Brennpunkt Schule
Herausgegeben von
Fred Berger
Wilfried Schubarth
Sebastian Wachs
Alexander Wettstein
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1. Auflage 2022
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-039838-2
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-039839-9
epub: ISBN 978-3-17-039840-5
Religion betrifft Schule. Mit den unterschiedlichen Akteur*innen sind vielfältige religiöse Einstellungen und Weltanschauungen in der Schule präsent. Dieser Band geht der Frage nach, wie religiöse Pluralität in der Schule vorkommt und konstruktiv gestaltet werden kann. Als Handreichung für Lehrpersonen, Schulleitungen, Lehrende in der Ausbildung, Studierende und alle, die an Schule interessiert sind, leistet dieses Buch Orientierung und eröffnet Handlungsperspektiven.
Konzeptionierung und Durchführung des Buches wurde von uns drei Autorinnen, Religionspädagoginnen römisch-katholischer Provenienz, vorgenommen. Als Angehörige der Mehrheitsreligion in Österreich befinden wir uns in einer vergleichsweise starken und privilegierten Position, in der wir im öffentlichen Diskurs keinen so massiven Vorbehalten wie Angehörige anderer Religionen ausgesetzt sind. Als solche fühlen wir uns verpflichtet, in einer Zeit, in der Religion starken Anfragen ausgesetzt ist, diese aufzugreifen und einer vertieften Reflexion zuzuführen. Um verschiedene weltanschauliche und religiöse Zugänge sowie vielfältige konkrete Erfahrungen aus dem Schulkontext einzubeziehen, haben wir unterschiedliche Resonanzräume eröffnet. Zu Beginn des Projektes wurden Fokusgespräche mit Lehrpersonen verschiedener Fächer und Direktor*innen durchgeführt, um relevante Fragen, Chancen und Schwierigkeiten um das Themenfeld »Religion in der Schule« zu erheben. Aus diesen Gesprächen kristallisierten sich die Themen für das vorliegende Buch heraus. Zu den im Autorinnenteam erarbeiteten Textentwürfen brachten Personen unterschiedliche religiöse und weltanschauliche Perspektiven aus Theorie und Praxis ein.
Allen Personen, die sich an der Entstehung des Buches beteiligt haben, sei herzlich für ihr Engagement und das Teilen ihrer Sichtweisen gedankt, insbesondere den Lehrpersonen und Direktor*innen, die ihre Erfahrungen mit uns teilten. Die Idee zu diesem Band entstand im Rahmen der Initiative lebens.werte.schule (lebenswerteschule.univie.ac.at). Besonders danken wir den Mitgliedern Thomas Krobath, Robert Schelander (evangelisch) und Martin Jäggle (römisch-katholisch), wobei letztere zwei auch erste Textentwürfe beisteuerten, sowie der islamischen Fachinspektorin Mabrouka Rayachi, die für ausführliche reflektierende Gespräche zur Verfügung stand. Aus einer weiteren islamischen Perspektive brachten Ranja Ebrahim und Sule Akdeniz differenzierte Überlegungen und Rückmeldungen ein.
In der konkreten Ausarbeitung haben uns die Studienassistent*innen des Fachbereichs Religionspädagogik und Katechetik am Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, Ulrich Brandstetter, Johannes Brunner, Michael Hlavka, Wiktoria Kalis, Florian Mayrhofer und Magdalena Nöbauer, an der LMU München, Katharina Seiband, und an der Katholischen Privat-Universität Linz, Jacqueline Buchner und Sophia Dürr, in den verschiedenen Arbeitsphasen mit inhaltlichen Recherchen, Korrekturlesen sowie bei der Finalisierung der Formalia unterstützt. Wir danken ihnen sehr für ihre kreativen Ideen sowie Aufmerksamkeit und Genauigkeit im Rahmen der Korrekturschleifen.
Die Verortung des Bandes in einer pädagogischen Reihe verdeutlicht die inhaltliche Ausrichtung und Fokussierung auf den schulischen Bereich. Für die Aufnahme in die Reihe »Brennpunkt Schule« sowie die wertschätzende und unterstützende Zusammenarbeit möchten wir insbesondere Klaus-Peter Burkarth danken.
So haben viele zum Gelingen dieses Projekts Entscheidendes beigetragen. Ein herzliches Dankeschön ihnen allen!
Das Autorinnenteam
Andrea Lehner-Hartmann, Karin Peter, Helena Stockinger
Religion erfährt in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit vermehrte Aufmerksamkeit. Einerseits, weil Menschen mit unterschiedlichen religiösen Selbstverständnissen und Zugehörigkeiten im gesellschaftlichen Raum sichtbar werden, und andererseits, weil religiöse Pluralität zunehmend in politisch-gesellschaftlichen Diskursen als Konfliktfall aufgegriffen wird. Dies trifft auch auf den Kontext Schule zu, in dem sich alle gesellschaftlichen Gegebenheiten und Debatten seismographisch widerspiegeln. Religion ist in der Schule präsent, weil Menschen ihre weltanschauliche Haltung und ihre Religiosität in die Schule mitbringen. Darüber hinaus ist Religion Thema verschiedener Fachunterrichte sowie außerunterrichtlicher Gespräche (Willems 2020, 9). Schule kann sich somit – frei nach Paul Watzlawick – nicht nicht zu Religion verhalten.
Religion stellt sich als ambivalentes Phänomen dar, durch das der Mensch einerseits in einem größeren Horizont verortet wird, wodurch er sich selbst relativieren und auf andere anerkennend zugehen lernen kann. Durch religiöse Sichtweisen auf Mensch und Welt werden unterschiedliche ethische Positionen eingespielt, die helfen, Fragen des Lebens auf vielfältige Weise zu sehen. Andererseits können religiöse Überzeugungen auch durch exklusive Wahrheitsansprüche und extreme Positionen zu Abgrenzungs- und Ausgrenzungstendenzen führen. Gegenwärtig geraten die positiven Aspekte, die Religionen in Gesellschaften einbringen können, oft aus dem Blick, was sich auch im Schulleben zeigen kann.
Nicht selten wird Religion lediglich als Störfaktor bzw. als Ursache für einen angeblichen »Kulturkampf im Klassenzimmer« (Wiesinger 2018) wahrgenommen. Als Konsequenz dieser Sichtweise wird ein religionsfreier Raum Schule propagiert, verbunden mit der Hoffnung, sich der Probleme damit entledigen zu können. Mit dem Aussparen des komplexen und durchaus ambivalenten Phänomens Religion wird Schule aber weder ihrem Anspruch noch ihrem Auftrag, zur Entwicklung und Entfaltung von Heranwachsenden in einem umfassenden Sinn beizutragen, gerecht. Um sich in einer von religiöser und weltanschaulicher Pluralität geprägten Welt kompetent und differenziert bewegen sowie eine eigene begründete weltanschauliche Position finden zu können, bedarf es einer reflexiven Auseinandersetzung mit Religion. Schule kann sich nicht von der Aufgabe dispensieren, wichtigen Lebensfragen und damit verbundenen Konfliktpotenzialen auf den Grund zu gehen, vor allem wenn es nicht nur um persönliche, sondern um soziale Fragen geht, für die es eine friedliche Lösung zu entwickeln gilt (Wiedenroth-Gabler 2019, 173–183). Religion und religiöse Überzeugungen sind demgemäß in der Schule auf Relevanz und Wirkungen hin zu befragen. Dazu gehört auch, lebensförderliche wie lebenshinderliche Aspekte von Religion zu identifizieren und mit Schüler*innen zu bearbeiten. Das geschieht zum einen durch den Religions- und Ethikunterricht in der reflexiv-kritischen Auseinandersetzung mit verschiedenen religiösen und weltanschaulichen Positionen auf eine Weise, die sich der Identitätsbildung der einzelnen Schüler*innen sowie dem Anliegen von gegenseitigem Respekt und Toleranz verpflichtet weiß. Zum anderen erfolgt dies in allen Fächern, in denen sich wichtige Lebensfragen stellen, sowie im Rahmen der Schule insgesamt. Es ist eine Herausforderung, die nicht von einzelnen Lehrpersonen bewältigt werden kann, sondern der Mitwirkung aller Akteur*innen bedarf.
Da das Phänomen Religion auch in (inter-)kulturellen Forschungen noch wenig Aufmerksamkeit erfährt (Lingen-Ali & Mecheril 2016), widmen sich diese Ausführungen der Frage, wie Religion in der Schule vorkommt und wie es gelingen kann, religiöse Vielfalt konstruktiv im Schulleben zu berücksichtigen. Dieser Band versteht sich als Unterstützung, diesem Anspruch möglichst gerecht zu werden. Es soll dadurch ein fachlich fundierter, konstruktiver Umgang mit Religion bzw. Religiosität als einem vielfältigen und ambivalenten Phänomen in der Schule gefördert werden. Ausgehend von Situationen, in denen sich religiöse Vielfalt in der Schule als Herausforderung zeigt, werden Möglichkeiten vorgestellt, Personen in ihrer Unterschiedlichkeit anzuerkennen und gemeinsam mit- und voneinander zu lernen. Lehrpersonen aller Unterrichtsfächer und Schultypen, Schulleiter*innen, darüber hinaus Didaktiker*innen bzw. Studierenden verschiedener Fächer und allen Interessierten wird damit eine Handreichung geboten, die Orientierung leistet und Handlungsperspektiven aufzeigt.
Im Folgenden werden einige das Buch bestimmende Grundannahmen transparent gemacht sowie kontextuelle Verortungen und begriffliche Klärungen vorgenommen.
Grundlegend für das Buch und die Ausarbeitung der einzelnen Kapitel ist der prinzipielle Rahmen, den die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vorgibt. In besonderer Weise sind das Recht auf Bildung (Art. 26) und das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 18) leitend.
Die Religionsfreiheit differenziert sich in zweifacher Weise als positive und negative Religionsfreiheit aus. Im Rahmen der positiven Religionsfreiheit kann wiederum eine individuelle und eine kollektive Dimension unterschieden werden. Die individuelle Dimension der Religionsfreiheit gewährt jedem Menschen das Recht, eine Weltanschauung bzw. einen Glauben frei zu wählen, einer Bekenntnisgemeinschaft seiner Wahl anzugehören oder eine solche zu gründen. Dazu gehört auch die individuelle wie kollektive öffentliche Bekundung und Ausübung des Glaubens. Die kollektive Dimension umfasst das Recht, religiöse Gemeinschaften zu gründen und sich zur Religionsausübung zu versammeln, die leitenden Personen selbst zu bestimmen, den Glauben zu verbreiten und neue Mitglieder anzuwerben. »Unter negativer Religionsfreiheit versteht man die Freiheit, einen religiösen Glauben nicht haben zu müssen, ein religiöses Bekenntnis nicht abgeben zu müssen und religiöse Riten und Äußerungsformen nicht vollziehen und an ihnen nicht teilnehmen zu müssen« (Tiedemann 2012, 159).
Die beiden Formen der positiven und der negativen Religionsfreiheit können durchaus in Spannung zueinander stehen, auch im Kontext Schule. Beiden Ausprägungen der Religionsfreiheit gilt es in der Schule gerecht zu werden. Dies bedeutet in der Verwirklichung der positiven Religionsfreiheit, Religion als für einige Mitglieder der Schulgemeinschaft entscheidenden Faktor in einem adäquaten Rahmen zu berücksichtigen und religiös motivierte Handlungsweisen zu ermöglichen. In der Verwirklichung der negativen Religionsfreiheit bedeutet es, niemanden zu einer religiösen Haltung oder zur Beteiligung an religiösen Vollzügen zu nötigen. Die negative Religionsfreiheit schließt aber nicht das Recht ein, mit religiösen Inhalten oder Symbolen gar nicht konfrontiert zu werden (Tiedemann 2012, 165–166).
Wie sich Religion und Religionen im Schulkontext zeigen und zeigen dürfen, ist maßgeblich abhängig von den rechtlichen Rahmenbedingungen, die sich in den verschiedenen Ländern des deutschsprachigen Raums – und aufgrund der (unterschiedlichen) föderalistischen Verfasstheit der verschiedenen Staaten, z. T. auch innerhalb der einzelnen Länder – unterschiedlich darstellen. Auf die unterschiedlichen Regelungen der Länder kann in den einzelnen Kapiteln nicht näher eingegangen werden. Der Fokus dieses Bandes gilt pädagogischen Überlegungen und Anregungen zur Ausgestaltung dieses rechtlichen Rahmens. Ein Ausloten der Möglichkeiten konkret vor Ort ist unabdingbar.
Wie Vielfalt berücksichtigt wird, ist eine entscheidende Frage im Rahmen politischer, gesellschaftlicher, aber auch religionspädagogischer Auseinandersetzung, weil sich an ihr entscheidet, wie miteinander umgegangen wird. So kann die »Frage des gesellschaftlichen Umgangs mit Differenz und Identität« als eine der »wichtigsten Themen politischer Auseinandersetzung und sozialtheoretischer Reflexion der Gegenwart« benannt werden (Mecheril & Plößer 2009, 194). Im Zusammenhang mit Vielfalt tauchen unterschiedliche Begriffe auf, wie Pluralität, Diversität, Differenz, Heterogenität etc. All diese Begriffe sind mehrdeutig und entfalten in den jeweiligen Diskursen ihre je eigene Bedeutung (für eine nähere Auseinandersetzung vgl. Grümme 2017, 77–88). Eine entscheidende Erkenntnis ist, dass es nicht den richtigen Umgang mit Differenz geben kann (Mecheril & Plößer 2009, 2). Schulen sind herausgefordert, kritisch zu reflektieren, wie sie Vielfalt (nicht) berücksichtigen und (nicht) bearbeiten, und Umgangsweisen zu erarbeiten, wie im jeweiligen Kontext der Schule mit Vielfalt umgegangen wird.
Unter Pluralität wird eine »Situation von gesellschaftlicher, kultureller, religiöser, weltanschaulicher usw. Vielfalt in ihrer bloßen Gegebenheit« (Schweitzer et al. 2002, 11) verstanden. Pluralität ist ein Faktum, das auftritt, sobald Menschen aufeinandertreffen, und sie erfordert eine Beschäftigung mit ihr. Durch die Bearbeitung können Vereinbarungen des Zusammenlebens getroffen werden (Ziebertz 2002, 53). Angesichts des facettenreichen Phänomens der Pluralität gilt es, handlungs-, sprach- und urteilsfähig zu werden (Grümme 2017, 78). Pluralität zeigt sich beispielsweise bezogen auf Alter, soziale Klasse, Geschlechtszugehörigkeit, sexuelle Orientierung, religiöse Einstellungen, körperliche, emotionale, soziale und kognitive Entwicklung etc. Diese Kategorien sind in ihrer Verwobenheit und ihren »Überkreuzungen« (intersections) zu betrachten, wie dies im Intersektionalitätsdiskurs betont wird (Crenshaw 2010; Walgenbach 2017).
Im Sinne der Komplexitätsreduktion fokussieren die folgenden Ausführungen auf die Kategorie Religion, die mit anderen Dimensionen unlösbar verschränkt ist. Dies geschieht im Bewusstsein, dass diese »situativ relevante Kategorie« Religion in interdependenten Beziehungen mit anderen Differenzen steht (Knauth 2020, 8). Die Verwobenheit mit anderen Kategorien wird im Band an unterschiedlichen Stellen thematisiert und beispielhaft sichtbar gemacht, kann aber nicht vollumfänglich explizit benannt werden.
Religion ist ein Begriff, der mehrdeutig verwendet wird. Er kann sowohl Religion als ein bestimmtes Religionssystem, wie wir es unter den Bezeichnungen Judentum, Islam, Christentum, Buddhismus etc. kennen, als auch die persönliche Überzeugung des Individuums – häufig als Religiosität bezeichnet – umfassen. Es lässt sich zwischen einem substantiellen und einem funktionalen Religionsbegriff unterscheiden (Figl 2003). Ein substantieller Religionsbegriff bleibt an einem konkreten Religionssystem orientiert und verweist auf die Frage, was das Wesen von Religion ist. In einer funktionalistischen Ausrichtung geht es um bestimmte Leistungen von Religion (wie Gemeinschaftsbildung, Identitätsstiftung, Kontingenzbewältigung etc.). Diese »religiösen« Funktionen können nicht nur dezidiert religiösen Vollzügen oder Gemeinschaften, sondern unterschiedlichen Lebensbereichen, wie Sport (»Rapid ist meine Religion«), bestimmten Tätigkeiten, wie Musik hören/ausüben, oder Beziehungen, wie Partnerschaft oder Familie, zugeordnet werden. Damit kann, wie kritisch angemerkt wird, aber so ziemlich alles und jedes relativ undifferenziert als religiös bezeichnet werden. Eine brauchbare und für diesen Band leitende Definition, die sowohl subjektive wie institutionsbezogene Aspekte umfasst, aber nicht auf Funktionen eingegrenzt wird, weist Religion als »Existenzvollzug mit Bezug auf Transzendenz« (Figl in Polak 2002, 88–95) aus. Damit wird angezeigt, dass sich der Mensch in seinen Lebensvollzügen nicht nur auf sich selbst bezogen, sondern über sich hinaus verwiesen erfährt. Angetrieben wird er dabei oft von Fragen nach dem Woher und Wohin sowie dem Sinn des Lebens. Deutungen und Antworten werden mit dem Verweis auf Transzendenz vollzogen, die aus Religionssystemen abgeleitet werden können, aber nicht müssen. Religiosität ist dann eine »jedem Menschen potentiell mögliche, individuelle Ausprägung eines persönlichen Welt- und Selbstverständnisses unter Verwendung religiöser Kategorien, die meist im Kontext der umgebenden religiösen Kultur steht« (Hemel 2002, 9). Einer solchen Weitung des Religionsverständnisses, das nicht nur institutionalisierte Formen umfasst, ist auch für dieses Buch insofern der Vorzug zu geben, als sich religiöse Praxen nicht nur allein im Binnenraum von Religionssystemen, sondern auch außerhalb von diesen finden lassen. Menschen leben ihre religiösen Überzeugungen dann mehr oder weniger unabhängig von religiösen Institutionen.
Neben Definitionen finden sich auch Beschreibungen von Religionssystemen, welche Aspekte benennen, die sich in (fast) allen Religionen finden. Nach Ninian Smart können sieben Dimensionen bzw. Aspekte von Religion bzw. Religiosität unterschieden werden, mit denen sich die Pluralität religiöser Phänomene beschreiben lässt. (1) Zur praktischen und rituellen Dimension zählen Kult, Ritus, Gebet, Meditation, Opfer, Feste; (2) die erfahrungsmäßige und emotionale Dimension umfasst religiöse Erfahrung, Frömmigkeit, mystisches Erleben u. Ä. (3) Zur narrativen oder mythischen Dimension gehören Schöpfungsmythen, Göttermythen, Geschichten und Legenden; (4) zur doktrinalen und philosophischen Dimension religiöse Lehren, Dogmen, Gottes-/Göttervorstellungen. (5) Die ethische und rechtliche Dimension gibt Auskunft über ethische Vorschriften, Gebote, Verbote; (6) die soziale und institutionelle Dimension über Formen der Gemeinschaftsbildung, wie Kirche, Umma, Kalifat, Klerus, Mönchtum etc. (7) Mit der materiellen Dimension werden heilige Orte, religiöse Gebäude, künstlerische Darstellungen benannt (Smart 1998).
Die Verwendung des Religionsbegriffs ist prinzipiell nicht unumstritten. So wird insbesondere im religionswissenschaftlichen Kontext die damit verbundene stark eurozentrische Fokussierung mit seinem Gebrauch im Singular kritisiert. Diese durchaus berechtigte Kritik verweist darauf, dass es auch innerhalb klar ausgewiesener Religionssysteme eine Vielfalt gibt, wie Religiosität gelebt wird. Eine Aufmerksamkeit für diese Pluralität ist auch in der Schule im Kontakt mit Menschen, die sich dezidiert einer organisierten und definierten Religionsgemeinschaft zugehörig fühlen, wichtig.
Mit Blick auf den Kontext Schule gilt es, die Aufmerksamkeit sowohl für die individuellen religiösen Verständnisweisen als auch für religiöse Phänomene, wie sie von institutionalisierten Religionen vorgeprägt sind, zu schärfen, weil diese in der Schule gleichermaßen wirksam und sichtbar werden. Mit dem Begriff ›Religion‹ bzw. dem der ›religiösen Pluralität‹ ist in diesem Buch sowohl die Vielfalt an unterschiedlichen religiösen Zugehörigkeiten als auch die Vielfalt an religiösen Einstellungen und Handlungsweisen gemeint. Religiöse Überzeugungen werden als spezifische Form von Weltanschauung verstanden. Auch andere weltanschauliche Haltungen werden in diesem Band mit berücksichtigt, der Fokus gilt allerdings dezidiert religiösen Positionen. Alle Ausführungen und Hinweise in diesem Buch sind um differenzierte Darstellungen bemüht, können aber die Vielfalt, die allein schon innerhalb einer Religion gegeben ist, niemals vollumfänglich abbilden, sondern maximal andeuten. Anhand exemplarischer Darlegungen werden ausgewählte Aspekte berücksichtigt.
In der Thematisierung weltanschaulicher und in dem hier gewählten Fokus religiöser Unterschiede ist es besonders bedeutend, eingelagerte gesellschaftliche Macht- und Ungleichheitsverhältnisse zu berücksichtigen. Auch wenn dies im Gesamt des Buches nur an manchen Stellen explizit gemacht werden kann, spielen Macht- und Dominanzverhältnisse in der Auseinandersetzung mit religiöser Pluralität eine wesentliche Rolle. Die Diskurse um Pluralität stehen im Kontext der Auseinandersetzungen um Anerkennung, wie sie beispielsweise in postcolonial studies, cultural studies, disability studies bedacht werden.
Bei der Auseinandersetzung mit (religiöser) Pluralität ergibt sich ein Dilemma: Wird Verschiedenheit in der Schule ignoriert, werden Ungleichheiten produziert und bestätigt. Deshalb ist eine Sensibilität für Verschiedenheit (Mecheril & Plößer 2009, 3) gefordert, um einen möglichst gerechten Umgang miteinander zu ermöglichen. Gleichzeitig bringt die Benennung von Gruppen mit sich, dass dadurch der Status als Gruppe »der Anderen« manifestiert wird. So braucht es einerseits die Benennung religiöser Unterschiede, um darin liegende Macht- und Dominanzverhältnisse aufzuzeigen und Teilhabe in Verschiedenheit zu ermöglichen. Andererseits werden bei der Thematisierung von religiösen Unterschieden Differenzlinien gezogen, die durch die Benennung auch verhärtet werden und zu Kategorisierungen und Stigmatisierungen beitragen können. Diesem Dilemma können sich die Ausführungen im vorliegenden Buch nicht entziehen. Insbesondere Beispiele bedienen sich gängiger Kategorisierungen, um im Alltag auftretende Konflikte exemplarisch zu verdeutlichen und Möglichkeiten der Bearbeitung aufzuzeigen.
Die in diesem Buch präsentierten Überlegungen sind in Resonanz auf Erfahrungen, Rückmeldungen und Beispiele aus dem konkreten Schulalltag im deutschsprachigen Raum entstanden. Aus Fokusgesprächen mit Schulleiter*innen und Lehrpersonen verschiedener Unterrichtsfächer haben sich entscheidende Herausforderungen herauskristallisiert, die sich durch plurale weltanschauliche und religiöse Haltungen der Mitglieder einer Schulgemeinschaft ergeben. Sie wurden als Ausgangspunkte genommen und zu den Themenbereichen gebündelt, mit denen eine Auseinandersetzung in diesem Band erfolgt.
Die bearbeiteten Themen verstehen sich als kontextuell verortete und exemplarische Anregungen. Entsprechend erfolgen Schwerpunktsetzungen hinsichtlich der im deutschsprachigen Kontext besonders präsenten religiösen Bekenntnisse – v. a. christliche Konfessionen und islamische Strömungen – sowie damit einhergehende häufig auftauchende Fragen und Herausforderungen im Schulkontext. Auch bei Sachinformationen und Hinweisen sind in besonderer Weise diese Denominationen im Blick, wenngleich immer wieder auch andere weltanschauliche Überzeugungen Berücksichtigung finden.
Zu jedem der im Buch bearbeiteten Themenbereiche sind jeweils kompakte Hintergrundinformationen und konkrete Anregungen zur Gestaltung bzw. Möglichkeiten zur Reflexion der eigenen Schulwirklichkeit ausgearbeitet.
Die Bearbeitung jedes Themenbereichs erfolgt als in sich eigenständiges Kapitel, das auch ohne die vorherigen oder folgenden Themenbereiche schlüssig zu verstehen ist. Auf diese Weise wird den Leser*innen je nach Interesse ein niederschwelliger, leichter Einstieg in das Buch ermöglicht. Verlinkungen zwischen Aspekten der einzelnen Bereiche gewährleisten, dass Leser*innen auf Zusammenhänge, wechselseitige Ergänzungen und Vertiefungen aufmerksam werden. Sie können sich so nach individuellem Interesse durch das Buch navigieren. Bei einer durchgehenden Lektüre aller Themenbereiche gibt es deshalb Überschneidungen, die zu einer vertieften Auseinandersetzung beitragen können.
Die einzelnen Themenbereiche sind prinzipiell an folgender Struktur ausgerichtet:
1. Eröffnung durch Stimmen aus der Praxis: Zitate von Menschen aus dem Schulkontext bzw. kurze Szenenbeschreibungen aus dem Schulalltag verdeutlichen zu Beginn die Relevanz des Themas in der Praxis.
2. Multiperspektivische Beschreibung des Kontexts: Fragestellungen, Spannungen und Herausforderungen, die mit dem jeweiligen Thema verbunden sind, werden in ihrer Vielschichtigkeit erörtert.
3. Hintergrundinformationen zum besseren Verständnis: Definitionen, Unterscheidungen und Klärungen tragen dazu bei, dass das bearbeitete Thema einerseits in einem größeren Zusammenhang gesehen werden kann und andererseits seine Spezifika deutlich werden. Hierdurch zeigen sich Herausforderungen und Chancen im Schulkontext.
4. Mögliche konkrete (religions)pädagogische Bearbeitungsmöglichkeiten: Mit Hilfe von Anregungen und skizzierten Beispielen werden (religions)pädagogische Handlungsweisen dargestellt.
5. Reflexionsfragen für die eigene Schulwirklichkeit: Abschließende Fragen unterstützen die Leser*innen, ausgehend von dem Gelesenen, den Bezug zur eigenen Praxis herzustellen und bieten so Anregungen für die Entwicklung der konkreten Schulwirklichkeit und Unterrichtstätigkeit.
6. Ergänzende bzw. vertiefende Info-Boxen und kleine Fallbeispiele: Die grafisch hervorgehobenen Info-Boxen fassen wesentliche Informationen kompakt und strukturiert zusammen. Kleine Fallbeispiele tragen zu einem besseren Verständnis der theoretischen Ausführungen bei.
Im Rahmen der gewählten Themenbereiche werden zunächst sehr grundsätzliche Überlegungen angestellt, innerhalb derer das Phänomen Religion verortet wird (Kapitel 2–5). Deutlich wird dabei, dass religiöse Weltdeutung als ein Zugang zur Welt verstanden werden kann ( Kap. 2), wie grundlegend die Bedeutung der etablierten Schul- und Unterrichtskultur für Stellenwert und Art der Berücksichtigung von Religion im Schulkontext ist ( Kap. 3), welche Rolle religiöse Diskriminierung im Schulleben spielt bzw. wie diese möglichst reduziert werden kann ( Kap. 4) und wie Kontakt mit und Einbindung von Eltern gestaltet werden können ( Kap. 5).
In der Folge werden konkrete Themen in den Blick genommen, die im Schulleben virulent sind (Kapitel 6–14). In den Themenbearbeitungen zu religiösen Zeichen und Symbolen ( Kap. 6), gemeinsamem Feiern ( Kap. 7), Gebet ( Kap. 8), religiöser Kleidung ( Kap. 9), Essen und religiösen Essensregelungen ( Kap. 10) sowie religiösem Fasten ( Kap. 11) werden einzelne Fragestellungen aufgegriffen, mögliche Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen, aber auch das Potential, das in den jeweiligen Feldern gegeben ist, aufgezeigt.
Zudem wird bearbeitet, inwiefern religiöse Überzeugungen zum Konflikt- und Streitfall werden ( Kap. 12) bzw. Unterrichtsinhalte Anlass zu Kontroversen geben ( Kap. 13) und wie mit diesen Herausforderungen umgegangen werden kann. Ein eigenes Kapitel ist der verschärften Frage von Extremismus ( Kap. 14) gewidmet.
Mit den abschließenden Kapiteln (Kapitel 15–17) wird der Blick mit Körperlichkeit und Sexualität ( Kap. 15), Krisenfällen wie Tod und Trauer ( Kap. 16) sowie Humor ( Kap. 17) auf Felder gerichtet, in denen Religion auf oft hintergründige, aber durchaus prägende Weise präsent ist.
Crenshaw, Kimberlé W. (2010): Die Intersektion von »Rasse« und Geschlecht demarginalisieren. Eine Schwarze feministische Kritik am Antidiskriminierungsrecht, der feministischen Theorie und der antirassistischen Politik. In: Lutz, Helma/Herrera Vivar, Maria Teresa & Supik, Linda (Hg.), Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzeptes (33–54). Wiesbaden: VS-Verlag.
Figl, Johann (2003): Religionsbegriff – zum Gegenstandsbereich der Religionswissenschaft. In: Figl, Johann (Hg.), Handbuch Religionswissenschaft. Religionen und ihre zentralen Themen (62–81). Innsbruck: Tyrolia.
Grümme, Bernhard (2017): Heterogenität in der Religionspädagogik. Grundlagen und konkrete Bausteine. Freiburg i. Br.: Herder.
Hemel, Ulrich (2002): Die Bedeutung des Verständnisses von Religiosität für die heutige Religionspädagogik. In: TheoWeb (1), 6–11.
https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100233/