ein Wort verlassen, so die übereinstimmige Aussage ihrer Mitbewohnerinnen.«
»Natürlich übereinstimmend. Die hatten ja auch genug Zeit, sich abzusprechen. Hast du sie getrennt, als du am Tatort eintrafst?«
Sie redet immer noch mit mir, als käme ich frisch von der Polizeischule, dachte Berglund verärgert. Ohne ein Nicken von ihm verstand Valby.
»Also ja, aber wahrscheinlich zu spät«, sagte sie und verzog das Gesicht. »Wenn sie etwas absprechen wollten, dann hatten sie Zeit genug dazu gehabt. Wissen wir schon etwas über den genauen Todeszeitpunkt?«
»Noch nicht. Aber wir bewegen uns in einem Zeitfenster von acht bis zehn Uhr abends. Angesichts der Umstände erwarte ich da auch keine wesentlichen Präzisierungen mehr. Dazu war die Leiche zu frisch. Sie wurde um etwa Viertel vor elf Uhr abends gefunden. Von Sanna Delfoss, Ylva Eriksson und Håkan Lofsted. Sie kamen von einer Besprechung von ›Sea Court‹, die etwas länger gedauert hat als gewöhnlich. Wir haben hier bereits Zeugen befragt, die die Anwesenheit der drei bestätigten. Allerdings ist die Gruppe inzwischen so groß geworden, dass niemand sagen konnte, ob alle bis zum Schluss geblieben sind. Um 22:54 hat dann Ylva Eriksson den Notruf alarmiert. Um ziemlich genau acht Uhr hatte Ann-Brit Bjarnasson ein kurzes Telefonat mit ihrer Mutter geführt. Da hat sie also noch gelebt. Na ja, jedenfalls aufgrund der besonderen Personalie« – Berglund konnte sich einen stechenden Seitenblick auf Valby, den diese amüsiert registrierte, nicht verkneifen – »haben wir um schnelle Ergebnisse der Obduktion ergeben. Der Fall hat absoluten Vorrang.«
Gudmundsson schnaufte. »Gibt es bislang auch nur den geringsten Anfangsverdacht, dass es sich hier um Fremdverschulden handeln könnte?«
Sein Tonfall ließ keinen Zweifel darüber zu, dass die Frage von rein rhetorischer Natur war. »Reden wir doch mal Tacheles! Wenn das keine Mitbewohnerin von Sanna Delfoss gewesen wäre, wäre auch keine Akte angelegt worden. Dieses verdammte Mädchen! Sie ist nicht einmal Schwedin! Herrgott, eine Studentin wird in ihrem Zimmer gefunden mit einem Strick um den Hals, das an einem Fenstergriff befestigt worden war. Wir hätten längst einen Haken hinter ›Suizid‹ gemacht. «
»Wie lange bist du in unserem Team?« Rhetorische Fragen stellen konnte Valby auch. Gudmundsson war jedenfalls lange genug dabei gewesen, um zu wissen, dass sie hier nicht wirklich eine Antwort erwartete. »Wir haben einen Ermittlungsauftrag seitens der Staatsanwaltschaft. Und ja, sehr wahrscheinlich hat das mit der Personalie Sanna Delfoss zu tun, auch wenn sie nicht direkt betroffen ist. Hast du eine Ahnung, wie sich die Presse überschlagen würde, wenn wir hier auch nur eine klitzekleine Spur übersehen?«
Auch auf diese Frage antwortete niemand. Valby nickte zufrieden. »Welche Zweifel gibt es an einem Suizid?«
»Die sonst typischen Versuche, sich im letzten Moment doch zu retten, fehlen. Keine Finger in oder an der Schlinge, keinerlei Abwehrverletzungen. Das könnte darauf hinweisen, dass sie schon vorher nicht bei Bewusstsein war. Zudem wurde die Leiche abgeschnitten. Auch hier gab es übereinstimmende Aussagen, dass es Sanna Delfoss war. Sie hat panisch nach einem Messer gesucht, das Seil durchgeschnitten, während die anderen die Leiche aufgefangen haben. Dann hat sie wohl versucht, den Körper zu reanimieren, was aber erfolglos blieb.«
Der starre Blick von Hauptkommissarin Edda Valby wanderte von Berglund über Lindbergh zu Gudmundsson.
»Da hast du den Grund, warum die Staatsanwaltschaft uns einen Ermittlungsauftrag gegeben hat. Hier sind Spuren verwischt worden, wodurch unser Suizid-Nachweis sich als deutlich problematischer darstellt. Oder?«
»Natürlich befinden sich die Ermittlungen erst im Anfangsstadium, aber die beiden anwesenden Mitbewohnerinnen hatten alle den Eindruck, dass Sanna Delfoss hier im Schock einfach sicherstellen wollte, dass ihre Mitbewohnerin gerettet wird, wenn es noch irgendwie möglich war. Ansonsten lag der Stuhl ein wenig weit von der Stelle entfernt, an der Bjarnasson sich erhängt hat. Aber das ist auch schon alles. Physikalisch ist das durchaus möglich.«
»Was sprich für Suizid?«
»Die Untersuchung ist wie gesagt noch nicht abgeschlossen«, sagte Berglund. »Es gibt eine zweite Strangmarke, die aber wohl auf das Verrutschen des Seils zurückzuführen ist. Definitiv gibt es keine Würgemerkmale und auch kein sichtbares Zeichen eines Kampfes.«
»Gut«, fasste Valby zusammen. »Ich möchte, dass euch eines klar ist: Wir ermitteln hier möglicherweise in einem Mordfall. Erst wenn wir alle Möglichkeiten eines Fremdverschuldens ausschließen können,« – Valby blinzelte Gudmundsson zu – »machen wir einen Haken hinter Suizid.«
»Sea Court?« Anja Forslin blickte ihren Chef fassungslos an. Nein, das konnte er nicht ernst meinen. Sie hatte von dem Prozess gegen die Hubschrauber Räuber von Västeberga berichtet, bei denen die Räuber vierzig Millionen Kronen erbeutet hatten, die nie wieder aufgetaucht waren. Ihre scharfe Berichterstattung hielten manche immer noch für die Initialzündung für die Diskussion um die Abschaffung des Bargeldes. Sie hatte eine eigene Talkshow gehabt, bevor sie wegen der verdammten Liebe in dieses kleine Kaff auf Öland gezogen war. Schwanger, verliebt und voller Hoffnung auf ein glückliches Leben fernab der Hektik der Großstadt. Als dann Pernilla auf die Welt gekommen war, hatte sich zunächst alles noch perfekter angefühlt, bis sich dann nach einem weiteren Jahr die Romantik nach und nach aus ihrem Leben verabschiedet hatte. Entschlossen hatte sie ihre Koffer gepackt und war mit ihrer Tochter wieder nach Stockholm gezogen. Ihren alten Job hatte eine jüngere Kollegin übernommen und so war sie schließlich bei diesem kleinen Regionalsender untergekommen und hatte ihm, da war sie sich sicher, ihren eigenen Stempel aufgedrückt.
»Das ist ein kleiner, unbedeutender Studentenklub!« Verzweifelt sah Anja Forslin ihren Chef an, aber der zuckte nur mit den Achseln.
»Greta Thunberg war am Anfang sogar ganz allein.«
»Ja klar!«, spottete sie. »Und du nimmst die Drohung wirklich ernst?«
Die Frage war überflüssig. Redaktionsleiter Birger Nyholm wurde auch zunehmend genervter. Je länger die Forslin bei uns ist, desto größer ihre Allüren, dachte er. Gefolgt von: Ich hatte es befürchtet!
Es gab ein Schreiben, das »Sea Court« an die Redaktion von »Inom og utanför« versandt hatte. Das Besondere war, dass dieser Bekennerbrief die Redaktion erreichte, bevor irgendetwas geschehen war, zu dem man sich hätte bekennen können. Für Nyholm waren »Sea Court« durchaus keine Unbekannten. Mit kleineren Online-Aktionen hatten sie schon auf sich aufmerksam gemacht, aber noch nie hatte »Inom og utanför« darüber berichtet. Forslin hatte schon recht: Noch nie war eine Aktion von »Sea Court« es wert gewesen, dass man einen Ü-Wagen hatte rausschicken müssen. Aber er wusste von seinem Kontakt beim »Stockholm Kuriren«, dass sie dort dasselbe Schreiben erhalten hatten. Ohne Angabe, wann und wo etwas passieren sollte. Er hatte auch lange darüber nachgedacht, ob er die Polizei einschalten sollte, und hatte dann seinen dortigen Kontakt angerufen. Denen lag das Schreiben schon vor – offenbar war es flächendeckend an alle Medien verteilt worden.
»Weiß ich nicht, Anja. Ich will nur nicht, dass wir hier etwas verpassen. Ja, selbst deren Hauptsitz in Southampton ist noch nicht sonderlich in Erscheinung getreten. Die halten Vorträge und verbreiten ihren Kram auf allen Social Media Kanälen. Also nein, ich nehme sie nicht ernst, aber darf ein Redaktionsleiter nicht auch mal ein Bauchgefühl haben?«
Anja seufzte. Was hatte sie dem entgegenzusetzen? Eine Diskussion um ein Bauchgefühl konnte sie sich schenken.
»Du bist der Boss, Boss«, antwortete sie mit hochgezogenen Augenbrauen und schmalem Mund.
Wenn du das mal weißt, dachte Nyholm.
»Du hättest in Stockholm bleiben sollen.«
Poul Delfoss spürte den vorwurfsvollen Blick seiner Frau, als er diesen Satz sagte. Den seiner Tochter nahm er nicht wahr, da sie diesen nicht auf ihn richtete. Äußerlich regungslos saß sie mit gesenktem Kopf am Tisch im Esszimmer und ließ sich nicht anmerken, wie sehr sie diese Äußerung getroffen hatte.
»Poul, bitte«, beschwichtigte seine Frau ihn. »Es ist doch schon schwer genug für sie.«
Poul seufzte. Er wusste, er hatte recht und er hatte versucht, seinen Tonfall auf »einfühlsam« zu stellen, was ihm offenbar nicht gelungen war. Natürlich verstand er die Reaktion seiner Tochter. Er hatte schon einige Leichen gesehen, nicht nur die seiner Großmutter und seines Vaters, auch in seinem Job als Cop hatte er einige Verkehrsunfälle gesehen, die tödlich geendet waren. Und wenn es nicht gerade ein Tourist gewesen war, der seine Fähigkeiten als Motorradfahrer überschätzt hatte, war ein Einheimischer betroffen. Er kannte nicht jeden auf der Insel, aber doch recht viele. Mindestens die Gesichter. Beim letzten Unfall war der Vater eines Kollegen tödlich verunglückt. Ein tragischer Fall, denn sein Kollege hatte immer wieder mit Engelszungen auf seinen Vater eingeredet, dass er langsam in das Alter gekommen sei, mindestens nach Eintritt der Dunkelheit nicht mehr zu fahren. Nun war nicht nur er umgekommen. Der Beifahrerin in dem weißen Seat, den er gerammt hatte, musste am Ende ein Bein amputiert werden. Ja, er hatte bereits einiges in seinem Leben gesehen, aber noch nie eine Mitbewohnerin, die sich erhängt hatte.
Sie hätte nie nach Stockholm ziehen sollen, dachte er. Sie hätte Biologie studieren können, wie sie es zunächst vorhatte. Mit Kristina. Dass Sanna mit ihrer besten Freundin zusammen Biologie in Tórshavn hätte studieren können, hatte ihn in Sicherheit gewogen, hatte seine Befürchtung beruhigt, seine einzige Tochter würde nach Stockholm ziehen, sich dort verlieben und dann dortbleiben, weit weg von zu Hause, weit weg von ihm und Rebekka wie so viele junge Frauen vor ihr. Rebekka tat immer so aufgeschlossen und verständnisvoll, aber an dem Tag, an dem Sanna ihre Eltern darüber informiert hatte, dass sie sich für Stockholm entschieden hatte, weil sie an der Universität ihren Biologie-Bachelor machen wollte, die auch das spätere Master-Studium anbot, in dem sie sich auf Meeresbiologie spezialisieren konnte, hatte er Rebekka weinen gehört. Nicht lange, sodass er sie im Glauben lassen konnte, dass ihre Trauer unbemerkt geblieben war. Sanna wäre nicht die erste gewesen, die wegen eines Mannes oder einer beruflichen Möglichkeit in dem Land geblieben war, in das sie aufgrund des Studiums gezogen war. Und nun war sie wieder hier. Aber der Grund dafür war ein grausamer.
»Entschuldige, Sanna. Ich denke nur, dass die Stockholmer Polizei vielleicht noch Fragen haben könnte.«
Sanna hob langsam den Kopf, kniff die Augen zusammen und sah ihren Vater an.
»Was denn für Fragen?«, fragte sie leise und wieder spürte Poul den eindringlichen Blick seiner Frau.
Manchmal sieht es aus wie ein Suizid, dachte Poul. Aber nur auf den ersten Blick.
»Sie haben mich ja befragt«, sagte Sanna und sah ihren Vater mit erhobenen Augenbrauen an. »Ich habe alles beantwortet.«
»Schluss jetzt, Poul!«, herrschte Rebekka ihn an, bevor er nochmals eine unpassende Bemerkung machte oder gar auf die Idee kam, eine weitere Frage zu stellen. Wenn die Stockholmer Polizei von Sanna noch etwas wissen wollte, würde sie sich schon melden. Warum machten sich bloß alle immer Gedanken über Probleme, die vielleicht auftreten konnten? Rebekka schüttelte den Kopf. Sanna hatte eindeutig davon gesprochen, dass sich ihre neue Freundin in Stockholm das Leben genommen hatte. Ihre Tochter fühlte sich beschissen, dazu reichte ein Blick auf das kleine Häufchen Elend, das da neben ihr am Tisch saß.
»Sie sah so friedlich aus. Warum hat sie das getan? Ich verstehe es nicht.« Eine Träne konnte ihren Weg auf ihre Wange finden. Tröstend legte ihre Mutter ihren Arm um sie und drückte sie an sich.
»Man sieht es Menschen nicht an. Weißt du, wir alle bauen unsere Mauern um uns herum. Die meisten zumindest. Wir wollen nicht, dass andere unsere Schwächen sehen. Und du hast sie doch gerade erst kennengelernt.«
Sanna hatte einige Male über Ann-Brit gesprochen. Rebekka wusste, dass die beiden etwas verband.
»Das war doch die junge Frau, die uns mal besuchen kommen wollte,« sagte Rebekka, nachdem Sanna sich auf ihr Zimmer zurückgezogen hatte.
»Ich weiß. Das macht es ja umso schwieriger. Ich hatte kein gutes Gefühl, das ist ja kein Geheimnis. Sie allein in einem fremden Land mit einer fremden Sprache, wo sie hier schon manchmal Schwierigkeiten hatte, Freundinnen zu finden ...«
»Ich hab dir gesagt, sie geht ihren Weg. Sie ist zäh. Zäher als wir dachten. Und doch sollten wir ihr die Post nicht zeigen. All diese widerwärtigen Karten und Briefe.«
»Du hast die Briefe geöffnet?«, fragte Poul erschrocken.
»Natürlich nicht«, beschwichtigte Rebekka. »Nur gelesen, was auf den Umschlägen stand.«
»An die schwedische Hure«, wahlweise auch »Vaterlandsverräterin« oder »Umweltschlampe« – der Kreativität des Hasses war keine Grenzen gesetzt. Einer hatte neben ihren Namen ein schwarzes Kreuz gemalt. Diesen Brief hatte Rebekka sofort ungeöffnet entsorgt.
»Sie ist zwanzig«, sagte Poul. »Sie hat ein Recht darauf, selbst zu entscheiden, ob sie ihre Post sehen will. Es sind bestimmt auch ein paar positive Briefe dabei.«
»Ja, bestimmt«, sagte Rebekka spöttisch. Bestimmt hatte sie auch Post bekommen von Fans, die sie unterstützen. Es waren viele ausländische Absender dabei. Sie hatte keine Idee, woher diese Leute ihre Adresse hatten. »Schlimmer wird das sein, was ihr hier passieren wird.«
»Du wolltest ihr das ja unbedingt ersparen, damit ihr Studium nicht leidet. Ist doch wahr.« Den letzten Satz fügte Poul hinzu als Reaktion auf den bösen Blick seiner Frau. »Sie ist zwanzig Jahre alt und fühlt sich reif genug für ein Studium in einem anderen Land. Sie ist erwachsen und muss sich für ihre Taten verantworten.«
»Sie ist ja nicht dumm. Außerdem was glaubst du denn? Sie hat alle Social Media Profile gelöscht – sie weiß genau, was hier abgeht.«
Poul stand auf und atmete tief durch.
»Das mag alles sein. Aber sie weiß nicht, dass jemand schon zweimal unsere Reifen zerstochen hat und dass ich mich nicht mehr traue, in meinen Pub zu gehen, weil es bereits zweimal beinahe zu einer Schlägerei gekommen wäre.«
Und es wäre ganz sicher zu einer gekommen, wenn ich nicht bei der Polizei wäre, dachte er.
»Was meinst du, warum ich die letzten beiden Male nicht beim Strickklub war? Da denkt man, man kennt Leute seit … Rannva und Krista waren mit mir in der gleichen Klasse. Wir kennen uns eine Ewigkeit und …«
»Hey.« Tröstend setzte sich Poul neben seine Frau und legte einen Arm um sie und begann, ihre Arme sanft zu streicheln. »Das geht vorbei. Shit Storms sind wie Stürme. Sie sind unangenehm, sie richten Schäden an. Aber sie ziehen weiter. Irgendwann sind die Schäden repariert und …«
»der Himmel wieder blau« lag ihm auf der Zunge, aber es kam ihm doch zu kitschig vor.
Zögerlich erwiderte Rebekka die Zärtlichkeiten und blickte ihren Mann traurig an.
»Wie konnte es nur soweit kommen? Warum hat sie das getan?«
»Nun lass uns das in Ruhe noch mal zusammenfassen.« Alle Augen waren auf Edda Valby gerichtet. »Einfach noch mal sortieren. Lass uns anfangen mit der Besetzung der WG. Sebastian, kannst du das kurz für uns ordnen?«
Sebastian Morland nickte. »Gerne. Als längstes dabei sind Ylva Eriksson und Marcus Kjellström, die beide seit 2013 in dem Apartment wohnen.
Eriksson wurde am 15.01.1994 in Karlskrona geboren und arbeitet beim Meeresbiologischen Institut.
Marcus Kjellström, geboren am 29.02.1992 in Stockholm als einziges Kind solventer Eltern. Er ist Inhaber einer Tauchschule und besitzt einen Katamaran, den er für seine Kurse und Touristenausflüge nutzt.
Håkan Lofgren wohnt seit Juli 2015 in dem Apartment. Er wurde am 16.04.1996 in Solna geboren und arbeitet ebenfalls am Institut.
Ann-Brit Bjarnasson stieß im August 2016 dazu. Sie war Studentin der Biologie im vorletzten Bachelorsemester. Geboren wurde sie am 03.01.1995 in Åtvidaberg. Ihr Name steht unter den meisten Berichten auf der Website von ›Sea Court‹. In den sozialen Medien sieht man aber eigentlich nur Bilder von Kjellström und ganz vereinzelnd von Ylva Eriksson. Alle vier sind gelistete Mitglieder von ›Sea Court‹.«
»Also alle fünf«, berichtete Gudmundsson.
»Interessanterweise nein«. Morland zuckte mit den Schultern. »Es gibt Bilder von Sanna Delfoss auf den Seiten, aber keine Berichte. In der Presse und im Fernsehen gibt es natürlich unendlich viel über sie, aber nichts von ihr. Und so, wie ich das sehe, ist sie in keiner der Gruppen vertreten. Es kann aber auch sein, dass sie nach der Sache online erst mal auf Tauchstation ging.«
»Tauchstation?« Gudmundsson lachte. »Wie passend.«
»Pelle, bitte! Wir reden hier über eine junge Frau, die sich erhängt hat oder vielleicht sogar ermordet wurde!« Verständnislos schüttelte Valby den Kopf und gab Morland ein Zeichen, fortzufahren.
»Sanna Delfoss, geboren am 17.10.1999 in Tórshavn, Färöer-Inseln. Sie zog im Juli dieses Jahres in die Wohngemeinschaft und steht am Beginn ihres Studiums der Biologie.«
»Wer war der Vorgänger in ihrem Zimmer?«, fragte Valby.
»Linn Bendroth, eine Mathematikstudentin«, antwortete Berglund. »Schmiss ihr Studium und ging zurück nach Småland. An den Ortsnamen konnten sich die Mitbewohnerinnen nicht mehr erinnern, aber die Eltern haben dort wohl eine kleine Patisserie, in der sie schon in den Semesterferien immer aushalf. Kein Kontakt mehr zu keinem in der Gruppe.«
»Und nicht aktiv bei Sea Court.«, fügte Morland hinzu.
»Gut, meine Herren. Suizid oder nicht? Natürlich die üblichen Aussagen. Keine der Mitbewohnerinnen kann sich das vorstellen, es hat keinerlei Zeichen gegeben, sie hat nie darüber gesprochen.«
»Na ja«, wandte Lindbergh ein. »Die, die darüber reden, tun es gewöhnlich nicht. Die, die nicht drüber reden …«
»Ach, bitte verschone uns mit deinen Facebook-Weisheiten.«
Berglund grinste in sich hinein. Bis zum letzten Jahr benutzte Valby noch das Wort »Stammtischparolen«. Das digitale Zeitalter schien nun auch sie erreicht zu haben.
»Statistisch gesehen …«, verteidigte sich Lindbergh.
»… Statistik ist für jeden Einzelfall irrelevant. Ich sollte das bei Gelegenheit mal auf Tonband sprechen und jedes Mal abspielen, wenn mir wieder jemand mit Statistik kommt. Ich will wissen, was ihr für ein Gefühl habt. Mats, was war dein Eindruck von Ylva Eriksson und ihrer Beziehung zu der Toten?«
Verwöhnte Göre, dachte Berglund, hielt das aber für eine wenig professionelle Antwort.
»Ich habe sie als sehr selbstbewusst wahrgenommen. Schon als wir gestern eintrafen, übernahm sie quasi die Rolle der Sprecherin der Gruppe. Ihr Verhältnis zum Opfer beschreibt sie als sehr gut. Sie hätten sich gut ergänzt. Die Praktikerin und die Theoretikerin. Sie sei immens wichtig für die Bewegung gewesen.«
»Bewegung?«, Valby schmunzelte.
»Ihre Wortwahl. Sie sei sehr engagiert gewesen und habe sehr viel Zeit investiert. Sie recherchierte akribisch, daher seien ihre Berichte im Gegensatz zur Anfangszeit der Gruppe sehr fundiert gewesen.«
»Das kam im Gespräch mit Marcus Kjellström anders rüber«, unterbrach Gudmundsson ihn. »Er maß ihrem Beitrag nicht dieselbe Anerkennung zu wie offenbar Ylva Eriksson.«
»Tse«, spottete Valby. »Was für eine Untertreibung. Er hat es nicht direkt gesagt, aber es klang, als sei sie so etwas wie eine bessere Sekretärin gewesen.«
Berglund vernahm den abfälligen Ton seiner Vorgesetzten, wohl wissend, dass dieser Kjellström galt, nicht Bjarnasson oder gar Sekretärinnen im Allgemeinen. So sehr er eine Abneigung gegen die Eriksson hatte, so hatte Valby diese gegenüber Kjellström. Nur war sie weniger geschickt darin gewesen, diese zu verbergen.
»Was war mit Håkan Lofgren?« Valby wandte den Blick Lindbergh zu.
»Er hat sie gemocht. Sebastian …«, Lindbergh lächelte Morland zu, »… hat mir während der Vernehmung eine Nachricht geschickt, dass die Eriksson davon sprach, dass das Opfer ein Auge auf ihn geworfen hat, ohne ihre Gefühle je wirklich offenbart zu haben. Sebastian wollte wissen, ob Håkan Lofgren davon etwas mitbekommen hat.«
»Das war wohl in der Anfangszeit ziemlich offensichtlich«, sagte Morland. »Die beiden hingen viel zusammen und sie bekam schon mit, wie Ann-Brit ihn angesehen hat, aber sie war nicht sein Typ. Keine langen, blonden Haare, keine langen Beine, keine besonders sportliche Figur – da konnte die Bjarnasson mit Ylva Eriksson nicht wirklich mithalten. Sie war nämlich diejenige, für die er schwärmte und das war ihr auch bewusst. Aber ich gewann nicht den Eindruck, dass sie ihn besonders beachtete.«
»Tja, kein cooler Haarschnitt, kein Six-Pack, kein Anführer. So war die Eriksson für ihn mindestens eine Liga zu hoch.« Lindbergh kicherte, um dann schnell wieder ernst zu werden. »Håkan Lofgren spielte jedenfalls seine Gefühle für Ylva Eriksson herunter. Er fand sie anfangs attraktiv, aber daraus seien nie ernsthafte Gefühle entstanden. Die des Opfers hat er sehr wohl registriert, aber das sei schon eine ganze Weile her.«
»Und was ist mit Sanna Delfoss, Mats? Wäre doch schön, wenn wir mit ihr auch hätten reden können. Meinst du nicht?«
In Berglund brodelte es. Er hatte es von dem Moment an geahnt, in dem sie die Personalien aufgenommen hatten. Sie war nicht das Opfer, aber über sie würde man reden. Er hatte sich schon am Vorabend mit ihr unterhalten und sie hatte ihm leidgetan. Was nun auf sie zukommen würde, konnte er nur ahnen. Und die junge Frau hatte in den vergangenen Wochen bereits genug ertragen müssen.
»Haben wir denn irgendwas über sie? Außer ihr Geburtsdatum und Geburtsort? Also vielleicht etwas, was man nicht einfach googeln könnte?«, fragte Valby.
»Nicht viel«, erwiderte Berglund angespannt. »Ihr Vater, Poul Delfoss, arbeitet bei der Polizei von Tórshavn, und ihre Mutter Rebekka hat sich als IT-Expertin selbstständig gemacht. Sanna ist ihr einziges Kind. Sie habe ich noch nicht befragen können, aber sie war auch nervlich am Ende.«
»Sie hat das Seil durchgeschnitten. Aus Verzweiflung«, sagte Morland. »Sie habe versucht, sie wiederzubeleben, und hat die anderen förmlich angeschrien, die Ambulanz zu alarmieren. Der Tod scheint ihr noch näher zu gehen als den anderen.«
»Sie war zwar diejenige, die das Opfer am kürzesten kannte«, Gudmundsson runzelte die Stirn. »aber … vielleicht lief ja was zwischen den beiden?«
Gleich kotze ich, dachte Valby.
»Ich weiß gar nicht, was ich schlimmer finde. Dieses ganze Gerede von postpubertären, unglücklichen Liebschaften oder die Fantasien, die hier mit dir durchgehen.« Scharf blickte sie zu Gudmundsson herüber. »Die Frau war unglücklich in einen Mitbewohner verliebt. Und dann hat sie was? Die Seiten gewechselt?« Valby versuchte, sich zu beruhigen. »Ist irgendeine dieser unerwiderten Gefühle auch nur peripher relevant für unseren Fall? So sehr, dass wir glauben, Ann-Brit Bjarnasson hätte sich deswegen das Leben genommen? Oder klatschen wir ein bisschen weiter über das nicht stattfindende Liebesleben in dieser traurigen Wohngemeinschaft?«
»Wann erwarten wir den toxikologischen Bericht? Wir spekulieren hier, aber wenn sich der Suizid bestätigt, können wir uns die Energie sparen.«
Spöttisch grinsend sah Valby Gudmundsson an.
»Welche Energie, Pelle? Morgen um sechszehn Uhr haben wir eine Pressekonferenz – für heute habe ich eine abwehren können. Ich wollte Mats und dich dabei haben, aber wenn dich das jetzt schon überanstrengt …«
Berglund runzelte die Stirn. Bei Pressekonferenzen war er noch nie dabei gewesen. Er hatte sich auch nicht vorgedrängt. Es reichte, dass alle paar Monate irgendwer eine Anfrage schickte, ein Interview mit dem Kinderstar Jimmy Mats Berglund führen zu wollen, immer unter den beiden wiederkehrenden Mottos »Wie war es wirklich?«, »Was macht er heute?« und »Hat er noch Kontakt zu Jonnie, Anders und den anderen?« Er befürchtete, dass genau das dabei herauskam, wenn jemand seine Identität erfuhr, auch wenn er seinen ersten Namen inzwischen gestrichen hatte. Vielleicht verstand er daher Sanna Delfoss so gut. Er hatte ebenfalls in jungen Jahren im Rampenlicht gestanden, hatte Hunderte von Interviews gegeben, ein Fernsehteam hatte ihn sogar mal zu Hause besucht. »Home Story« nannten sie es. Und hinterher lachten seine Mitschüler, weil er irgendwo noch einen alten Teddybär nicht rechtzeitig in Rente geschickt hatte und weil ein Poster von Kim Wilde über seinem Bett gehangen hatte. Er hatte Valbys anerkennenden Blick durchaus registriert, ebenso wie Gudmundssons verärgerten.
»Ich meine ja nur, dass wir vielleicht morgen die Akte schon schließen können.«
»Ja, ich weiß, was du meinst. Wenn es Suizid war, sind wir raus. Aber Sanna Delfoss war zuletzt ihr engster Kontakt und ist zu ihren Eltern geflüchtet. Sie ist die Tochter eines Kollegen aus Tórshavn – sorgen wir dafür, dass sie weiß, was mit ihrer Freundin passiert ist.«
Ann-Brit hasste es zu weinen und so versuchte sie, die Tränen unbemerkt aus den Augenrändern zu wischen. Erfolglos.
»Jetzt flennt unser Cry-Baby auch noch? Das darf doch wohl alles nicht wahr sein!« Vorwurfsvoll blickte Marcus erst zu Ann-Brit, dann zu Ylva und drehte genervt ab.
»Ihr hättet mich fragen müssen!«
»Wie oft willst du das noch sagen!«, herrschte Marcus sie an. »Wie oft noch?«
»Marcus!«, versuchte Ylva ihn zu beruhigen. Seine Reaktion war wenig hilfreich und führte nur dazu, dass Ann-Brit sich noch weiter verschließen wird, was gerade jetzt niemand gebrauchen konnte.
»Es steht mein Name auf der Website unter dem Artikel. Mein Name!« Ann-Brit erschrak über sich selbst. Sie hatte Marcus noch nie so vehement widersprochen, aber nun waren er und seine Leute zu weit gegangen. »Da habe ich doch wohl ein Mitspracherecht …«
»Einen Scheiß hast du!« Marcus Stimme wurde immer lauter und aggressiver. »Deine Texte machst du für die Bewegung und sie gehören der Bewegung! Und deine Texte für die Aktion waren scheiße.« Marcus holte tief Luft. »Also inhaltlich waren sie ja okay, aber viel zu lasch! Die müssen wissen, dass wir nicht so weiter machen können. Das ist unser Planet! Und da kann man schon mal Klartext reden.«
»Sowohl unter dem Medienrundschreiben als auch bei dem Bericht auf unserer Seite steht als Unterschrift nur ›Sea Court‹, nicht ›Ann-Brit Bjarnasson‹«, versuchte Ylva sie zu beruhigen. Vorsichtig legte sie ihren Arm um sie, aber Ann-Brit wehrte ihn ab.
»Lass mich! Du hast es auch nicht verhindert!« Ann-Brit war traurig und wütend zugleich, aber auch enttäuscht und verzweifelt. Es war toll, ein Teil der Gruppe zu sein, etwas zu tun. Nicht nur mitanzusehen, wie die Zukunft in Müll und Feinstaub unterging. »Es steht mein Slogan darunter, der Slogan, der unter all meinen Posts steht! Da kann jeder …«
»Du willst es nicht verstehen, oder?« Marcus lächelte, aber die geringschätzige Art, mit der er sie ansah, verursachte ihr Magenschmerzen.
»Es ist nicht dein Slogan», fuhr Marcus fort. «Du hattest eine gute Idee, aber darauf hast du doch kein Patent! ›Es ist auch dein Planet!‹ – das ist süß, das fanden wir okay, aber da jetzt so einen Aufstand zu veranstalten, ist echt nicht cool.«
»Wir haben den Text noch nicht hochgeladen.« Håkan blickte fragend in die Runde.
»Nein, nein!« Marcus schüttelte mit einem merkwürdigen Lachen den Kopf. »Ich weiß, worauf das hinausläuft. Und es ist auch nicht mehr unsere Entscheidung. Dafür sind die Meetings da, um über so etwas abzustimmen. Wer da nicht erscheint, eigentlich nie erscheint …« – wieder blickte er vorwurfsvoll zu Ann-Brit – »braucht sich hinterher auch nicht zu beschweren.«
»An dem Schreiben an die Medien können wir nichts mehr ändern, Annie. Die Flyer sind sicher bereits raus. Darum wollten sich ja Yannick und Jelena kümmern.« Ylva zuckte ratlos mit den Schultern.
Das durfte doch nicht wahr sein! Ann-Brit stöhnte. Sie hatte das Schreiben an die Presse und Vertretern aus Funk und Fernsehen bewusst moderat verfasst. Was sie gewollt hatte, war, etwas Aufmerksamkeit für die Bewegung zu generieren, nicht eine Hundertschaft von Polizisten in Alarmbereitschaft zu versetzen. Genau das war es, was sie nun befürchtete. Aus »werden wir ein Zeichen setzen, das Stockholm endlich zum Aufwachen zwingt« – und sie hatte hier schon den Eindruck gehabt, dass sie sich damit weit aus dem Fenster gelehnt hatte – wurde »werden wir Stockholm in ein Chaos stürzen, an das man sich noch lange erinnern wird.« Und aus »Werden wir nun unsere Sorgen auch auf die Straßen der Stadt bringen« wurde »werden wir die Straßen Stockholms mit den Tränen der Opfer des Systems fluten und unserer Wut endlich Gehör verschaffen.«
So sprach doch kein Mensch, dachte sie. Und ihre Sprache war das schon mal gar nicht.
»An dem Schreiben für die Website wird auch nichts mehr geändert. Ende der Diskussion!«
»Ich werde das nicht hochladen,« murmelte Ann-Brit trotzig.
»Oh, das musst du nicht,« sagte er. »Das ist die Website von ›Sea Court‹, da haben wir alle Zugriff drauf.«
Marcus grinste, zog den Stick aus Ann-Brits Laptop und gab ihn Ylva.
»Walte deines Amtes, wenn dieses Landei schon nichts geschissen kriegt.«
Wortlos klappte Ann-Brit ihren Laptop zusammen und stand langsam auf. Das war es, dachte sie. Warum verschwendete sie ihre Zeit? Ohne sich noch mal umzusehen, verließ sie den Raum.
»Ja, hau ab!«, rief er ihr hinterher, drehte sich zu Håkan und schüttelte den Kopf. »Sei froh, dass du sie hast abblitzen lassen«, sagte er dann so laut, dass es Ann-Brit noch hören konnte. »Was für eine Pussy!«
»Musste das jetzt echt sein?«, fragte Ylva. »Sie schreibt Montag einer Klausur in Mikrobielle Ökologie, sie hätte eigentlich lernen müssen, hat aber stattdessen über ihre Texte für die Aktion gesessen.«
»Ach entschuldige,« feuerte Marcus ihr entgegen. »Wir anderen haben ja kein Privatleben, wir opfern ja nie etwas. Das wird eine große Sache am Samstag. Jeder hat seine Baustellen, die auch gepflegt werden wollen, aber nicht in dieser Woche! Da geht es um die Bewegung und sie macht hier einen auf Drama-Queen!«
Sanna hatte wie immer nur still dagesessen und zugehört. Ihr Schwedisch war so gut geworden, dass ihr das Zuhören keinerlei Schwierigkeiten mehr bereitete. Das Sprechen hatte sich auch schon deutlich verbessert. Sie hätte was sagen können, aber dieser Auftritt hatte ihr die Sprache verschlagen. Marcus konnte ein echtes Arschloch sein! Langsam stand sie auf und überlegte, wie sie ihrem Unmut am besten Ausdruck verleihen konnte.
»Nicht cool, Mann!«, hörte sie sich dann sagen und schlug sich innerlich die Hand vor die Stirn. Immerhin schaffte sie, beim Rausgehen der Gruppe noch einen verständnislosen Blick, verbunden mit einem Kopfschütteln, zuzuwerfen.
»Echt nicht cool, Leute.«
»Krieg dich wieder ein, Lämmchen.«
Sanna hasste es, wenn Marcus sie so nannte. Das tat er immer häufiger, seitdem er gemerkt hatte, wie sie darauf ansprang. Sie hasste solche Konfrontationen, aber sie musste Ann-Brit nun zur Seite stehen. »Schafsinseltrampel«, hörte sie Marcus noch sagen. Und Håkan schien beschwichtigen zu wollen, aber sie achtete nicht mehr darauf, was er sagte. Nachdenklich schlenderte sie über den Flur. Ob Ann-Brit vielleicht lieber allein sein wollte? Dann sollte sie das einfach sagen. Das wäre auch in Ordnung. Aber vielleicht wollte sie auch reden, und dann würde sie für sie da sein.
»Ich bin's, Sanna, darf ich reinkommen?«, fragte sie, nachdem sie zögerlich an Ann-Brits Tür geklopft hat. Sie hörte einen weinerlichen Ton, den sie als Zustimmung interpretierte. Ann-Brit lag auf dem Bett mit verheulten Augen. Die Tränen, gegen die sie sich im Gemeinschaftsraum noch fast erfolgreich hatte wehren können, liefen nun widerstandslos über ihre Wangen. Sanna hätte sie gerne getröstet, so was wie »das meint er nicht so« gesagt, aber das wäre gelogen gewesen. Im Gegenteil hatte Marcus endlich das ausgesprochen, was er die ganze Zeit schon von Ann-Brit gehalten hatte.
»Marcus ist ein Idiot«, sagte sie stattdessen.
Ann-Brit lächelte. »Ja.«
»Lass dich von ihm nicht so runterziehen. Du machst dein Ding, nicht seins.«
Sanna setzte sich neben Ann-Brit und legte sanft ihren Arm um sie. Eine Weile lang redete keine von ihnen. Ann-Brit schmiegte sich an Sannas Körper und versuchte, all die Gedanken zu ordnen, die in ihrem Kopf wie Flummibälle hin und herflogen.
»Danke«. Ann-Brit hob den Kopf und versuchte zu lächeln. Hey, das kannst du aber besser, dachte Sanna und schmunzelte. »Ohne dich hätten die mich doch schon längst von der Uni verwiesen. Wenn du mir nicht immer so geholfen hättest … Würde dir gerne helfen mit deiner Klausur, aber ich weiß mal gerade, was Mikrobielle Ökologie ist.«
Ann-Brit senkte den Blick. »Ist sowieso egal.«
»Warum sagst du so was?« Sanna war irritiert. »Es ist deine vorletzte Klausur in …«
»Ja.« Ann-Brit klang resigniert. »Und dann?«